Ein Blick hinter die Kulissen: In der Saison 2008/2009 begleiteten wir den damaligen Zweitligisten Rot-Weiß Oberhausen auf Schritt und Tritt, erlebten Krisensitzungen, Vertragspoker und Kneipentouren mit den Spielern. Unser Saison-Tagebuch.
Kommt mit uns auf eine wilde Fahrt durch 20 Jahre Fußballkultur: Am 23. März erscheint „DAS GROSSE 11FREUNDE BUCH“ mit den besten Geschichten, den eindrucksvollsten Bildern und skurrilsten Anekdoten aus zwei Jahrzehnten 11FREUNDE. In unserem Jubiläumsband erwarten euch eine opulente Werkschau mit unzähligen unveröffentlichten Fotos, humorvollen Essays, Interviews und Backstages-Stories aus der Redaktion. Besonderes Leckerli für unsere Dauerkarteninhaber: Wenn ihr das Buch bei uns im 11FREUNDE SHOP bestellt, gibt’s ein 11FREUNDE Notizbuch obendrauf.
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Außerdem präsentieren wir euch an dieser Stelle in den kommenden Wochen weitere spektakuläre Reportagen, Interviews und Bilderserien. Den Anfang macht die Langzeitreportage über Rot-Weiß Oberhausen aus dem Jahr 2008/2009.
Nach der Maloche
17. Mai 2009: Die Mission ist erfüllt | RWO schafft den Klassenerhalt am 33. Spieltag
Die Schlagwörter für das letzte Heimspiel sind auf der Flipchart nachzulesen. In der Handschrift von Trainer Jürgen Luginger steht dort: Leidenschaft! Siegeswille! Nach dem Schlusspfiff – Rot-Weiß Oberhausen schlägt den SC Freiburg mit 1:0 – dauert es nur ein paar Sekunden, bis die Fans das Spielfeld stürmen. Der Stadionsprecher ruft noch schnell: „Passt mir auf den Benny auf, der ist an Krücken!“
Soviel Zeit muss sein im Schatten des Gasometers: Benjamin Reichert ist der Kapitän der Kleeblätter – und wieder mal verletzt. Dann kann endlich gefeiert werden: Der Erste in der Spielerkabine ist Stammtorwart Christoph Semmler, der heute als zweiter Mann auf der Bank gesessen hat. Sein Jubel ist verhalten. Er hätte gerne selbst im Tor gestanden, mehr als ein halbes Jahr nach seinem Kreuzbandriss. Die anderen Spieler eilen hoch in den leeren VIP-Raum. Verteidiger Daniel Embers, nackter Oberkörper und Badelatschen, klettert wagemutig aus einem Fenster und steigt auf das Stadionvordach. Dort erwischt ihn eine Bierdusche nach der anderen, wie den Frontmann bei einem Punk-Konzert.
Die Fans unten haben vom Klub 3000 Liter Freibier spendiert bekommen. Während Embers klatschnass wieder reinklettert, schaut Ersatzstürmer Julian Lüttmann auf der anderen Seite aus dem Fenster: ins mittlerweile leere Stadion. Ein letzter Blick zurück, er wird den Klub verlassen. Es gibt jetzt eigentlich nur noch eine Frage zu klären: Wo steckt Verteidiger Dimitrios Pappas?
Ausweitung der Kampfzone
Sommer 2008: Absteiger Nummer eins | Saisonmotto : „Malocherschicht, die II.“
Rot-Weiß Oberhausen ist in den letzten beiden Jahren zweimal aufgestiegen – im Eiltempo ging es von der vierten in die zweite Liga. Im Sommer 2008 startet RWO als ärmster Zweitligist in die neue Spielzeit, weist mit 3,267 Millionen Euro den geringsten Etat aus. Der Schnitt in der Liga liegt bei acht Millionen. Geld schießt Tore, sagt man – wenn das stimmt, haben sie keine Chance.
Doch genau die wollen sie nutzen, das Unmögliche schaffen: den Klassenerhalt. Bei genauer Betrachtung wäre es zumindest keine Überraschung, wenn sie als ein neues Tasmania Berlin mit einem Negativrekord in die Bundesliga-Geschichte eingingen. Heribert Bruchhagen von Eintracht Frankfurt, der jedes Jahr auf die Schlusstabelle wettet und die Platzierungen für zementiert hält, sagt: „Nur fürs Protokoll: RWO hat keine Chance, keine.“ Der Klub baut sich aus dem Wettbewerbsnachteil ein Image, preist die Kumpelwerte vergangener Tage. In der Oberliga lautete das Motto „Sonderschicht“, im Fan-Shop gibt es neuerdings „Mini-Malocher“-Shirts in XXS und auf dem Mannschaftsbus steht „Malocherschicht, die II.“. Die zwei gekreuzten Hämmer, das Symbol der Bergmänner, gehören längst ebenso zur Corporate Identity wie das originäre Kleeblatt.
Der Bus ist übrigens das ausrangierte Gefährt des 1. FC Köln. Die Oberhausener haben ihn günstig aufgekauft und neu lackiert. Kurz vor dem ersten Meisterschaftsspiel treffen wir uns mit Präsident Hajo Sommers und Manager Hans-Günter Bruns. Unsere Frage lautet: Dürfen wir den Zweitligaklub eine Saison lang begleiten? Mit dem Team eintauchen in die Spielerkabine, ins Trainingslager, in den Mannschaftsbus – in guten und in schlechten Zeiten? Zwei Tage später, zurück in Berlin, die Zusage. Die Oberhausener sind zwar skeptisch, Trainer Luginger regelrecht reserviert. Womöglich fürchtet er, dass sein Scheitern nachher auch für jeden Außenstehenden sichtbar sein wird. Warum die RWO-Granden trotzdem mitmachen? Sie wollen wissen, ob sie sich und ihrer Philosophie auch im Profialltag treu bleiben.
Zur Saison 2008/09 kehrte Rot-Weiß Oberhausen nach Jahren im Amateurbereich in die zweite Liga zurück. Oberhausen, das klang für uns in der Redaktion nach erdiger Ruhrpott-Romantik, nach Fußballern, wie sie gar nicht mehr gebaut werden. Wie fragten uns, wie es wäre, so einen Klub nach der Rückkehr ins Profigeschäft ein Jahr zu begleiten? Wie würden die handelnden Personen mit dem erhöhten Druck zurecht kommen? Zumal ein paar illustre Gestalten in bei RWO in der Verantwortung standen: Präsident Hajo Sommers, der in der Stadt ein Theater führte, Manager HG Bruns, ein früherer Nationalspieler, und Coach Jürgen Luginger, Ex-Schalke-Profi.
Redakteur Thorsten Schaar und Fotograf Dominik Asbach hefteten sich für uns an die Fersen der grauen Zweitliga-Maus. Sie lümmelten bei Goalgetter Mike Terranova in der Wohnstube auf dem Sofa des frischbezogenen Einfamilienhauses. Bangten mit Spielmacher Benny Reichert, der immer wieder von Verletzungssorgen geplagt wurde. Saßen mit im Teambus auf dem Weg zu Auswärtsspielen und ließen in der Kabine die Korken knallen, als RWO am 33. Spieltag den Klassenerhalt feierte. Als der Klub am Betzenberg auflief, wollte ein Ordner die 11FREUNDE-Leute erst nicht durchlassen und fragte Oberhausens Co-Trainer Oliver Adler, ob er Schaar und Ansbach kenne. Adler geistesgegenwärtig: „Unser Torwart und der Linksaußen!” Unser Blick ins Innenleben einer Profimannschaft am Ende der Nuller Jahre erschien in 11FREUNDE#92 im Juli 2009. Heute spielt RWO längst wieder in der Regionalliga, Coach ist der damalige Torjäger Mike Terranova.
„Wir müssen aufpassen, dass wir heute nicht sechs, sieben Stück kriegen“
Sturmfrei bei Terranovas
Pokalniederlage gegen Leverkusen | Liga-Fehlstart: 0:3 in Koblenz, 1:4 auf St. Pauli
Der RWO-Torjäger hat sturmfreie Bude, seine Frau ist ausgeflogen – prompt gondelt die halbe Mannschaft abends nach Gelsenkirchen-Süd. Mike Terranova hatte sie wochenlang mit Handy-Fotos seines kürzlich erworbenen Einfamilienhauses genervt. „Wann lädst du uns endlich ein?“, hieß es immer wieder in der Kabine. Jetzt ist es soweit: Einen Tag nach dem Heimsieg gegen Ingolstadt verabreden sich die Spieler zum geselligen Pokerabend bei ihm. Die Wegbeschreibung des stolzen Grundbesitzers ist schlicht: „Das schönste Haus in der Straße“.
Es entpuppt sich als ein typischer Nachkriegsbau, solide renoviert. Die Inneneinrichtung hat der 31-Jährige neu angeschafft: die weiße Ledergarnitur, Glasvitrinen und den obligatorischen Flachbildfernseher. Geht ein Fußballprofi zu Ikea und sagt: „Einmal alles!“ Zur Begrüßung wählen die Gäste ein leichtes Opfer für ihre notorischen Scherze: Terranovas Torjäger-Trophäe von der Wuppertaler Hallenmeisterschaft, die stolz sichtbar im Wohnzimmer steht.
