Halil Ibrahim Dinçdag ist Schiedsrichter und homosexuell. In der Türkei erhielt er deswegen Morddrohungen, seit 2009 darf er nicht mehr arbeiten. Wir haben ihn auf seinem einwöchigen Berlin-Besuch begleitet.
»> Dieser Artikel erschien erstmals am 14. April 2014.
Seit ein paar Jahren wandert ein Video durch das Internet, in dem ein übertrieben effeminierter Schiedsrichter gazellenhaft rückwärts über das Feld hopst und Gelbe Karten mit der Bravour eines Toreros aushändigt. Großes Kino, laut gelacht, und dann die Frage „Ist das eigentlich echt?“
Der Mann in dem Video heißt Clésio Moreira dos Santos, ist seit 2004 pensionierter Schiedsrichter und hatte sich während seiner aktiven Laufbahn überlegt, eine Schiedsrichterfigur zu erfinden – zur Unterhaltung. Seitdem kann man seine Figur „Margarida“ für Auftritte buchen. Dos Santos ist heterosexuell, verheiratet und Vater von drei Kindern. Er „spielt“ seine Version von einem homosexuellen Schiedsrichter und verdient damit Geld.
Im Gegensatz zu Halil Ibrahim Dinçdag. Der ist auch Schiedsrichter und tatsächlich homosexuell. Seit 2009 darf er deswegen nicht mehr arbeiten. In der vergangenen Woche war er zu Gast in Deutschland. Er pfiff ein Freundschaftsspiel und nahm an öffentlichen Diskussionen teil. Er machte eine Geschichte bekannt, über die viele Fußballfans außerhalb der Türkei bislang kaum etwas gewusst haben.
Dinçdag leitet ein Freundschaftsspiel in Berlin
Am Sportplatz der zweiten Mannschaft von Türkiyemspor Berlin ist an diesem Dienstagabend einiges los. Das Team spielt heute, am 8. April, gegen Tennis Borussia Berlin. Die Tribüne füllt sich langsam und wird dabei von zwei Kamerateams gefilmt. Es ist nicht gerade warm, aber das Bier kostet nur 1,50€ und es gibt Sucuk im Brot. Niemand ist wegen der Mannschaften gekommen. Alle warten nur auf einen: den Schiedsrichter.
Und als dieser kleine, bärtige Mann auf das Spielfeld tritt, könnte man die Stille spüren, wenn da nicht gerade die letzten Klänge von „Schwule Mädchen“ erklingen würden und die Tribüne anfängt, Glitzerkanonen und buntes Kreppband aufs Spielfeld zu werfen. Später wird er sagen, dass es ihn in diesem Moment sehr viel Kraft gekostet hat, nicht loszuheulen. Und er wird auch erzählen, dass er keine Ahnung hatte, dass seine drei Linienrichter ebenfalls homosexuell sind.
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Bernd Schulz, Präsident des Berliner Fußballverbandes steht am Spielfeld und friert. Sein Schnurrbart verliert sich fast in dem Stehkragen seiner Jacke. Er muss gleich noch woanders hin, über die Ankunft von Dinçdag hätte er zu kurzfristig erfahren. So geht es vielen hier. Die meisten Zuschauer wissen erst seit einer Woche, wer Halil Ibrahim Dinçdag überhaupt ist.
Vielleicht wäre es vor fünf Jahren anders gewesen. Vielleicht hätten damals mehr Leute seinen Namen gekannt und seine Geschichte. Damals pfiff Dinçdag recht erfolgreich in diversen türkischen Regionalligen, er hatte einen Nebenjob bei einem Radiosender in seiner Heimatstadt Trabzon, und er führte ein glückliches Leben im Kreise seiner Familie.
Dinçdag war damals so gut, dass er ohne weiteres als Erstligaschiedsrichter hätte arbeiten können. Er träumte von Europa und internationalen Turnieren. In der Türkei erfordert dieser Karrieresprung allerdings die Absolvierung des Militärdienstes. Als er im Oktober 2008 eingezogen wurde, erzählte er den Ärzten von seiner Homosexualität, und diese musterten ihn wegen „psychosexueller Störungen“ prompt wieder aus.
