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Berlin – Die zweite Halb­zeit des Län­der­spiels zwi­schen Deutsch­land und Russ­land am ver­gan­genen Don­nerstag war eine ziem­lich dröge Ver­an­stal­tung. Abge­sehen von jener einen Szene kurz vor Schluss, als der Fuß­ball-Natio­nal­mann­schaft ein Spielzug von unge­ahnter Strin­genz gelang. Julian Brandt spielte den Ball flach und scharf in den Fünf­me­ter­raum, Thomas Müller löste sich per­fekt von seinem Gegen­spieler, sprin­tete Rich­tung ersten Pfosten und lenkte den Ball unhaltbar für den rus­si­schen Tor­wart zum 4:0‑Endstand ins kurze Eck.

Okay, ganz so war es dann leider doch nicht. Besagter Spielzug sah zwar in der Tat sehr ordent­lich aus, Brandt hatte auf der linken Seite viel Platz, er hob den Kopf, schaute, passte – aber Müller bewegte sich nicht aus dem Deckungs­schatten des Ver­tei­di­gers, der schließ­lich relativ unge­rührt zur Ecke klären konnte. Wer Tore von Thomas Müller sehen will, der muss schon über eine aus­ge­prägte Fähig­keit zur Fan­tasie ver­fügen.

Auf 19 Ein­sätze kommt der 29-Jäh­rige in dieser Saison für den FC Bayern Mün­chen und die deut­sche Natio­nal­mann­schaft; drei Tore sind ihm dabei gelungen, das letzte im DFB-Pokal gegen den Regio­nal­li­gisten SV Röding­hausen. In der Bun­des­liga hat er nur an den ersten beiden Spiel­tagen getroffen und für die Natio­nal­mann­schaft noch gar nicht. Sein letztes Län­der­spieltor gelang Müller im März gegen Spa­nien, im ersten Län­der­spiel des ver­ma­le­deiten Jahres 2018.

Der Mann für die ein­fa­chen Dinge

Diese Bilanz kratzt gehörig an Mül­lers Mar­ken­kern. Er war nie ein Spieler für spek­ta­ku­läre Dribb­lings, für Über­steiger mit dem Schwie­rig­keits­faktor 3,5. Müller hat vor allem die ein­fa­chen Dinge gemacht, und die über­ra­gend gut. Ich defi­niere mich über die Effi­zienz und Grad­li­nig­keit“, hat er mal gesagt. Aber Effi­zienz und Gerad­li­nig­keit sind ihm auf der langen Strecke seiner beein­dru­ckenden Kar­riere irgend­wann ver­loren gegangen. Ob er sie noch einmal wie­der­findet – daran bestehen zuneh­mend grö­ßere Zweifel.

Am Ende eines Jahres, das Bun­des­trainer Joa­chim Löw als eine rich­tige Ohr­feige“ emp­funden hat, dürfte zumin­dest Thomas Müller noch einmal ein biss­chen gefeiert werden. Als 14. Spieler über­haupt könnte er an diesem Montag im Nations-League-Duell gegen Hol­land sein 100. Län­der­spiel bestreiten. Das ist eine sen­sa­tio­nelle Leis­tung“, sagt Löw. Er ver­dient den aller­größten Respekt.“

Ange­fangen hat Mül­lers bemer­kens­werte Kar­riere im März 2010 mit einem Test­spiel gegen Argen­ti­nien in Mün­chen. Nach dem Schluss­pfiff saß er bei der Pres­se­kon­fe­renz, Diego Mara­dona, der argen­ti­ni­sche Natio­nal­trainer, erschien und ließ ihn von seinem Platz ver­scheu­chen, weil er den Jung-Natio­nal­spieler für einen Vol­un­teer hielt. Vier Monate später wurde der Münchner in Süd­afrika WM- Tor­schüt­zen­könig, unter anderem dank eines Tref­fers beim 4:0 im Vier­tel­fi­nale gegen Argen­ti­nien. Natür­lich ist das eine Zahl, auf die viel geschaut wird“, sagt Müller über sein anste­hendes Jubi­läum. Und im Rück­blick wird das viel­leicht was Beson­deres sein, aber ich kon­zen­trier‘ mich mehr auf den Fuß­ball als auf die Sta­tis­tiken neben­dran.“ Damit hat er im Moment schon genug zu tun.

So wie Müller in den Jahren nach 2010 das Gesicht zum Auf­bruch der Natio­nal­mann­schaft war – frech, freund­lich, unbe­küm­mert und erfolg­reich -, so steht er jetzt für die blei­erne Schwere, von der das Team in diesem Jahr in die Tiefe gerissen wurde. Müller zählt zur Welt­meis­ter­ge­ne­ra­tion, an der sich das Publikum inzwi­schen weit­ge­hend satt­ge­sehen hat und der nun auch Bun­des­trainer Löw mehr und mehr das Ver­trauen ent­zieht. Sami Khe­dira ist schon weg, Jerome Boateng steht auf der Kippe, Mats Hum­mels eben­falls – und auch der immer­spie­lende Thomas Müller genießt nicht mehr die unein­ge­schränkte Wert­schät­zung ver­gan­gener Jahre, weder in der Natio­nal­mann­schaft noch im Verein. Joa­chim Löw setzte ihn zuletzt zweimal hin­ter­ein­ander auf die Bank. Bei seinen zehn Län­der­spiel­ein­sätzen in diesem Jahr wurde Müller vier Mal nur ein­ge­wech­selt – nachdem es in den 89 Begeg­nungen zuvor ledig­lich neun Ein­wechs­lungen gewesen waren.

Müller ist wei­terhin wichtig

Thomas Müller ist für uns wert­voll, auch wenn er sich zuletzt nicht so in Szene setzen konnte“, sagt Löw. Er geht die Wege und hat nach wie vor Qua­li­täten im Abschluss.“ Aber in den ver­gan­genen 15 Län­der­spielen hat Müller eben nur einmal getroffen. Die WM im Sommer war die zweite End­runde nach der Euro­pa­meis­ter­schaft 2016, in der er ohne Tor­er­folg blieb.

Thomas ist ein absolut beson­derer Mensch und Fuß­baller“, sagt Leon Goretzka, der mit ihm sowohl bei den Bayern als auch in der Natio­nal­mann­schaft zusam­men­spielt. Ich finde es noch immer beein­dru­ckend, wie positiv er jeden Tag angeht.“ Auch nach den beiden jüngsten Län­der­spielen, in denen er zunächst nur Ersatz war, stellte er sich den Medien – ohne Groll, wie es andere viel­leicht getan hätten. Bun­des­trainer Löw hält Müller wei­terhin für einen Ener­gie­geber“. In der Mann­schaft, die sich im Umbruch befindet, ist er ein wich­tiges inte­gra­tives Ele­ment. Ähn­lich viel­leicht wie Lukas Podolski in den letzten Jahren seiner Natio­nal­mann­schafts­kar­riere.

Löw hat am Sonntag ange­kün­digt, er werde Thomas Müller nach seinem 100. Län­der­spiel ein Wei­zen­bier aus­geben. Ob Müller gegen die Hol­länder zur Feier des Tages mal wieder von Anfang an auf­laufen darf, dazu sagte der Bun­des­trainer nichts. Im Grunde spricht nichts dagegen. Für die Natio­nal­mann­schaft geht es ja um nichts mehr.