Der Stürmer ist ein vorbildlicher Gastgeber, wenn auch kein erfahrener: Er hat so viel Salzgebäck eingekauft, dass er die ganze Straße versorgen könnte – eine Woche lang. Bevor die Jetons – in einem Metallköfferchen mitgebracht – ausgeteilt werden, läuft die „Premiere“-Zusammenfassung vom Wochenende im Heimkino. Plötzlich sitzen da sieben RWO-Profis, die zweite Liga schauen, als wäre es nicht ihre eigene. Es ist ein bisschen wie: Wir gucken uns mal die Großen an. Die Spieler müssen sich noch an die neue Welt gewöhnen, noch sind sie nicht angekommen.
Gardinenpredigt nach AC/DC
Das Millerntor auf St. Pauli ist ausverkauft, die Gegengerade bebt schon vor dem Spiel. Ein ohrenbetäubender Lärm! Keeper Semmler will seinen Mitspielern etwas zurufen, doch sie verstehen ihn einfach nicht. Vor zwei Jahren spielten sie zusammen in Speldorf und Straelen: vor ein paar hundert Zuschauern. Kein Wunder, dass die Blicke einiger angsterfüllt sind. Dazu dröhnt AC/DC aus den Boxen.
Die Entscheidungsträger realisieren den Klassenunterschied auf der Tribüne. Manager Bruns sagt nach zehn Minuten zum Präsidenten: „Wir müssen aufpassen, dass wir heute nicht sechs, sieben Stück kriegen.“ Nach dem Schlusspfiff sieht Vorstand Thomas Dietz acht Profis, die ihr Trikot ehrfurchtsvoll mit dem Gegner tauschen. Er bestellt den Mannschaftsrat ein. Ein paar Tage später sitzen fünf Spieler im Konferenzraum der Immobilienfirma Dietz. Auf dem Tisch steht ein Wimpel mit dem Wappen des „Ring Deutscher Makler“.
Die Zusammenkunft gerät zu einer Mischung aus Gardinenpredigt und Motivationsseminar. Der Hausherr, eine Mischung aus Frank-Walter Steinmeier (optisch) und Werner Hansch (verbal), gibt den bad cop und good cop in Personalunion. Zwei Stunden lang beschwört er die Tugenden der letzten beiden Jahre, die Kampfstärke. Zu verlieren habe man in der zweiten Liga nichts, aber auch nichts zu verschenken. Und es sollten doch bitteschön alle Spieler – wie vertraglich vereinbart – ab sofort Uhlsport-Schuhe anziehen oder wenigstens andere Logos abkleben. Die Botschaft seines Monologs: Wer Zweitligaprofi sein will, muss sich auch so verhalten.
Fluppen in der Meckerecke
Hajo Sommers steht auf dem Stadionvorplatz, trägt Jeans und Turnschuhe, wie immer. Bevor sich der RWO-Präsident in einen Anzug zwängen würde, müsste ihm schon der Himmel auf den Kopf fallen. Seit er aus dem Oberhausener Untergrund aufgetaucht ist, wird der ehemals konturlose Klub von den Medien zum „St. Pauli des Ruhrgebiets“ verklärt. „Ich hasse den Vergleich“, sagt Sommers, der in der Anti-AKW-Bewegung aktiv war und das linke Jugendzentrum „Druckluft“ mitgegründet hat.
Er setzt sich bis heute während des Spiels nicht auf die VIP-Tribüne, sondern hockt weiter auf seinem alten Platz, mit Kappe und Schal. Der Präsident geht dahin, wo es weh tut. In der Halbzeit steht er auf der „Konvent“-Tribüne mitten in der Meckerecke. Im Pott werden solche Diskussionen zwischen Präsident und Publikum unprätentiös mit einem „Hömma“ eingeleitet. Während der 90 Minuten hat Sommers immer die Hand am Tabak, raucht gerne mal 20 Selbstgedrehte. Wenn die Gästefans ein Feuerwerk abfackeln, denkt er an die klamme Klubkasse und mögliche Sanktionen. Der Schauspieler auf dem zweiten Bildungsweg gefällt sich aber durchaus in der Rolle des Schmuddelkindes.
Genau zwei Tage nach der Einreichung der Lizenzunterlagen, so erzählt er, habe sich ein Mitarbeiter aus der zuständigen Abteilung bei der Deutschen Fußball Liga (DFL) bei ihm gemeldet und gefragt, ob man die Zahlen wirklich ernst meine. Den offiziellen Treffen der DFL bleibt Sommers grundsätzlich fern. Wann sollte er die Fahrt nach Frankfurt auch einschieben bei seinem doppelten Spielplan? Die Tätigkeit bei RWO erledigt der Theatermann als Nebenjob, unbezahlt, wie die anderen Kollegen im Vorstand. Die Konstellation beugt gewissen Überreaktionen vor und verhindert übertriebenen Transfereifer. Die Kollegen akzeptieren auch, dass Sommers im Herbst nur von acht bis zehn Uhr zu erreichen ist, vor der Theaterprobe.
Die neue Alte Taktik
Zwischenbilanz: 6 Spiele, 5 Niederlagen | Brandrede und Spielersitzung
Es gibt Momente in einer Saison, da kann alles kippen. Nach dem fünften Spieltag ist es an der Landwehr soweit. In Luginger brodelt es, die Einzelgespräche haben nichts gebracht. Trainer und Manager knöpfen sich nacheinander die Mannschaft vor, erklären mit deutlich erhöhtem Lautstärkepegel, jetzt müsse wieder malocht werden. In München spräche man von einer Brandrede. In Oberhausen geht es jedoch nicht um Schlagzeilen – allein schon mangels Boulevard – sondern um die mentale Neuformierung der Mannschaft.
Manager Hans-Günter Bruns entscheidet in dieser Phase, mehr Einfluss auf den Trainer zu nehmen. Bisher hat er davon abgesehen, weil es ihn in seiner Zeit als Coach selbst gestört hätte. Doch warum, sagt sich Bruns, sollte man einen Neuling in dem Job nicht ein wenig unterstützen? „Mentoring“ nennt man das in großen Unternehmen, anderswo „Lernen von den Alten“. Der Manager coacht also jetzt den Trainer, der Trainer die erfolglose Mannschaft. Die Spieler müssen sich noch einmal haarklein die 90 Minuten der letzten Niederlage beim FSV Frankfurt anschauen.
Mit Erfolg: Einigen Spielern geht erst da auf, wie weit sie von den Gegenspielern entfernt standen. Es ist die Phase, in der man auch zum ersten Mal einen Spieler „Trainer“ sagen hört – und nicht mehr Vorgänger Bruns, sondern Luginger ist gemeint. Im Training ändert er die Marschroute. Er rückt ab vom selbst eingeführten 4 – 4‑2-System. Externe Kritiker könnten ihm unterstellen, Bruns habe jetzt doch wieder das Sagen. Das reaktivierte 3−5−2 war dessen Standardsystem. Letztendlich macht der „Chef der Maloche“, wie Luginger im Marketingdeutsch der Klubkreativen heißt, aber alles richtig. Selbst in der zweithöchsten deutschen Spielklasse gibt es nur wenige Mannschaften, die hinten mit einer Dreierkette spielen. Wenn aber jemand mit dieser Formation aufläuft, fehlen den meisten Teams die spielerischen Mittel, um erfolgreich zu reagieren.
Zur gleichen Zeit beweisen die Säulen der Mannschaft, dass sie ebenfalls verantwortlich handeln können, zumindest außerhalb des Platzes. Benny Reichert, Terranova und Markus Kaya trommeln die Mannschaft in der Kabine zusammen. Die Spieler sagen sich die Meinung offen ins Gesicht, es fallen ehrliche, bisweilen harte Worte. Die jüngeren Kollegen haben Kaya schnell als obersten Motzki ausgemacht. Was nun passiert, ist bemerkenswert: Der Führungsspieler akzeptiert die interne Kritik und gelobt vor der Vollversammlung Besserung. Was Bruns anstrebte, als er in seiner Trainerzeit die Spieler an der langen Leine hielt, scheint zu funktionieren. Selbstregulierung durch selbst initiierte Manöverkritik – ein übertragbares Exempel? In Oberhausen funktioniert es auch, weil die meisten Spieler aus NRW stammen oder der deutschen Sprache mächtig sind. So hat es Bruns vorgegeben, als er den Klub 2006 seiner Erziehung unterwarf.
„Ich kenne 20 bessere Maßnahmen, als den Trainer zu entlassen“
Heimspiel mit Hackfleisch
Die Wende: 2:1 gegen den Spitzenreiter aus Kaiserslautern | Der Kapitän kehrt zurück
Wie eng die Bande untereinander sind, zeigt sich auch daran, dass die Mannschaft zusammen ins Theater geht: in „Kalte Colts und heiße Herzen“, das neue Theaterstück des Präsidenten. Fünf Spieler treffen sich zudem regelmäßig, um gemeinsam zu kochen. Freitagabend sitzen Dimi Pappas, Musa Celik und Benjamin Schüßler bei den Reichert-Brüdern am Küchentisch und kneten Hackfleisch, auch vor dem Spiel gegen Kaiserslautern. Ein Glücksritual aus der letzten Saison. Damals wurde nach gemeinsamer Hamburger-Zubereitung fast immer gewonnen. Pappas ist besonders abergläubisch: Er trägt schon mal Unterhosen, die er auch beim letzten Sieg anhatte.
