Dass Luke Shaw einer der wichtigsten Spieler Englands bei dieser EM ist, ist überraschend, denn zeitweise hat die Nationalelf für den Linksverteidiger nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Jetzt treibt ihn sein schlechtes Gewissen an.
Englands Nationaltrainer Gareth Southgate musste im Mai 2019 nicht lange überlegen. Der englische Fußballverband hatte gerade den Kader für die anstehenden Finalspiele der Nations League bekanntgegeben und ein Reporter fragte auf einer Pressekonferenz, ob es eine schwere Entscheidung gewesen sei, Luke Shaw außen vor zu lassen, immerhin sei der ja gerade zum Spieler der Saison bei Manchester United gewählt worden. „Nein“, sagte Southgate, „Ben Chillwell und Danny Rose waren zuletzt exzellent. Sie haben sich komplett dem englischen Trikot verpflichtet und alles für dieses Trikot gegeben.“
Bei Luke Shaw, das sagt der Spieler heute selbst, war das zu jener Zeit nicht der Fall. Mehrfach hatte er den Tross der englischen Nationalmannschaft auf Grund kleinerer Verletzungen verlassen, um für das nächste Spiel mit seinem Klub Manchester United fit zu sein. Nicht immer sei das nötig gewesen, sagt Shaw heute: „Ich bereue das sehr und konnte während der letzten zwei Jahre kaum aufhören, über diese Fehler nachzudenken. Ich hatte zwar Probleme mit meinem Körper, aber mit ein paar der Verletzungen hätte ich anders umgehen können. Ich bereue es, Gareth Southgate enttäuscht zu haben.“ Rund zwei Jahre später ist Shaw einer der Gründe, warum die Engländer vor dem EM-Halbfinale noch kein Gegentor kassiert haben – und warum sie zuletzt im Achtelfinale gegen die Ukraine offensiv erstmals während des Turniers richtig ins Rollen kamen. Es wirkt fast so, als befinde sich Shaw auf einer Wiedergutmachungstour.
Wenn der Verteidiger in Interviews spricht, macht er einen reflektierten und reifen Eindruck, auf dem Platz wirkt er forsch und bullig. Zwar ist Shaw ohne Zweifel technisch hochveranlagt, seine Körpersprache wirkt aber eher wie die eines motivierten Sunday-League-Kickers, der gerade erfahren hat, das in seinem Lieblingspub gleich ein neues Fass Ale angestochen wird. Die bisherige Karriere des 25-Jährigen ist nicht arm an Ereignissen. Beim FC Southampton ausgebildet, wechselte er im Sommer 2014 für knapp 38 Millionen Euro zu Manchester United. Der Transfer machte Shaw, damals 18 Jahre alt, zum bis dato teuersten Teenager der Welt. Im September 2015 brach er sich während einer Champions-League-Partie gegen die PSV Eindhoven bei einem Zweikampf mit Hector Moreno das rechte Waden- und Schienbein. Viermal musste Shaw operiert werden. Drei Jahre später erzählte Shaw bei einer Pressekonferenz, dass sogar eine Amputation des Beins drohte. „Die Mediziner hatten überlegt, mich aus den Niederlanden direkt nach England zurückzufliegen. Hätten wir das gemacht, hätte ich auf Grund der vielen Blutgerinnsel wohl mein Bein verloren.“ Stattdessen schnitten die Mediziner Shaws Bein an zwei Stellen auf, um das verstopfte Blut zu entfernen. Die Narben sind geblieben. Shaw verpasste in der Folge elf Monate.
Als er 2016 wieder auf dem Rasen stand, war Jose Mourinho als Cheftrainer bei den Red Devils installiert worden, bis heute verbindet beide eine Privatfehde. Immer wieder kritisierte Mourinho den Verteidiger in seinen zweieinhalb Jahren in Manchester öffentlich. Zu den übelsten Lowlights zählt sein Spruch, angelehnt an Shaws zahlreiche Verletzungen, dass er nicht mal vom Bett bis zur Toilette laufen könne, ohne sich ein Bein zu brechen. 2017 gegen Everton machte Shaw dann ein gutes Spiel, wurde von der Presse gelobt, doch sein Trainer bremste den Hype sogleich. Mourinho sagte, dass Shaw zwar mit dem eigenen Körper, aber mit seinem Hirn gespielt habe: „Ich habe von außen alle Entscheidungen für ihn getroffen.“ Nach Englands Gruppenspiel am 22. Juni gegen die Tschechen bezeichnete Mourinho, derzeit beim englischen Radiosender Talksport als Experte im Einsatz, Shaws Eckbälle als „dramatisch schlecht“. Darauf angesprochen reagierte Shaw zurückhaltend: „Er hat seine Meinung, er hat die Freiheit zu sagen, was er möchte. Ich ignoriere das und konzentriere mich auf die EM und unser Team.“