Ein TV-Interview war Dinçdags Tod
Kurze Zeit später verlangte der Schiedsrichterverband seine militärischen Unterlagen und sah, dass er aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert worden war. Danach berichtete die türkische Presse, zunächst anonym, von einem homosexuellen Schiedsrichter, „der seine Pfeife wiederhaben will“. Dinçdag war davon überzeugt, nichts Falsches getan zu haben und wendete sich nun seinerseits an die Presse. Sein Coming-out in einer bekannten Sportsendung im türkischen Fernsehen war der Tag, an dem Halil Ibrahim Dincdag starb. „Als sie anfingen, über mich zu schreiben, fiel ich ins Koma. Der Tag des TV-Interviews war mein eigener Tod. Alles hat sich seitdem geändert“, sagt er.
Bernd Schulz ist inzwischen gegangen. Zum Abschied sagt er noch etwas, was in den nächsten Tagen noch viele Diskutanten bemerken werden: Dass es der FIFA meist nur um den Kampf gegen Rassismus geht, aber nicht unbedingt für Akzeptanz und Toleranz im allgemeinen.
Medienrummel um Halil Ibrahim Dincdag
Torsten Siebert von der Initiative „Fußballfans gegen Homophobie“ erzählt, wie viele Interviews Dinçdag in den 72 Stunden Berlin absolvieren wird. „ZDF und Sky waren schon da. Die Morgenpost, Hürriyet und irgendein türkischer Fernsehsender, die taz, der Tagesspiegel und die Süddeutsche. Auf einmal kommen sie alle.“
Auch wenn das Interesse erst jetzt kommt, freut es Siebert natürlich. Schließlich hat es anderthalb Jahre und vier Anläufe gebraucht, bis dieses vermeintlich kleine Freundschaftsspiel stattfinden konnte. Einen arbeitslosen, ledigen, jungen Türken nach Deutschland einreisen zu lassen, schien lange unmöglich.
Doch irgendwann habe es eben doch geklappt, und dann ging alles sehr schnell. Anfang April 2014 ist Dinçdag zum ersten Mal in seinem Leben im Ausland. Vor allem die Berliner Presse empfing ihn gerne. Vielleicht weil sie es leid war, von gesichtslosen Kämpfen für mehr Menschrechte, Gerechtigkeit und Anerkennung in der Türkei zu berichten. Dinçdag gibt diesem Kampf für mehr Gerechtigkeit gerne sein Gesicht, aber letzten Endes will er einfach nur wieder als Schiedsrichter arbeiten dürfen, Menschenrechte hin oder her.
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Nach den Spielen in Sotchi, dem Coming-out Thomas Hitzlspergers Anfang des Jahres und diversen amerikanischen Collegesportlern, die kurz vor Beginn ihrer echten Profikarriere den Schritt zum Coming-out wagten, wirkt Dinçdag fast wie ein mutiger Trendsetter, der 2009 schon darüber sprechen wollte, dass auch Sportler homosexuell sein könnten.
Doch die Türkei ist nicht gleich der Rest der Welt. Denn während in diesem Spiel Linienrichter mit Regenbogenflaggen arbeiten und kantige Fußballer mit dem Logo des deutschen Lesben- und Schwulenverbands (LSVD) auf der Brust Tore schießen, darf Dincdag in seinem Heimatland nichts. Er darf nicht arbeiten, nicht einmal als Tellerwäscher, er ist unehrenhaft aus dem Militär entlassen worden, und die mediale Aufmerksamkeit hat ihm zu zweifelhaftem Ruf verholfen. Man kennt ihn in Istanbul, die Stadt, in die er flüchten musste, als die Morddrohungen und Anfeindungen in Trabzon zu viel wurden. Auch wenn er die erste Zeit in Istanbul obdachlos war, ist er inzwischen nicht mehr ganz allein. Eine Beziehung hat er bis heute allerdings noch nie geführt.