Manager Bruns lässt sich von ersten internen Misstönen nicht irritieren. Er hat solche Situationen im Fußball schon zigmal erlebt. Ihn regen die Fans maßlos auf, die im Internetforum des Klubs bereits nach wenigen Wochen gegen den Trainer und das Gesamtkonzept schießen. Er sagt: „Jemanden, der ›Trainer raus!‹ ruft, würde ich aus dem Stadion schmeißen!“ Am Sonntag vor dem Spiel gegen Kaiserslautern läuft alles wie immer: Erst um 12:45 Uhr treffen sich die Spieler im Stadion, 75 Minuten vor Anpfiff. Kein Gedanke daran, vor einem Heimspiel in ein Hotel abzutauchen oder zusammen Mittag zu essen. 40 Minuten vor dem Spiel beginnt das Warmlaufen, zehn Minuten vorher spricht der Trainer.
Manchmal muss ein Kollege Pappas auch noch sagen, wie sein heutiger Gegenspieler heißt. In der Kabine wird gerne geflachst, dass der Deutsch-Grieche kaum einen Spieler in der zweiten Liga kenne. So kommt er gar nicht erst auf die Idee, zu respektvoll bei der Grätsche vorzugehen. Kaiserslautern macht es ihnen an diesem Nachmittag leicht. Semmler ist überrascht: Der Spitzenreiter lässt die Heimmannschaft gewähren, spielt selbst nur lange Bälle. Mit der Grandezza des jungen Beckenbauers treibt Benny Reichert den Ball vor sich her, sorgt bei seinem Comeback dafür, dass endlich wieder ein Spielaufbau stattfindet. Zuvor war die Lederkugel hinten bevorzugt rausgedroschen worden. Dass der Kapitän die Deckung stabilisiert, macht allen Mut. Es ist noch immer nicht so, dass man angekommen wäre im Profifußball, aber es fühlt sich irgendwie besser an. „Die Möglichkeit, die wir jetzt haben“, sagt Markus Kaya, „hat uns der liebe Gott geschenkt.Die dürfen wir nicht einfach so hergeben.“
Schluss mit „lieber Herr Lugi“
Auswärtssieg bei 1860 | Die Emanzipation von Bruns vollzieht sich
Der Trainer ist wieder lockerer drauf. Es war zwar Konsens, den Coach auch nach fünf weiteren Niederlagen nicht infrage zu stellen – doch Luginger hat dem Braten nicht getraut. Im rechten Moment kann er sich auf die Mitwirkenden verlassen. Der Präsident bleibt bei der vereinbarten Linie, verbreitet offensiv die Botschaft: „Ich kenne immer 20 bessere Maßnahmen, als den Trainer zu entlassen.“
Die Geduld zahlt sich aus: Das Training ist intensiver als zu Bruns’ Zeiten. Noch unterschiedlicher ist, wie sich die beiden am Spielfeldrand verhalten. Während Bruns bereits auf dem Trainerstuhl für die Buddha-Nachfolge trainierte, verändert sich das Coaching von Luginger: In den ersten Spielen lässt er die Nackenschläge fast regungslos über sich ergehen. „Möglicherweise hat er sich in dieser Phase zu sehr an mir orientiert“, sagt Bruns später. Die Trainerwerdung ist im Spiel gegen den FC Augsburg zu beobachten. Luginger entscheidet an diesem Abend, dass er von außen mehr eingreifen muss, weil seine unerfahrene Mannschaft mehr Hilfestellung braucht. Er will das nach außen sichtbar machen. Mitten in der zweiten Halbzeit tritt er einen „Taxofit“-Koffer um, der vom Masseur lachend wieder aufgehoben wird.
Monotonie & Trainingsalltag
Winterpause: Trainingslager im Hotel „Alfamar“ in Albufeira / Portugal
Sonst sorgt Thomas Dietz stets mit harter Hand dafür, dass niemand, der dort nichts zu suchen hat, mit im Mannschaftshotel nächtigt. „Wir sind ja keine Schaustellertruppe“, sagt der Sportvorstand, „nachher haben wir den halben Aufsichtsrat und die Sponsoren mit an Bord.“ Während in der Punkteserie abgeschottet wird, demonstriert der Klub im Trainingslager aber ungewöhnliche Basisnähe. Nicht nur der Pressesprecher ist mit dabei, auch die Fans wohnen im selben Hotel wie die Spieler: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es das bei anderen Profimannschaften gibt“, sagt Kaya.
In den acht Tagen des Trainingslagers in Portugal hat die gute, alte Liegestütze Hochkonjunktur, auch 29 Springseile werden großzügig eingesetzt. Morgens beginnt alles mit einem Strandlauf, an Vor- und Nachmittag folgt jeweils eine längere Trainingseinheit, abends stehen Massage und Pflege auf dem Programm, wahlweise an der Bar oder an der Playstation. Und so geht es jeden Tag. Die Spieler laufen ungeniert mit Stollenschuhen – oder auch mal nackt – durch die sterilen Hotelflure. Während Novize Moritz Stoppelkamp rituell in den Hotelpool gestoßen wird, liegt Benny Reichert auf der Massageliege mit Meerblick und träumt bereits vom idealen Saisonabschluss.
Er sagt: „Dann geht’s nach Malle, schön am Strand rumliegen und Schampus trinken!“ Die ersten Buchungen werden schon in diesen Tagen getätigt. Pappas ist Kassenwart, Kaya bucht die Flüge, Tim Reichert blockt die Zimmer. Doch letztendlich ist es wie überall: Längst nicht alle wissen, gegen wen das erste Testspiel steigt, dabei hätte ein Blick auf die RWO-Homepage genügt. Lüttmann bedient sich abends zuvor am Büffet und fragt überrascht: „Was, wir haben morgen ein Spiel, gegen wen denn?“ Je länger das Trainingslager dauert, desto größer werden die Beschwerden über das Essen. Zeugwart Gert Landers spricht längst von der „Kaserne Alfamar“.
Terranova telefoniert nur einmal am Tag mit seiner Frau. „Man hat sich ja eh nichts zu sagen, ist hier halt doch nur auf dem Trainingsplatz.“ Sören Pirson, die neue Nummer eins, muss seine Freundin am Telefon sogar fragen, was für ein Wochentag eigentlich gerade sei. Einer der jüngeren Spieler sitzt abends in seinem Hotelzimmer, chattet über ein Flirt-Portal mit einer unbekannten Schönheit und verabredet sich mit ihr für nach dem Trainingslager – nicht allein zum Händchenhalten. Nach acht Tagen voller Training und Tristesse gibt es keinen, der sich nicht auf die Heimkehr freut. Fußballprofi mag ein Traumberuf sein, im Trainingslager ist er es nicht.
Das Meisterschaftsspiel
Rückrundenstart: elf Punkte aus fünf Spielen | Der neue Keeper lässt Semmler vergessen
RWO-Torwart Sören Pirson gilt als unverdächtig, irgendeinem falschen Glamour anzuhängen. Zum Spiel reist er schon mal mit einer blauen „Karstadt“-Plastiktüte an. Beim Interview danach schwatzt er der „Premiere“-Assistentin die Wolldecke ab: „Für meinen Hund“. Ansonsten geht er jeden Mittwoch zu Conny, die bei der Geburt offensichtlich von Tana Schanzara getrennt wurde. Die Kneipenwirtin betreibt „Hennings Bierstube“ in Essen-Kray, ein öffentliches Wohnzimmer in Gelsenkirchener Barock.
Mittwochabend vor dem Spiel in Kaiserslautern trifft sich Pirson dort mit seiner neuen Freundin. Sie hat zwei üppige Gyros-Teller in einer weißen Plastiktüte mitgebracht, von der Bude um die Ecke. Das Einzige, was jetzt noch fehlt, ist das Besteck. Conny sagt: „Sören, hol’s dir hinter der Theke weg, du weißt ja, wo es liegt.“ Während RWO wichtige Punkte für den Klassenerhalt sammelt, startet Pirson eine zweite Karriere. Ende März hat er sich einem anderen Klub angeschlossen, er ist jetzt Mitglied der Dartmannschaft „Ghostbusters IV“. In der gemütlichen Bierschwemme gibt es auch die Teams „Ghostbusters I“, „Ghostbusters II“ und „Ghostbusters III“. Pirson muss also in der vierten Mannschaft ran. Irgendwann musste es ja soweit kommen. Der „Schnapper“, wie man hier zum Torhüter sagt, ist sowieso ständig in seiner Stammkneipe.
