Die Premier League steht im Zeichen des Leicester-Wahnsinns. Dabei ist der Erfolg von Tottenham fast ähnlich wundersam – und das Produkt eines Jüngers von „El Loco“.
Vergangene Woche traf ich auf einen Londoner Fotografen namens Fred. Ein Prototyp von einem Engländer: Blass, zuvorkommend, und in jeder Sekunde, in jedem Satz komisch wie ein Best-of von „Monty Python“. Bis ich ihn fragte, für welches Team sein Herz schlägt. Fred’s Gesichtszüge, bis dahin eine Dauereinladung zu Fünf-Uhr-Tee und frittiertem Schoko-Riegel, verfinsterten sich: „Stell‘ Dir vor, Du landest vor Manchester City und United. Vor Chelsea, Liverpool und Arsenal. Und wirst trotzdem nicht Meister.“
Tottenham-Fan also. Die arme Sau.
Zunächst versuchte ich noch, ihn zu besänftigen, davon zu überzeugen, dass die Saison doch unbenommen der wohl entgehenden Meisterschaft ein einziger Glückskeks mit Superzahl sei. Bis mir klar wurde, was es bedeuten muss. Wenn dein Team die Saison deines Lebens spielt. Und aber eine Mannschaft vor dir in Richtung Ziellinie dauersprintet, die die Saison aller Leben spielt.
Als würde der 1. FC Köln plötzlich die Bayern, Leverkusen, Gladbach, Schalke und Dortmund hinter sich lassen. Und Augsburg die Bundesliga gewinnen.
Wassergraben „Big Four“
Wie der „Effzeh“ gehört der Tottenham Hotspur Football Club zum Goldschatz seiner nationalen Fußballhistorie. Inventar-Nummer Traditionsklub. Dabei anders als die Domstädter seit 1978 dauerhaft erstklassig. Für schwerwiegendes Tafelsilber reichte es zuletzt dennoch letztmals in der FA-Cup-Saison 1990/91. Die bis dato einzigen englischen Meisterschaften datieren aus den Jahren 1950/51 und 1960/61. Beim ersten Titel hieß der britische Premier noch Winston Churchill. Zehn Jahre später kannte die Beatles nur, wer eher durch Zufall in den Hamburger Star-Club gestolpert war.
Und auch wenn sich die Mannschaft von der „White Harte Lane“ seit gut zehn und nach zuvor mausgrauen Jahren im oberen Tabellen-Drittel der Premier League festgesetzt hatte, scheiterte sie mit schöner Regelmäßigkeit an der letzten Hürde, dem schier unüberwindbaren Wassergraben des jüngeren, englischen Fußballs: den „Big Four“, Chelsea, Arsenal, United und Liverpool. Als dann noch das Scheich-Geld Einzug bei Manchester City hielt, schienen die Titel-Träume der „Spurs“-Fans endgültig in die Nähe von Special-Interest-Fantasien zu wandern.
„Nicht, dass Leicester ein unverdienter Meister wäre, aber..“
So deutete auch vor dieser Saison alles auf einen undankbaren Platz im Schatten der Großen hin. Doch während Chelsea unter Mourinho zwischendurch sogar in Abstiegsnöte geriet, United noch immer das Ferguson-Erbe abbezahlt, City wirr, Arsenal mal wieder an sich selbst und Liverpool am Post-Suarez und Prä-Klopp-Syndrom scheiterte, sammelten die „Spurs“ beharrlich ihre Punkte. Wie in jeder Saison. Nur dass es in dieser speziellen Saison plötzlich tatsächlich zu Meisterschaftsambitionen gereichte.
Tabellenführer war das Team von Mauricio Pochettino dabei nie. Und selbst die diesjährige Punktausbeute war lange Zeit nur gehobener Spurs-Durchschnitt. Doch in dieser Spielzeit, und darin unterscheidet sich Tottenhams aktuelles Team von dem vergangener Jahre, lieferten sie einfach beharrlich weiter ab, als es darauf ankam. Tauchten am 25. Spieltag, als das Märchen von Leicester City schon längst bis Timbuktu vorgedrungen war, zum zweiten Tabellenplatz vor. Und blieben.
So überzeugend, dass der „Guardian“ unlängst schrieb: „Nicht, dass Leicester ein unverdienter Meister wäre. Die Tabelle lügt nie. Aber Tottenham ist das am vielversprechendste, verführerischste und ansehnlichste Team der Saison.“ Und meinte damit vor allem die Speerspitze an schierem Talent, das die „Spurs“ dem Kollektiv-Wunder von Claudio Ranieri’s Gnaden entgegenstellen.
Eine Speerspitze, die, für englische Verhältnisse ungewöhnlich, quasi zum Nulltarif zu bekommen war. Zugegeben, die fast 100 Millionen Euro Ablöse, die der Transfer des einstigen Londoner Sonnenkönigs Gareth Bale zu Real Madrid in die Kassen spülte, halfen gebührlich. Dennoch: Tottenham ist der einzige (!) Premier-League-Verein, der in den vergangenen fünf Jahren eine positive Transferbilanz für sich verbuchen kann.