Die deutsche Nationalmannschaft arbeitet weiter an ihrer Neuerfindung. Nur, wie sieht die eigentlich aus? Und welche Rolle spielt dabei das Spiel gegen Holland?
Es war ziemlich kalt vor acht Jahren im Hamburger Volksparkstadion. Doch die meisten Zuschauer bemerkten die Kälte nicht, weil sie voll und ganz damit beschäftigt waren, verzückt zu sein. Die deutsche Nationalmannschaft, (damals Nummer drei der Weltrangliste) schlug damals die niederländische (Nummer zwei) nicht nur mit 3:0, sondern spielte Next-Level-Fußball. „Die Spielzüge zu den drei Toren wirkten wie das Werk eines alten Meisters, der den Pinsel mit schwereloser Eleganz zu führen vermag“, schrieb der „Tagesspiegel“. Und sogar der notorisch nüchterne Toni Kroos stellte nicht minder begeistert fest: „Ich weiß nicht, ob man besser spielen kann.“
Umkehrung der Tugenden
Der Erfolg gegen Holland am 14. November 2011 war der erste nach 15 sieglosen Jahren und der höchste seit 1959. Wichtiger noch war seine symbolische Qualität. Niederländische Teams waren lange das Gegenbild zur deutschen Mannschaft gewesen, sie hatten technisch wertvollen, offensiv ausgerichteten Fußball gepflegt – waren oft aber an mangelndem Pragmatismus gescheitert. Deutsche Mannschaften hingegen hatten total pragmatisch auf Kampf gesetzt, Ausdauer und was man sonst noch so deutsche Tugend nannte.
Doch an jenem Abend hatten sich die Rollen verkehrt, Holland spielte unter Bert Van Marwijk einen physischen, aggressiven Neo-Rumpelfußball, während Löws deutsche Mannschaft zauberte. „Es war wichtig, das Zentrum fußballerisch zu beherrschen“, sagte der Bundestrainer nach dem Spiel, der sich immer mehr in seiner Annahme bestätigt fühlte, dass die Erfolge seine Mannschaft vor allem auf Spielkunst gründen müssten. „Nur wer schön spielt, holt den Titel“, betonte er zu Beginn 2012 bei einem Interview mit 11FREUNDE in Freiburg.
Gefährliche Übertreibung
Diese Überzeugung trug Löw letztlich bis zur WM im letzten Jahr in Russland. Danach hingegen verabschiedete er sich fast schon dramatisch von der Idee des Ballbesitzfußballs. „Ich wollte das auf die Spitze treiben, das perfektionieren. Da war ich fast arrogant, da gibt es nichts zu beschönigen“, sagte er im August letzten Jahres bei einer etwas seltsamen WM-Nachlese. Eine Ära war damit abgeschlossen.
„Unser Spiel war etwas eingeschlafen“, sagte er nun noch einmal bei der Pressekonferenz vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Holland am Freitag um 20:45 Uhr – wieder in Hamburg. Doch wie soll die Erweckung genau aussehen? Noch ist nicht ganz klar, wohin der Weg führt, aber die Bezüge zum Spiel vor acht Jahren liegen auf der Hand. Damals kam die deutsche Mannschaft aus der begeisternden Weltmeisterschaft in Südafrika mit dem jungen Team des Post-Ballack-Zeitalters, in dem Spieler wie Kroos, Müller oder Lahm reüssiert hatten.
Tempo, Tiefe, Schärfe
Den Vergleich zu damals zog Löw ausdrücklich, nicht zuletzt was die jugendliche Frische betrifft. Inzwischen gibt es ein Post-Hummels-Müller-Boateng-Özil-Zeitalter. „Die Stimmung ist verdammt gut“, sagte er. Viele der nachgerückten Spieler würden sich schon lange aus den Nachwuchsteams des DFB kennen. „Diese Mannschaft weiß, dass sie in den nächsten Jahren viel erreichen kann.“ Nur wird sie das auf modifizierte Weise machen als ihre zuletzt halt eingeschlafenen Vorgänger. „Unsere Mannschaft lebt seit Jahren von der der Raumaufteilung und Geschlossenheit, da sind wir gut“, meint Löw. Dazu bedurfte es einer deutlichen Auffrischung. Seit einem Jahr geht es verstärkt um Tempo im Spiel, Tiefe in den Angriffen und darum die Spezialkräfte in Eins-gegen-Eins-Situationen zu bringen.
Timo Werner ist einer dieser schnellen Spieler, der gerade eine Leistungsexplosion erlebt hat, nachdem er in Leipzig nun doch seinen Vertrag verlängerte. Leroy Sané wäre es auch und zudem noch einer, der allein den Gegner durcheinander bringen kann, aber er wird verletzt noch länger fehlen. Julian Brandt gehört ebenfalls dazu und Serge Gnabry, den Löw überraschend klar als Symbolfigur herausstellte. „Serge Gnabry spielt…“, sagte er und fügte nach einer Denkpause an, „…bei mir immer.“ Seine besondere Fähigkeit sei, dass er „verschiedene Ebenen“ spielen könne. Gnabry kann nicht nur steil gehen oder Gegner ausdribbeln, sondern findet seine Wege auch zwischen den gegnerischen Reihen.
Das vierte Aufeinandertreffen
Und dann wäre da noch Kai Havertz, der nicht nur unheimlich elegant, unheimlich ruhig am Ball, sondern zudem noch unheimlich schnell ist. Es gibt wohl niemanden, der ihn nicht für die Zukunft des deutschen Fußballs hält, auch Löw nicht. „Er kann der Spieler in den nächsten Jahren in der Nationalmannschaft werden“, sagte Löw. Nur, die Gegenwart ist er trotzdem noch nicht, zumal das aktuelle 5−3−2 der deutschen Mannschaft nicht per se einen Zehner wie den Leverkusener vorsieht. Es klang eher also wie ein Notprogramm, dass der Bundestrainer versprach: „Für den finden wir immer einen Platz.“
War das Hollandspiel vor acht Jahren ein Höhepunkt des dramatischen fußballkulturellen Wandels auf dem Platz, geht es derzeit eher um eine feinziselierte Bastelarbeiten. Und das seit der vermaledeiten WM in Russland schon zum vierten Mal gegen die Niederlande. Eine klare Niederlage gab es dabei, ein Unentschieden, das auch ein Sieg hätte sein können und einen glücklichen Sieg. Um die Fortentwicklung der Mannschaft zu messen, gibt es keinen besseren Maßstab. Aber wenn es mit dem Verzücken des Publikums morgen nichts werden sollte, richtig frieren muss niemand. Es sind 15 Grad angesagt.