Die heutige Einheit dauert sogar länger als das Training an der Landwehr, von 20 bis 23 Uhr. „Gute Pfeile“, sagt er immer wieder beiläufig. Das ist der gewohnte Gruß unter Dartern, ähnlich dem „Gut Holz“ der Kegler. Pirsons Augen leuchten, wann immer er vom „ersten Meisterschaftsspiel“ spricht. Er meint die Begegnung am Dienstag, das Heimspiel von Ghostbusters IV. Der Termin liegt günstig: zwischen den Liga-Spielen gegen den 1.FC Kaiserslautern (Sonntag) und den „Club“ aus Nürnberg (Donnerstag). Weil er jetzt noch öfter kommt, richtet er sich bei Conny gleich mal ein Sparfach ein. Normale Gäste zahlen pro Besuch fünf Euro ein, Großverdiener müssen zehn abliefern. Im Dezember wird das Geld gemeinsam auf den Kopf gehauen, dann steigt in der Kneipe die Party des Jahres. Während Schlagerbarde Olaf Henning singt und ein weiterer Gast in Jogginghose einläuft, sagt der Berufssportler glücklich: „Bei Conny interessierts keinen, ob du Fußballprofi bist oder nicht!“
Der Wasserläufer
Christoph Semmler hat nach seinem Kreuzbandriss die Schattenseiten des Geschäfts erlebt. Er war nur wenige Tage verletzt, da informierte ihn schon niemand mehr über den Theaterbesuch beim Präsidenten. „Ich wäre schon gerne mitgegangen“, sagt er während seines Aufenthalts in der Media-Park-Klinik in Köln. Etwa acht Wochen später, im Februar, tritt die körperliche Wiederherstellung des Stammtorwarts in die nächste Phase.
Um neun Uhr trifft sich Semmler mit Diplom-Sportwissenschaftler Tobias Dudeck im Kölner Zollstockbad. Ein typisches Stadtbad, der Chlorgeruch ist kaum auszuhalten. Ein paar ältere Semester stehen im Halbkreis beim Frühsport zusammen, zwei Bademeister langweilen sich in weißen Plastikstühlen. Beim Aqua-Jogging im Sprungbecken kämpft ein Bundesliga-Torwart um seine Gesundung, während neben ihm alte Frauen auf grünen Schwimmnudeln reiten. Der Patient hat jedoch keinen Blick für die begnadeten Körper, er ist nur auf ein Ziel fokussiert.
Dudeck, sechs Monate lang so etwas wie sein Personal Trainer, sagt, der Sportstudent sei ein wissbegieriger Streber. Er wünsche sich, jeder verletzte Profi würde ähnlich für sein Comeback schuften. Er kann es beurteilen, er hat schon mit Lukas Sinkiewicz, Patrick Helmes und Matthias Scherz gearbeitet. In jedem Muskel seines Gesichts ist zu erkennen, wie sehr sich Semmler quält. So hart der Mann mit dem blauen Aqua-Jogger-Gürtel kämpft, so wenig scheint er von der Stelle zu kommen. Er schiebt den Unterkiefer nach vorne, pumpt die Backen auf und beißt auf die Zähne, bis das Gesicht rot anläuft. Eine Bahn von 25 Metern kann die Hölle sein, wenn man nicht vorwärts kommt.
Für das Probetraining vor dem Comeback, notwendig für die Krankenversicherung, schiebt er Extraschichten auf einer Bolzwiese vor dem Stadion in Müngersdorf. Doch obwohl er am 28. Spieltag erstmals wieder auf der Bank sitzt, wird er keinen Einsatz mehr bekommen. Ob es überhaupt noch einmal ein offenes Duell wird, ist ebenfalls fraglich. Pirson hat sich festgespielt. Luginger lässt via Zeitungsinterview mitteilen, also nicht im persönlichen Gespräch, dass der Herausforderer im Kasten bleibt. Dass so etwas nicht unter vier Augen besprochen wird, empfindet mancher bei RWO als eine Schwäche des Trainers, die meisten halten es aber für normal in diesem Geschäft. Semmler akzeptiert die Spielregeln widerwillig, versucht fortan, sich im Training anzubieten. Er sagt enttäuscht: „Woanders steht der Stammtorwart schneller wieder im Tor.“
„Wer hat schon für Mallorca bezahlt, wer nicht?“
Im Wachturm des H.G. Bruns
Während Dietz im sozialen Gefüge unter dem Spitznamen „Der weiße Hai“ firmiert, hat Manager Bruns in Oberhausen viele Namen. Die Spieler sagen respektvoll „der Herr Bruns“, mancher versteigt sich zu einem ikonengleichen „H.G. Bruns“, nur Duzfreund Dietz vertraut auf „Günter“. „Liebe Kinder haben viele Namen“, sagt ein Sprichwort. Wenn man den Sportdirektor im Februar 2009 in seinem Büro besucht, trifft man eher auf einen treusorgenden Großvater.
Ein Stapel von Bewerbungsunterlagen liegt auf seinem Schreibtisch. Bruns kümmert sich darum, dass die Spieler der U23-Mannschaft ihre zweite Karriere nicht vernachlässigen. Der Klub sieht die Kicker nicht als Spekulationskapital, er will Hilfestellung geben. Das Kalkül: In der Zeit, in der ihm der Manager einen Praktikumsplatz besorgt, kann sich der Spieler auf den Fußball konzentrieren. Der oberste Projektleiter thront in seinem Büro über dem Trainingsgelände wie auf einem Hochsitz. Eigentlich liegt der Übungsplatz direkt vor seiner Nase, doch die Fensterscheiben haben 35 Jahre auf dem Buckel. Er muss in einen Nebenraum gehen, um wirklich etwas zu erkennen.
Jedesmal, wenn es die Zeit erlaubt, eilt er jedoch nach unten, lehnt sich in vorgebeugter Haltung auf die Balustrade und führt dabei einen seiner gestreiften Strickpullover spazieren. In dem Kabuff hat der passionierte Beobachter tatsächlich ein ideales Refugium gefunden, fernab von jeglichem Mediengetöse. Wenn er doch einmal mit dem „DSF“ spräche, würde das bestimmt ein häufig geklickter Youtube-Schnipsel. In diesen Tagen wird am Great Barrier Reef der vermeintlich „beste Job der Welt“ vergeben, als Ranger auf einer Luxusinsel. Unverständlich für den Manager. Er hat ihn doch längst, den besten Job der Welt.
Gestört wird er eigentlich nur, wenn eine der beiden Geschäftsstellendamen seine Deutschland-Tasse mit dem Kaffee hereinbringt. Dass Bruns die tägliche Trainingsarbeit manchmal fehlt, sieht man nur daran, dass sein Leibesumfang wächst. Mitarbeiter munkeln, er habe seit Saisonbeginn über 20 Kilogramm zugelegt. Strahlte er bislang nur die Ruhe und Weisheit eines Buddhas aus, so ist er jetzt auf dem besten Weg, diese Rolle auch körperlich auszufüllen. Bruns, der angetreten ist, den etablierten Klubs den Spiegel vorzuhalten, stellt in dieser Zeit triumphierend fest, dass das 3 – 5‑2-System seinen Zweck erfüllt. Er sagt: „Einige Gegner können überhaupt nichts mit unserer Spielweise anfangen.“
Der „Spieler des Monats“
Niederlage in Fürth: „Aufstiegsträume“ geplatzt | RWO ist jenseits von Gut und Böse
Es sind genau elf Stufen, die hinabführen in die Katakomben, in denen sich die Spieler werktäglich umziehen. Wer größer ist als 1,90 Meter, läuft Gefahr, an die Decke zu stoßen. Die Tafel im Flur ist beschmiert: „Wer hat schon für Mallorca bezahlt, wer nicht?“ Stammspieler Embers preist hier mittels einer unscheinbaren Visitenkarte seine Dienste als Versicherungsvertreter an.
Links und rechts der Tafel befinden sich die Türen der beiden Kabinenräume, in einem hängt eine elektrische Dartscheibe aus dem Supermarkt. Der Strafenkatalog auf einem weißen DIN-A4-Zettel stammt noch aus der Saison 2006/07. Und das Pin-Up-Girl, sauber ausgeschnitten aus einer Boulevardzeitung, schaut mittlerweile auch etwas vergilbt aus der Wäsche. Noch schlimmer ist es um die Anti-Doping-Richtlinien bestellt. Die hat jemand mit unter die Dusche genommen, das rote Büchlein ist aufgequollen und es fehlen Seiten.
Wo Oberhausens Kampfspaten Dimi Pappas sitzt, ist nicht zu übersehen. Er hat seinen Platz großflächig tapeziert: herzwärmende Fanpost von Melli („Ich würde dich gerne ein bisschen näher kennen lernen, vielleicht bei einem Kaffee oder einer Cola?“), das herausragende Ergebnis der letzten Sprinttests als Kurvendiagramm und eine Ehrenurkunde, für den „Spieler des Monats März 2007“.