„Soll ich sagen, dass es in Deutschland nicht viel besser ist?“
Es ist Halbzeit am Platz von Türkiyemspor II in Berlin-Kreuzberg, und die Luft ist voll von selbstgedrehten Zigaretten, Sucuk und Glitzerkonfetti. Es steht 3:0 für Tennis Borussia und die Menschen sind zufrieden. Unter ihnen sind auch Christian und Johannes, beide passionierte TeBe-Fans. Sie erklären, warum sie Dinçdag unterstützen und was das Besondere an der TeBe-Fankultur ist. Es gehe bei ihnen viel um Menschenrechte, Fairness, Toleranz und auch Nazis. Es gehe aber auch um das „Feeling am Platz“, und das sollte „politisch angenehm“ sein. „Wenn Heterosexuelle von Heterosexuellen gepfiffen werden, und Heterosexuelle dabei zugucken und dann Schwuchtel schreien, wenn sie unzufrieden sind, dann ist das vor allen Dingen erst mal scheiße.“
Wenn Homophobie auch in Deutschland gegenwärtig ist, warum dann jemanden aus der Türkei einladen, um ein Zeichen zu setzen? Jörg Reinert, Geschäftsführer des LSVD und Aufsichtsratsmitglied von Türkiyemspor, grinst. „Soll ich jetzt sagen, dass es in Deutschland nicht viel besser ist? Dass wir genauso wenige offen homosexuelle Sportler haben? Klar haben wir unsere eigenen Probleme, aber der Unterschied ist, dass die Sportler hier wenigstens vor dem Gesetz schwul sein dürften.“
Später am Abend erscheinen die ersten Zeitungs- und TV-Berichte. Dort wird von Gesetzesverstößen in der Türkei berichtet und vom türkischen Schiedsrichter, der in seinem Land nicht arbeiten darf, weil er homosexuell ist. In einem zweiminütigen „heute“-Bericht kann man auch die deutschen Zuschauer sehen, die den armen türkischen Mann und die Zustände in seinem Land bemitleiden.
Halil Ibrahim Dinçdag ist aber kein Mitleidsopfer. Er muss nicht an die Zustände in der Türkei erinnert werden, die kennt er. Er ist ein berufstätiger Mann gewesen, doch er darf das nicht mehr sein. Der Unterschied zu all den nicht offen lebenden Homosexuellen ist, dass Dinçdag sein Coming-out in einem Land hatte, in dem nicht einmal annähernd die gleichen Rechte wie in Deutschland herrschen. Das verdient zunächst einmal Respekt – und nicht Mitleid.
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Mit Mitleid kann der Schiedsrichter sowieso nichts anfangen. Er gibt sich hier nicht als gebrochener Mann. Er will diese Tage genießen. Seinen Gesprächspartner schaut er in die Augen, er scherzt mit ihnen, lacht mit ihnen, nimmt sie manchmal in den Arm, und die ehrenamtliche Übersetzerin Elvan Aktürk, selbst Spielerin bei Türkiyemspor und angehende Abiturientin, triezt und piekt er am laufenden Band
Einen Tag später, 9. April, findet im Abgeordnetenhaus von Bündnis 90/Die Grünen der jährliche Regenbogenempfang statt. Dinçdag steht hier zwischen den „Schwestern der Perpetuellen Indulgenz“, einer weltweit agierenden Gemeinschaft von Menschen aller sexuellen Orientierungen, Identifikationen und Geschlechter. Sacha König von „Fußballfans gegen Homophobie“ und Christian Rudolph vom LSVD empfangen ihn. Rudolph hat sich wiederholt dafür eingesetzt, dass Dinçdag nach Deutschland kommen kann. Nun holt er schnell Bier für alle und Tee für Dinçdag. Er trinkt keinen Alkohol, nicht aus religiösen Gründen, auch wenn er stark gläubiger Moslem ist, sondern eher aus gesundheitlichen – er ist ja immer noch Sportler.
