Unser Autor fuhr als neutraler Beobachter zum Derby in die Arena auf Schalke. Ein Selbstversuch unter dem Motto: Ist das Revierderby ein außergewöhnliches Fußballspiel?
Rolf rümpft die Nase. „In Dortmund kannst du nicht einfach mit einem Schalke-Trikot herumspazieren, dass geht nicht“. Der knapp 70-Jährige steht in einem Café unweit des Dortmunder Bahnhofes. Um den Hals trägt er einen 20 Jahre alten schwarz-gelben Schal, dazu ein Trikot mit der Nummer fünf und dem Namen Kehl auf dem Rücken. Die Brille sitzt locker auf der Nasenspitze und hilft dabei, auch die kleinsten Artikel des Sportteils in den „Ruhr Nachrichten“ zu lesen. Wenn irgendjemand weiß, was das Revierderby so besonders macht, dann ist es Rolf. „Seit meinem ersten Derby 1966 habe ich kein einziges verpasst. Der Lothar Emmerich wurde damals gefeiert wie ein Popstar. Der hat fast 10 Jahre für die Borussia gespielt. Das gibt es heutzutage gar nicht mehr. Selbst die Kinder wechseln ständig hin und her. Wer gerade angesagt ist und den besten Fußball spielt, für den schlägt dann auf einmal das Herz. Das hat es bei uns nicht gegeben. Für mich“, sagt Rolf, aber das ist ja sowieso schon klar, „gab es immer nur ein Verein“.
Rolf mag seit 1966 kein Revierderby mehr verpasst haben, mir geht das komplett anders. Seit meiner Kindheit erlebe ich das wohl hitzigste Derby Deutschlands nur aus der Ferne. Das Kopfballtor von Jens Lehmann, die vergeigte Meisterschaft der Schalker oder das legendäre 4:4 in der vergangenen Saison: Die Historie ist voll von packenden Derby-Geschichten. Aber packt einen dieses Spiel auch als neutraler Beobachter. Ist dieses Spiel anders als ein normales Bundesligaspiel? Aufregender? Hitziger? Größer?
„Revierderby bedeutet eine Woche nicht schlafen zu können“
Während Rolf seinen Kaffee trinkt, verwandelt sich der Dortmunder Bahnhof in eine Fanmeile. Hunderte Borussia-Fans, vollgepackt mit bester Laune und Bier, strömen in Richtung Bahngleise. Auf der Toilette wird sich über den Eintrittspreis und die blau-weißen Fließen beschwert. Der Kiosk fällt fast in sich zusammen und für ein Bier muss man bald eine Nummer ziehen. Mitten in den Menschenmassen treffe ich Alex und Christian. Sie gehören der jüngeren Fan-Generation an. Beide haben eine Dose Bier in der Hand und eine weitere in der Jackentasche. Dezent aber sichtbar tragen sie ihren Borussia-Schal unter ihrem Windbreaker. Was ihnen das Derby bedeutet? Alles. „Revierderby bedeutet eine Woche nicht schlafen zu können, bereits um 11 Uhr am Bahnhof zu sein und erste Lieder zu singen. Revierderby ist Tradition und Geschichte. Du kannst in der Bundesliga gegen jeden verlieren, aber auf keinen Fall gegen Schalke!“
Dumm nur: Die Gegenseite sieht das natürlich genau so. Dementsprechend hitzig ist die Atmosphäre, als ich am Stadion in Gelsenkirchen ankomme. Zertrümmerte Bierflaschen, angebissene Stadionwürste und leere Bierbecher liegen auf dem Boden. Ein Krankenwagen mit heulenden Sirenen bahnt sich einen Weg durch die Menschenmassen. Nicht weit entfernt rennt eine Gruppe von fünf schwarz gekleideten Personen wie aufgeschreckt in Richtung Haupttribüne. Die Situation ist chaotisch und angespannt. Nur noch Blau hier, von Gelb fehlt jede Spur. Dazu der Wind, der Regen.
„Einmal Schalke, immer Schalke.“
Mitten in der aufgeheizten Stimmung steht ein Mann fortgeschrittenen Alters. Sein Name ist Frank. Etwas abseits von einem Bierstand beobachtet er die Situation relativ gelassen. Seine Jeans-Kutte ist dicht mit Aufnähern bestickt, den langen Bart hat er zusammen gezwirbelt, sein langes Haar ist von seiner Fan-Mütze und dem anhaltenden Regen völlig zerzaust. Frank, so viel ist klar, bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Was auch an seinem Verein liegt. „Als Schalke-Fan hast du es nie einfach. Mittlerweile sind wir das hier gewohnt. Vor allem nach der letzten Saison hatte ich das Gefühl, dass endlich eine gewisse Ruhe einkehrt. Für mich ist Dortmund ein Verein, dem ich nichts abgewinnen kann. Die spielen einen guten Ball, keine Frage, aber haben hier auf Schalke seit fünf Jahren nicht mehr gewonnen. Wir haben keine Angst. Die können den besten Ball spielen, ich werde immer Schalker sein. Einmal Schalke, immer Schalke.“
Von leidenschaftlichen Fan-Liedern begleitet, ist der Weg ins Stadion ein reines Vergnügen, die riesige Choreografie und der einheitlichen „Zipfelmützen-Look“ des Schalker-Fan-Blocks entschädigen dann auch schnell für das lange Warten am Einlass. Mit dem Steigerlied und dem passenden Film auf dem Videowürfel bin ich endgültig gefesselt und bereit für mein erstes Revierderby! Anpfiff!
Während des Spiels unterstützen beide Seiten unermüdlich ihre Farben. Die Dortmund-Fans halten gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Schalker dagegen. Gesänge, Anfeuerungsrufe, Hohn und Spott: Sehr viel mehr Leidenschaft geht nicht mehr.
Ein Revierderby zu verlieren geht nicht spurlos an einem vorbei
Das gilt auch für das Geschehen auf dem Platz, wo sich bereits nach wenigen Minuten ein von Kampf geprägtes Spiel entwickelt. Es wird gegrätscht, diskutiert und reklamiert, dem Trainer der Handschlag verweigert, die Trinkflasche in die Ecke geworfen. Am Ende gewinnt Dortmund durch die Tore von Thomas Delaney und Jadon Sancho mit 2:1. Abpfiff!
Einige Schalke-Fans bleiben enttäuscht auf ihren Plätzen sitzen, andere sind bereits auf dem Heimweg. Ein Revierderby zu verlieren geht eben nicht spurlos an einem vorbei. Während die Dortmunder ihren Sieg gemeinsam mit ihren Fans in der Auswärtskurve feiern, stehen die Schalker einheitlich in einem Kreis auf dem Spielfeld. In der Auswärtskurve bespritzt Dortmunds Kapitän Marco Reus seine Mitspieler mit einer Wasserflasche. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass zwischen Tränen und Triumph mitunter nur ein paar Meter Rasen liegen. Und dass das Revierderby ein außergewöhnliches Fußballspiel ist.
Wegen der Fans, die es dazu machen. Die ganze Bahnhöfe in Fanmeilen verwandeln, vor dem Stadion bei Wind und Wetter Lieder singen. Die seit Jahrzehnten ihre Rituale pflegen, Jahr für Jahr den selben Schal tragen oder zwei Tage nicht zur Arbeit gehen, wenn der eigene Verein verliert. Wegen Menschen wie Rolf oder Frank, Alex und Christian, die dafür sorgen können, dass man auch als neutraler Zuschauer eine Idee davon bekommt, was das Revierderby eigentlich bedeutet.