Über den Bänken befindet sich rundherum eine Hutablage, auf der sich im Laufe der Jahre allerhand angesammelt hat: Bodybuilder-Pulver in großen Dosen, Chuck-Norris-DVDs und eine verstaubte Flasche „Fürst von Metternich“. Die Spieler sind meistens bereits eine Stunde vor dem Training in der Kabine und bleiben auch hinterher gerne noch länger. Dann werden abstruse Pläne geschmiedet, etwa wenn Pappas in die Runde wirft, wie es wohl wäre, eine Cocktailbar zu eröffnen. Man darf sich den Trash-Talk wie auf einer ewigen Klassenfahrt vorstellen – und das Team als Kumpeltruppe. Offensivspieler Markus Heppke, im Januar aus Schalke dazugestoßen, sagt: „Ich war zwei Tage hier und wollte nicht mehr weg.“
Unter Tage bei Familie Landers
Das familiäre Gefühl, das in Oberhausen gepflegt wird, hat in einem Fall sogar einen konkreten Hintergrund: Marcel Landers trifft bei jedem Training auf seine Eltern. Die sind keine ehrgeizigen Tenniseltern, die den Jungen überallhin begleiten, sondern selbst Klubangestellte. 1986 hat Schnurrbartträger Gert Landers als Jugendtrainer angefangen, 1996 wurde er Zeugwart. Im selben Jahr heuerte auch seine Frau bei RWO an und wäscht seither die Trikots. Sie sagt: „Wir waren eh immer an der Landwehr.“ Bei der Taufe des heutigen Zweitligakickers Marcel trug der Pastor einen RWO-Schal.
Das Ehepaar Landers arbeitet – als wollte man dem Strukturwandel trotzen – unter Tage. Ihr überschaubares Zeugwartreich schließt sich direkt an die beiden Spielerkabinen an. Sohn Marcel und Bayer 04-Leihgabe Kim Falkenberg sitzen nach dem Training mit am großen Tisch. Zwei Deutschland-Kaffeetassen, eine Keksdose und eine grüne Plastiktischdecke – fertig ist die Wohlfühl-Oase. Die Landers sind die guten Seelen an der Landwehr. Anne Landers sorgt bei den Profis jederzeit für einen zünftigen Nährstoffhaushalt. Ihre Spezialitäten sind Frikadellen, Muffins und Waffeln.
Hinter den Landers hängen zahlreiche Fundsachen aus den zurückliegenden RWO-Jahren: eine selbst gemalte Terranova-Autogrammkarte, ein Blitzer-Foto von Pappas im alten Mercedes-Benz und – natürlich – der nackte Hintern des Präsidenten, eine Szene aus seinem letzten Theaterstück. Torwarttrainer Behrendt, noch in Unterwäsche, trinkt seinen Filterkaffee aus einem weißen Plastikbecher. Gehobener Bürohumor trifft Schrebergarten-Gemütlichkeit. In dieser Umgebung kann keine kühle Stimmung aufkommen oder gar Größenwahn. Wer in die angrenzende Waschküche von Anne Landers will, übt sich in Demut. Man muss unter jedem Türrahmen in die Knie gehen. Über einem Eingang hängt sogar ein Gebotsschild: „Esel, duck dich!“
Der hintere Keller wird als Trockenraum genutzt. Es sieht aus wie in einem U‑Boot: Heizungsrohre laufen kreuz und quer durch den Raum, flankiert von undefinierbaren Armaturen und Rädchen, dazwischen weiße Polo-Shirts. Dass die Trikots keinesfalls mit einer schnelleren Industriemaschine gewaschen werden, sondern mit einer herkömmlichen Schleuder, ist ausnahmsweise nicht dem schmalen Budget des Zweitligaklubs geschuldet. Das standesgemäße Modell, mit dem die übrige Bundesliga wäscht, ist einfach zu groß, um es in die engen Katakomben zu wuchten.
Von Bushido an die Babywiege
Wenn man mit Jürgen Luginger zusammensitzt, greift er gerne zur Stadionzeitung, verweist auf den aktuellen Gegner und deutet beim Kader auf die Sparte „letzter Verein“. Oft stehen dort dann große Klubs. Bei Julian Lüttmann steht: Sportfreunde Lotte. Wenn seine Kollegen untereinander über Abstaubertore sprechen, verwenden sie wie selbstverständlich den Begriff „Lütti-Tor“.
Bei Auswärtsspielen und im Trainingslager teilt sich „Lütti“ das Zimmer mit „Terra“. Er ist der klassische Ergänzungsspieler. Ein Indiz dafür, dass Lüttmann dennoch ein typischer Fußballer der Spielzeit 2008/09 ist: der riesige Chronograf an seinem Handgelenk, der problemlos auch an einer Zimmerwand seinen Zweck als Zeitauskunft erfüllen würde. In der Kabine tendiert der Neidfaktor darüber jedoch gegen Null. Kauft sich jemand ein ausgefallenes T‑Shirt, das den allgemeinen Geschmackstest besteht, trägt bald auch ein anderer so eines, womöglich gar dasselbe.
Wer in den Sportwagen von Lüttmann steigt, hört „Forever Young“ von Bushido und Karel Gott. Wenn das der Fußballgott wüsste! Der 26-Jährige beherrscht die großen Gesten des Geschäfts: Als er im November den entscheidenden Treffer gegen Hansa Rostock erzielt, übrigens explizit kein „Lütti-Tor“, entscheidet er sich spontan für die „Babywiege“ als Jubelgeste. Seine Freundin ist schwanger, wie die Kollegen kurz zuvor bei einem Mannschaftsabend erfuhren. Lüttmann ist zum Ende der Hinrunde überraschend RWOs bester Torschütze – mit vier Treffern. Es läuft also verhältnismäßig gut für ihn, aber trotzdem lässt sich auch für ihn nichts Konkretes planen.
Schon in der dritten Liga wartete das Management von RWO bis zum Frühjahr, um Lüttmann eine Vertragsverlängerung anzubieten – für gerade mal ein weiteres Jahr. Trotz Familienzuwachs bleibt das Paar vorerst in seiner Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Wer weiß schon, was noch alles bis Sommer 2009 passiert? Solche Gedankenspiele bleiben aber selbst in dieser Mannschaft, die in Teilen oft sogar noch die Freizeit miteinander verbringt, unausgesprochen. „Über Geld wird in der Kabine nicht gesprochen, man weiß nur das Gehalt von seinen engsten Kumpels“, sagt Dimitrios Pappas.
Dem Fritz nicht sein Wetter
In Kaiserslautern erstmals vor über 30 000 Zuschauern | Zur Belohnung: Pizza und Bier
Samstagvormittag wird an der Landwehr trainiert, obwohl das Schild „Platz gesperrt“ immer noch herumsteht. Dann geht es unter die Dusche, anschließend ins Klubheim. Das Essen für die Männer im Trainingsanzug ist keine Überraschung: Es gibt Nudeln mit Tomatensauce, wie immer. Kohlehydrate, sagt Luginger. Zeugwart Landers hat genauso routinemäßig den Steckbrief von Schiedsrichter Robert Harmann ausgedruckt. Man weiß zwar nicht, wofür es gut ist, dass jetzt alle dessen Hobbys kennen („Wirtschaft, Lesen, Sport“), aber es wird schon irgendwie helfen.
Im Mannschaftsbus sind die Plätze fest verteilt: Vorne die Trainer und die Mediziner, in der Mitte das literarische Duo und hinten die Pokerspieler. Was in der Mitte wirklich gelesen wird, hängt von der Tagesform ab. Sören Pirson verschlingt „The Boys From The Mersey“, ein Buch über die schlagkräftigsten Liverpool-Fans der siebziger und achtziger Jahre. Timo Uster, sonst eigentlich immer am Laptop, liest auf der Hinfahrt das Männermagazin „Maxim“, die unvermeidliche Style-Bibel der Profis.
Ohne Stopp geht es auf den Betze. Die Pokerprofis von der Rückbank hören noch nicht einmal auf zu spielen, als die Stadtgrenze passiert wird. Ist ja keine Stadtbesichtigung hier! Oder doch? Co-Trainer Oliver Adler sagt kurz vor dem Betzenberg: „Jungs, schaut euch das an! Dafür spielt ihr Fußball.“ Kaum im Hotel angekommen, schlendern Kim Falkenberg und Christopher Nöthe zur WM-Spielstätte rüber. Zurück im Foyer erzählen sie Benny Reichert vom „Hammerstadion“.
Betreuer Helmut Bormann ist sogar noch näher dran, er fährt Sonntagfrüh wie immer vor der Mannschaft ins Stadion, bestückt die fensterlose Kabine mit dem notwendigen Gerät. Die Schuhe, insgesamt 36 Paar, reiht er gründlich in der Dusche auf. Das Schuhwerk dünstete sonst den eingelagerten Fußschweiß dort aus, wo sich die Spieler mental vorbereiten sollen. Der 61-jährige Betreuer, der früher als Konditor, Pipeline-Isolierer und Dachdecker sein Geld verdient hat, sucht sich immer einen Spieler aus, dem er ein paar Kuscheltiere als Glücksbringer zukommen lässt. Diesmal trifft es Marcel Landers.