Auch die ehemalige Grünen-Vorsitzende Claudia Roth ist gekommen. Sie spricht von Empathie, der Todesstrafe für Homosexuelle und wie tief sie berührt sei, dass Halil Ibrahim Dinçdag heute da ist, um die Türkei zu repräsentieren. Nicht Erdogan, sondern er sei die Türkei. Dinçdag hört seinen Namen und blickt auf. Claudia Roth nennt ihn einen Helden.
Schließlich ist die Türkei immer noch ein Land, in dem die häufigste Todesursache für Homosexuelle Mord ist – und dabei nicht selten durch die eigenen Eltern. Es ist deshalb umso bewundernswerter, dass Dinçdag den Rückhalt seiner Familie hat. Dann erzählt er von seinem Traumspiel, Besiktas gegen Fenerbahçe, das Istanbuler Derby, ein volles Stadion, und er als Leiter der Partie. Auch Real Madrid gegen den FC Barcelona wäre toll. Einmal im Bernabeu oder Camp Nou auflaufen – das wäre das Größte.
Einen Tag später, 10. April, im „Tristeza“ in Berlin-Neukölln. Die Kneipe versteht sich selbst als ein Teil linker und außerparlamentarischer Infrastruktur. Ihr Trinkgeld spendet sie an emanzipatorische Projekte. Es gibt Bier für 1,60 Euro, und an einem Zeitschriftenhalter jede Menge Broschüren, Fanzines und Flyer von linken Initiativen. Hier soll nun am letzten Abend von Dinçdags Berlin-Reise eine Podiumsdiskussion stattfinden.
Dinçdag kämpft gegen den Fußballverband
Dinçdag erzählt in der Kneipe, dass es in einem Land, in dem die Nationalhymne vor jedem Ligaspiel gespielt wird, nicht einfach sei, sich mit Fußballfunktionären anzulegen. Der Schiedsrichter tat es dennoch und verklagte kurzerhand den Fußballverband TFF. Dieser hatte nach Sichtung der Militärunterlagen eine offizielle Erklärung für Dinçdags Entlassung ausgegeben. Darin hieß es, er sei „nicht fit“ und ohnehin ein unbegabter Unparteiischer gewesen.
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Dinçdags erster Anwalt wurde vom Verband der Schiedsrichter gestellt, sein zweiter von der Bürgerrechtsorganisation LAMBDA. Inzwischen suchen die Anwälte ihn auf, weil sie freiwillig an dem Fall arbeiten möchten. Sie wittern eine Jahrhundertentscheidung. Dinçdag geht es aber nicht um Ruhm, er erwartet eine angemessene Entschädigung für seinen zerstörten Ruf und sein zerstörtes Leben. Er hätte kein Problem damit, bis zum Europäischen Gerichtshof zu gehen.
„Das ist ein Clown, und ein schlechter noch dazu“
Dinçdag wird auch auf das bekannte Youtube-Filmchen von Clésio Moreira dos Santos angesprochen. Zum ersten Mal in diesen Tagen verdunkelt sich seine Miene. Er kenne das Video, sagt er, doch er verstehe es nicht. „Das ist nicht Homosexualität. Das ist ein Clown, und ein schlechter noch dazu. Das ist beschämend.“
Er erfährt, dass die Figur unter anderem auf dem Schiedsrichter Jorge José Emiliano dos Santos basiert, der 1995 an AIDS starb. Was die Sache nicht besser macht. „Dieser Mensch würde es sich nicht trauen, so etwas zu spielen, wenn seine sogenannten Vorbilder in der Nähe wären“, sagt Dinçdag.
Wenige Minuten später beginnt die Podiumsdiskussion, und während Dinçdag ein „Gu-ten A‑bend“ in das Mikro lacht, stößt ein Mann an den Tisch seiner Freunde und fragt, was denn da heute Abend veranstaltet wird. „Keine Ahnung, irgendwie Schwule in der Türkei. Aber wen interessiert’s?“