Später, zurück vor dem Hotel: Bevor der Bus angelassen wird, sprechen etliche Profis noch mit den Liebsten daheim. Bruns schüttelt den Kopf und sagt: „Was für uns immer das Bier am Abend war, ist für die Spieler heutzutage das Handy.“ Die Hinfahrt zum Stadion ist eigentlich die kürzeste der Saison, wird aber zur Odyssee. Auf der Fahrtstrecke von zwei Minuten kommt der Bus plötzlich vom Weg ab, kurvt auf einmal durch das angrenzende Philosophenviertel, entfernt sich zusehends weiter vom Stadion. Luginger schaut immer wieder auf die Uhr, die Stimmung wird frostig. Als der Busfahrer etwas zu seiner Verteidigung vorbringen will, wird er abgewatscht. Der „Chef der Maloche“ ruft: „Drück auf die Tube, gib Gas!“
„Drück auf die Tube, gib Gas!“
Mit jeder Minute, die verstreicht, ohne dass man dem Stadion näher kommt, wird das Schweigen im Bus bedrohlicher. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Es gibt einen klaren Zeitplan, der eingehalten werden muss. Letztendlich braucht man für eine Entfernung von 700 Metern erstaunliche 17 Minuten. Irgendwann hat der Fahrer dann doch die richtige Zufahrt gefunden. Die Trainingsanzugträger stehen vor einem modernen Glasaufzug, der auch in einem 5‑Sterne-Hotel hängen könnte.
Pappas betritt etwas ungläubig die Kapsel, in der bereits ein liebenswürdiger Concierge wartet. In der zweiten Liga muss man nicht einmal mehr selbst den Knopf drücken! Der Mann, der im Jahr 2007 noch in der Oberliga spielte, wird die vier Stockwerke zur Umkleide hochgefahren: von Etage ‑4 auf 0. So schnell wie die gläserne Kabine durch das Innere des Fritz-Walter-Stadions schießt, scheinen auch die letzten zweieinhalb Jahre vergangen zu sein. Bei der Platzbegehung zückt Thomas Schlieter sein Handy, dreht sich damit einmal um 180 Grad und hält den historischen Ort fest, an dem er erstmals vor mehr als 30 000 Zuschauern auflaufen wird.
Nach dem Spiel, das mit einem beachtlichen 1:1 endet, geben sich die Spieler wieder gewohnt bodenständig, ordern bei einem lokalen Pizza-Taxi einen Mannschaftssatz Teigwaren. Hinten spielen sie Poker, vorne kreist das Flaschenbier. Der Manager hat den größten Durst, sagt vor jeder Bestellung zu Betreuer Bormann: „Helmut, ist Werbung!“ Sie fahren ab diesem Wochenende etwas komfortabler, erstmals laufen an Bord „Premiere“ und „DSF“. In der Hinrunde schaute man hier noch Filme wie „Ballermann 6“ auf DVD oder hörte die Bundesliga-Konferenz im Radio. Doch der neue Decoder ist irgendwie nicht richtig eingestellt, weshalb abwechselnd Trainer und Masseur im Gang stehen, am technischen Gerät herumfummeln und dabei wirken, als würden sich Mr. Bean und Buster Keaton als Fernsehtechniker versuchen. Ohne großen Erfolg: Das Bild fällt immer wieder aus.
Immerhin, der kurze Bericht vom eigenen Spiel ist einigermaßen zu erkennen. Als Terranova gezeigt wird, wie er sich nach seinem Tor vor der FCK-Kurve Hörner aufsetzt, lacht der ganze Bus. Eine Stimmung wie im Samba-Zug. Doch wieder einmal ist es ein Beitrag, der sich primär am FCK orientiert. Markus Heppke äußert von hinten Medienkritik: „Mensch, jetzt sag doch auch mal etwas über RWO!“
Der Nationalspieler
Niederlagen gegen Nürnberg und Rostock | Mitgliederkampagne „1904“ startet
Seit zweieinhalb Jahren tingelt RWO-Verteidiger Timo Uster als Lobbyist durch Oberhausen. Dietz baut ihn zum Marketingmann auf. Uster macht seinen Job, wie man es von ihm auf dem Platz gewohnt ist: überlegt, kompetent, intelligent. Im Gespräch streut er zwischendurch ein paar Fachausdrücke ein, die den Eindruck festigen, dass er „gut aufgestellt“ ist. Während andere Spieler vor allem für die eigene Zeit nach der Karriere planen, ist die Perspektive von Uster eng mit dem Klub verzahnt.
Bereits jetzt besitzt er ein eigenes Büro an der Landwehr, direkt neben dem des Pressesprechers. Er kümmert sich um die Mitgliederverwaltung. Während Terranova und Kaya auswärts in der Hotelbar ihr kleines Bier trinken, trifft man Uster alleine in der Lobby. Immer mit dabei: sein Laptop. Ein Kollege, der zufällig vorbei schlendert, ruft: „Timo, lebst du eigentlich noch? Wir sehen dich gar nicht mehr.“ Uster hat mit 34 Jahren sein Debüt in der zweiten Liga gefeiert, es war ein Geschenk des Himmels. Dass er noch einmal in dieser Spielklasse spielen würde, war so realistisch wie Lothar Matthäus als Bayerntrainer.
Er outet sich als Jünger der Glaubenslehre von Buddha Bruns, ist dankbar, im hohen Fußballeralter noch etwas gelernt zu haben. Während er mit Oberhausen von der vierten in die zweite Liga kletterte, hat er sich auf ein Abenteuer eingelassen. Als Ex-Profi Antoine Hey gambischer Nationaltrainer wurde, klingelte bei Uster eines Tages das Telefon. Seine Großeltern stammen aus Gambia. So reiste der Spätberufene während der Oberliga-Saison 2006/07 als Nominierter zu zwei Länderspielen, nach Luxemburg und Saudi-Arabien. Ein einmaliges Erlebnis, doch wegen der „Doppelbelastung“ trat er als Nationalspieler im Anschluss an die beiden Spiele gleich wieder zurück. Seine letzte Vertragsverlängerung hat er mit Dietz mündlich vereinbart. Nur weil die DFL irgendwann ein Schriftstück sehen wollte, wurde das Ganze dann doch noch schriftlich fixiert. Er sagt: „Ich hätte auch ohne Vertrag gespielt.“
Uster arbeitet gerade an einem Gutscheinheft für RWO-Mitglieder. Die aktuelle Mitgliederkampagne heißt: „Wir geben alles – für 1904 Mitglieder.“ 1904 ist das Gründungsjahr von Rot-Weiß Oberhausen. Zuletzt ist die Kampagne sehr erfolgreich gelaufen. Sehr erfolgreich heißt in Oberhausen, dass sie 60 neue Mitglieder brachte. Der aktuelle Zwischenstand liegt irgendwo zwischen 1100 und 1200. Das ist selbst in einer 220 000-Einwohner-Stadt reichlich wenig, wie Uster zugibt. Er gibt sowieso niemanden, der irgendwelchen Utopien hinterherläuft. Er sagt: „Irgendwann werden auch in Oberhausen die normalen Gesetze des Geschäfts greifen.“
Das Kaffeekränzchen
Der Geschäftsführer geht von Bord | Tricksereien mit der DFL
Das Theater von Hajo Sommers war früher ein Hallenbad. Wo einst vom Beckenrand gesprungen wurde, schwingt der Präsident heute selbst den Wischmopp und beseitigt die Spuren des Vorabends. Hinter der Theke hat er bereits Filterkaffee aufgesetzt, als der Manager um zehn Uhr die Bühne betritt. Sommers und Bruns treffen sich seit zweieinhalb Jahren vor jedem Heimspiel hier im Ebertbad, meistens zwei Tage vorher. Die Tagesordnungspunkte lauten: Kaffeetrinken unter dem Kronleuchter, herzliches Lästern über Vorstand und Aufsichtsrat sowie „Spieler in die Pfanne kloppen“.
Das Treffen ist also das Gegenteil einer trockenen Sitzung, ein ironischer Spruch jagt den nächsten und nichts dringt nach außen. Der Gastgeber nutzt die exklusive Gesprächssituation, um etwas über Fußball zu lernen. Er sagt: „Raute war für mich eigentlich immer ein Blatt aus der vierten Klasse.“ Während Sommers großzügig Kaffee nachschenkt, erzählt Bruns vom Spiel auf dem Betzenberg, von Spielsystemen und Jubelgesten. Sommers hat heute aber andere Probleme. Es gibt wieder einmal Stress mit den Frankfurtern. Die DFL hat den Klub gestern angeschrieben und gebeten, einmal zu erklären, wo denn der Geschäftsführer abgeblieben sei. Denn RWO-Geschäftsführer Gerd Kehrberg hat das Handtuch geworfen. Bereits im Februar sagte er: „Ich weiß nicht, ob ich hier noch gebraucht werde. Der Klub verträgt keine sechs Häuptlinge.“
Die Wahrheit ist: Er hatte nie eine Chance bei RWO. Die Vorstandsherren sind selbst viel zu sehr ins Tagesgeschäft verwickelt. Während der Saison bekommt man zu hören: „Wenn du den Kehrberg fragst, kannst du auch den Platzwart fragen.“ Der Mann, der ohnehin nur einen Honorarvertrag als externer Berater besessen hat, widmet sich längst einer neuen Geschäftsidee. Pünktlich zur WM 2010 hat er sich die Lizenz für die Vuvuzela gesichert, die afrikanische Plastiktrompete. Er wittert einen Erfolg ähnlich wie mit den Deutschland-Fähnchen zur WM 2006, will nicht weniger als zehn Millionen Trompeten für 27 Länder fertigen. Es scheint fast so, als wolle der vormals normalste RWO-Funktionär am Ende doch noch mit seinen schrulligen Ex-Kollegen konkurrieren. Präsident Sommers improvisiert.
Kurzerhand wird die Geschäftsstellenleiterin auf dem Papier befördert, zur „führenden Geschäftsstellenleiterin“. Ob die DFL diese Formulierung schlucken wird, steht auf einem anderen Blatt. In Oberhausen wird jedenfalls kein Geschäftsführer mehr eingestellt, zumindest solange Sommers und Kollegen das Sagen haben. Heute kommen die beiden Kaffeetanten, wie immer in bester Plauderlaune, plötzlich auf das Thema, wann die Führungscrew denn eigentlich zurücktreten müsse. Sommers zieht an seiner Selbstgedrehten und sagt: „Eigentlich müsste ich genau jetzt aufhören.“ Bruns schlägt vor: „Oder vielleicht sollten wir nächstes Jahr noch in die erste Liga aufsteigen. Dann haben wir es wirklich allen gezeigt, dann hören wir auf!“ Schallendes Gelächter.
„Der Klub verträgt keine sechs Häuptlinge“
Willkommen in Bennys Biotop!
Benny Reichert, der Kapitän von RWO, wohnt in einer ehemaligen Bergbaudirektoren-Villa, und äußerst verkehrsgünstig. Nur die Konrad-Adenauer-Allee trennt das elterliche Haus von Schloss Oberhausen, Kaisergarten und Stadion Niederrhein. Der Sohn ist mittlerweile 25 Jahre alt und lebt immer noch daheim. Seine Hobbys heißen: Fußball, Familie und „Counterstrike“.
Einst repräsentierte er die Speerspitze der bundesdeutschen Ego-Shooter-Szene, unter dem Pseudonym „Kane“. Sie waren ein Clan damals, wie das unter Elektrosportlern heißt, weltweit bekannt, weltweit unterwegs. Wenn man in der Saison 2008/09 das heimelige Domizil des Profis betritt, steht man sofort im geräumigen Wohnzimmer. Vater Reichert liest gerade den Sportteil der „Bild“-Zeitung, Mutter Reichert klebt Zeitungsartikel in ein Fotoalbum. Die kleine Bildergalerie, die entlang der Kellertreppe angebracht ist, beginnt mit einem Werbeplakat für ein RWO-Match. Motiv: der nackte Hintern des Präsidenten. Während der Kapitän die erste Etage bewohnt, leben zwei Mitspieler – Bennys Bruder Tim und Kim Falkenberg – in den Gartenhütten, die in ihrer Art an den Bungalow des Achtziger-Jahre-Ermittlers Magnum erinnern.
Falkenberg, vor der Saison aus Leverkusen an die Emscher gewechselt, hat seine „Ein-Zimmer-Laube mit Familienanschluss“ gar nicht erst für ein längeres Bleiben eingerichtet. Ein einzelner Bilderrahmen mit dem Foto seiner Freundin steht auf der Fensterbank. T‑Shirts und Socken liegen gewaschen, gefaltet und gestapelt auf dem Glastisch. Im Eingangsbereich hängt eine Kreidetafel, die an die nächsten Termine bei der Sportförderkompanie der Bundeswehr erinnert – und an ausstehende Prämien aus Leverkusen. Der U20-Nationalspieler, ein typischer Perspektivspieler der Marke Bruns, ist im Sommer als Nachmieter von Dimi Pappas eingezogen, der eine andere Wohnung gefunden hat. Pappas wohnt jetzt über dem RWO-Fan-Shop. Der Startvorteil für die temporären Untermieter in der Gartenkolonie liegen auf der Hand: Wer in der Spieler-WG lebt, ist schneller integriert. Reichert und Pappas teilten sich sogar den PKW: einen alten Mercedes-Benz.
Pokern mit Angelo Vier
Heimniederlage gegen Wehen-Wiesbaden | Der Manager streitet sich mit Spielerberatern
Angelo Vier, der Berater von Leistungsträger Benny Reichert, steht am Trainingsplatz an der Landwehr. Prompt ist der Ex-RWO-Profi von alten Kollegen umringt: Mannschaftsarzt und Masseur fragen nach Zustand von Schulter und Knie. Zwischendurch winkt ihm die führende Geschäftsstellenleiterin. Und nach dem Training geht kaum ein Spieler an ihm vorbei, ohne ihn zu begrüßen.
Das Trainerteam verweilt etwas länger, macht gute Miene zum geschäftigen Spiel. Schließlich ist Vier gekommen, um ihnen eventuell den Kapitän wegzunehmen. Manager Bruns sagt: „Ich habe in all den Jahren im Fußball gelernt: Jeder ist zu ersetzen. Aber wenn der Benny gehen würde, würde mich das persönlich treffen.“ Das erste Gespräch mit dem Kapitän haben Bruns und Dietz gemeinsam geführt, beim zweiten sitzen nur Sportvorstand und Spieler zusammen. Reichert bekommt – ebenso wie die anderen Stützen Falkenberg und Tim Kruse – eine lockere Frist von drei Wochen gesetzt. Solange sei das Vertragsangebot gültig.
Dietz hat seine Hausaufgaben gemacht, fährt anschließend in den Urlaub. Doch kurz nach dem Kaiserslautern-Spiel weiß Reichert immer noch nicht, was er machen soll. Tauscht er die Bodenständigkeit und die Freunde, die er in seiner Heimatstadt hat, gegen die sportliche Perspektive eines anderen, eines aufstrebenden Zweitligisten? Wohin wechselt jemand, der mit 25 Jahren den Status eines Charly Körbel besitzt? Und wechselt er überhaupt? Einer der Bosse sagt zuversichtlich: „In Oberhausen ist er bei den Mädels beliebt, außerdem ist er ein bisschen faul – was soll er woanders?“
Und dass Angelo Vier halt gerne etwas pokere. Bruns klagt derweil bei jeder Gelegenheit über sein erhitztes rechtes Ohr. Er spricht täglich mit mindestens 15 Spielervermittlern, kann sich kaum deren Namen merken. Bei den Gesprächen erlebt er manche Überraschung: Bevor Falkenberg seine Entscheidung, nach Fürth zu wechseln, offiziell mitteilt, werden Bruns bereits Nachfolger für ihn angeboten. Und wenn über diese Gerüchtebörse bezüglich des Augsburger Stürmers Imre Szabics ein monatliches Grundgehalt von 35 000 Euro kolportiert wird, fragt sich Oberhausens oberster Werteverwalter schon einmal: „Haben die noch alle auf der Latte?“
Er rechnet dann gerne schnell zusammen, dass fünf Augsburger Arbeitnehmer soviel verdienen wie hier der ganze Kader. Wenn ihm etwas in seiner Position als Manager übel aufstößt, dann sind das die alltäglichen Unsitten des Transfergeschäfts. Gerade hat er eine Schwarze Liste angelegt. Darauf stehen jene Spielerberater, die nicht mehr in Oberhausen anrufen dürfen. Einer, der dreimal aus dubiosen Gründen abgesagt hat, um jeweils mit anderen Klubs zu verhandeln, und der sich dann – kurz vor dem vierten Termin – von der Autobahn meldete („Wir sind gerade auf dem Weg zu Werder Bremen“), bekam bereits die volle Breitseite verpasst: „Jetzt pass mal auf! Egal was passiert, auch wenn du Ronaldinho für 5000 Euro im Monat hast, ruf mich nie wieder an!“
Im nächsten Jahr soll alles anders werden, radikal anders: Dann wird in Oberhausen jedem Spieler genau eine einzige Offerte unterbreitet, eine klar definierte zeitliche Frist gesetzt und dann kann sich der Spieler entscheiden, ob er bei RWO spielen will oder nicht. Darüber sind sich Vorstand und Manager einig. Was kurz nach Bruns’ Wutausbruch eintrudelt, ist die Zusage des Kapitäns. Benny Reichert ruft bei Dietz an und willigt endlich ein. Der Klub ist für ihn an seine monetären Grenzen gegangen. Mit Erfolg. Die Zusage kommt gerade rechtzeitig. Der Manager, in dieser Zeit ungewöhnlich schnell genervt, hatte nämlich fast schon wieder den Hörer in der Hand, um dem Kapitän mitzuteilen, dass er endgültig am Ende seiner Geduld sei bei diesem Vertragspoker. Selbst wenn ihm das persönlich besonders weh getan hätte! Hans Günter Bruns geht es – wie so oft – auch ums Prinzip.
„Ich erkenne den Kaya ja gar nicht mehr wieder“
Spielanalyse bei Turnvater Jahn
Luginger sitzt in seiner Trainerkabine. Es ist eine dieser Kabinen, in denen sich früher Schulklassen umgezogen haben, bevor es zu den Bundesjugendspielen ging, getrennt nach Geschlechtern. Etwa zehn kleine Jungs oder Mädchen mitsamt ihrer Turnbeutel fänden hier Platz. In der Mitte steht ein breiter Schreibtisch, an der Wand hängt ein Spielfeld der Firma „Top Coach“: mit elf roten und elf gelben Magneten. Eine weitere Magnetwand weist aus, welche Spieler derzeit im Training und welche abwesend oder verletzt sind. Der Fernseher hat höchstens ein Fünftel der Maße von Terranovas Heimkino und stammt aus einer Zeit, als Bruns noch unter Franz Beckenbauer in der Nationalelf auflief. Es riecht muffig, wie es in feuchten Umkleidekabinen nun einmal riecht.
Jeden Tag ziehen sich hier Trainer, Co-Trainer und Torwarttrainer gemeinsam um und suchen nach dem absolvierten Pensum die Nasszelle auf. Die sportliche Duftnote, die Luginger nach der heutigen Dusche aufgelegt hat, wirkt wie ein Raumerfrischer. Seine Mannschaft schien schon gerettet – dann folgte eine kraftlose Schwächeperiode, gekrönt von der Heimniederlage gegen Wehen-Wiesbaden, den abgeschlagenen Tabellenletzten. Was in diesem Spiel nicht gelang, muss am 33. Spieltag gegen Freiburg funktionieren. Die letzten Punkte müssen her. Im abschließenden Saisonspiel geht es nach Mainz!
Luginger ist mit der Spielvorbereitung beschäftigt, diesmal sind es vier Flipcharts, mit Filzstift handschriftlich beschrieben. Inhalt: die gegnerische Mannschaftsaufstellung, die taktische Formation, Dreier- oder Viererkette. Bei hünenhaften Gegenspielern ist mitunter auch die Körpergröße ausgewiesen. Achtung: kopfballstark. Wer den Trainer einmal beim Einrichten der einzelnen Stationen für ein Zirkeltraining beobachtet hat, der weiß, wie akribisch er sein kann. Im Trainingslager hatte sein Team den VfB Stuttgart eine Halbzeit lang an die Wand gespielt, zur Halbzeit 2:0 geführt. Es funktionierte alles, was er in den Tagen zuvor mit der Mannschaft eingeübt hatte.
Erst als am Ende munter ausgewechselt wurde und Bastürk und Simak die Fäden ziehen konnten, verlor man schließlich noch mit 2:3. Nach dem Spiel plauschte er von Jungtrainer zu Jungtrainer mit Markus Babbel, stellte sich dann den Fragen der drei mitgereisten Journalisten. Frage: „Es gibt ja viele Trainer, die im Trainingslager lieber verlieren…“ Antwort: „Was sind das für Trainer? Ich will immer gewinnen.“ Einer seiner größten Erfolge in dieser Saison ist, dass er einen Schlüsselspieler zurück in die Spur gebracht hat.
In der Hinrunde hatte er Markus Kaya kurzzeitig auf die Bank verbannt, weil er nicht gut trainierte. Kurz vor Saisonende sagt Kaya, ganz gelehriger Schüler: „Ich habe damals verstanden, dass ich Gas geben muss, dass ich in jedem Training und in jedem Testspiel zeigen muss, was ich kann.“ Mittlerweile ist er mit sieben Treffern der beste Torschütze der Oberhausener.
Er ist der Spieler, der auch im Spiel immer wieder mit den Kollegen spricht, ihnen weiterhilft, ein Erfolg der kontroversen Mannschaftssitzung nach dem fünften Spieltag. Während Terranova schreit, um die Mannschaft zum Erfolg zu bringen, bevorzugt Kaya mittlerweile die ruhige Ansprache. Ein Erstliga-Trainer ruft in diesen Tagen verwundert bei Luginger an und sagt: „Ich erkenne den Kaya ja gar nicht mehr wieder.“ Ein weiterer kluger Schachzug von Luginger war es, Oliver Adler, einst Kultspieler in Oberhausen, als Co-Trainer zurückzuholen.Er gilt intern bald als der beste Psychologe.
Bierduschen & Dopingproben
Immer mehr Spieler finden den Weg vom Innenraum in die weiß gekachelte Kabine. Es dauert ewig, bis das erste Pils-Tablett hereingetragen wird. Bierfreund Bruns lästert schon: „Im letzten Jahr in Berlin stand zu dem Zeitpunkt schon alles 20 Zentimeter unter Wasser.“ Es braucht einige Minuten, bis der Klassenerhalt in den Köpfen ankommt. Die Spieler sitzen mit ihren roten Klassenerhalts-Shirts auf den Bänken, nur Kim Falkenberg trägt noch das RWO-Trikot. Schüssler und Embers schalten als Erste in den Feiermodus.
Nach 15 Minuten relativer Stille steigt der Lautstärkepegel. Bürokaufmann Embers ist es vorbehalten, den ersten 0,3‑Liter-Plastikbecher von hinten über das Haupt des Trainers zu schütten. Luginger steht später minutenlang unter dem fest installierten Haartrockner, wie man ihn aus Hallenbädern kennt. Während Benny Reichert, der sich beim letzten Spiel in Duisburg wieder einmal schwer verletzte, die Kabine mit Krücken betritt und mit einem ausgelassenem „Happy Birthday“ begrüßt wird, sitzt Untermieter Falkenberg vollkommen konsterniert in einer Ecke. Sein Blick geht ins Leere. Er hat gerade erfahren, dass sein neuer Klub Greuther Fürth nicht in die erste Liga aufsteigen wird. „Schon wieder nicht“, feixt Bruns in sicherer Entfernung.
Der Manager ist in Feierlaune, sagt: „Wir treffen uns am Besten erst am Samstag vor der Abfahrt nach Mainz wieder!“ Doch das ist mit dem Trainer nicht zu machen. Luginger setzt das nächste Training für Dienstag an. Nur einer fehlt auf der großen Party: Wo ist Maxi-Malocher Dimitrios Pappas? Er hatte es schon geahnt, als er jubelnd vom Platz kam. Er sah Masseur Andreas Münker auf sich zustürmten. Das durfte doch nicht wahr sein! Musste er denn ausgerechnet heute zur Dopingprobe ausgelost werden?
Ihm ist zwar klar, dass er nichts mehr ändern kann, aber trotzdem ist es keine freundliche Begrüßung, die der Dopingarzt zu hören bekommt. Pappas schimpft wie ein Rohrspatz. Er ist total ausgepumpt und ahnt schon das Schlimmste. Und so kommt es dann auch, unweigerlich. Urinstau. Während sich Torwart Sören Pirson nach immerhin einer Stunde in die Truppe einreihen kann, verbringt Pappas seinen Sonntagnachmittag in einer kleinen Nebenkabine, zusammen mit zwei Prüfern, einer Plastikdose und letztlich acht Flaschen Bier. Keiner der gewohnten Tricks half, weder das zwischenzeitliche Duschen noch das Geräusch laufenden Wassers schaffen Abhilfe.
Nur das weiße Handtuch umgebunden, sitzt er noch um kurz nach 18 Uhr da, mit glasigen Augen, ernsthaft verzweifelt. Erst zweieinhalb Stunden nach dem Abpfiff gelingt es ihm, die geforderten 90 Milliliter ordnungsgemäß abzuliefern. Der Deutsch-Grieche ist lattenstramm, taumelt durch den Kabinengang. Jungprofi Moritz Stoppelkamp muss ihn nach Hause bringen. Es ist bereits das sechzehnte Mal in dieser Saison, dass sich Spieler von Rot-Weiß Oberhausen dem Test stellen müssen. 1860 München zum Beispiel wurde nur viermal ausgewählt. Manager Bruns sagt: „Das ist wieder typisch. Glauben die denn tatsächlich, dass wir den Jungs etwas in ihr Wasser mischen?“
„Wir sind so, wie euer Magazin heißt, nur noch ein paar mehr“
Auf Wiedersehen in Bennys Biotop!
Dort, wo in dieser Saison die ungewöhnlichste Spieler-WG Deutschlands lebte, wird nach dem Klassenerhalt noch weiter gefeiert: im Elternhaus der Reicherts. Co-Trainer Oliver Adler erreicht am späten Sonntagabend ein telefonischer Notruf. Er wird angewiesen, umgehend 20 Cheeseburger und 20 Flaschen Bier vorbeizubringen. Die Spieler trinken sich schon mal warm für die abschließende Tour an den Ballermann. Langsam wird man sich bewusst, was man geleistet hat. Die vermeintliche Witztruppe der Liga, in der Stürmer Tuncay Aksoy in der Hinrunde nebenher als Straßenbahnfahrer arbeitete, hat der ganzen Branche die lange Nase gezeigt. Zweimal hintereinander aufgestiegen, am Ende Tabellenneunter.
In einer Welt von wissenschaftlicher Spielanalyse, immer aufwändigerer Leistungsdiagnostik und lizenzierter Kapitalgesellschaften, haben sie sich mit ihren Methoden behauptet. Ein Spielsystem, auf das viele keine Antwort hatten, ehrliche Worte unter Männern in der Krise und ein Zusammenhalt, über den Mittelfeldspieler Tim Kruse sagt: „Wir sind so, wie euer Magazin heißt, nur noch ein paar mehr.“ Die Maloche hat sich gelohnt! Und es wäre fast ein Treppenwitz der Geschichte, wenn Rot-Weiß Oberhausen damit zu einem Beispiel würde in einer übertemperierten Branche. Heribert Bruchhagen kann jedenfalls überlegen, wie er seine Wettschulden abträgt. Wie hatte er zu 11 FREUNDE gesagt? „Nur fürs Protokoll: Die haben keine Chance, keine.“ Rot-Weiß Oberhausen hat sie genutzt.