90 Minuten lang schien es, die Romanze um Atalanta Bergamo würde gegen Paris Saint-Germain ihre Fortsetzung finden. Dann kam Eric Maxim Choupo-Moting. Und schrieb eine fast noch bessere Geschichte.
Vielleicht sind sich Fußballfans und Anhänger von Rosamunde-Pilcher-Filmen ähnlicher als sie zuzugeben bereit wären. Beide mögen es, unterhalten zu werden. Beide lieben den Kitsch. Und beide lieben klare Rollenverteilungen. Die Guten, das sind bei Rosamunde Pilcher die aufrechten und edlen Ärzte und Rosenzüchter, die tapfer um das Herz ihrer plötzlich wieder aufgetauchten Jugendliebe kämpfen. Die Bösen, das sind die intriganten Stiefschwestern und ruchlosen Onkel, die nur ihren eigenen Erfolg im Blick haben und das junge Glück zu torpedieren zu versuchen.
Die Guten, das waren im Champions-League-Viertelfinale am Mittwochabend die Spieler von Atalanta Bergamo. Gekommen aus einer Stadt, die wie nur wenige andere vom Coronavirus gebeutelt ist, hatten sie sich in dieser Saison aufgemacht, die Herzen der Fußballfans zu erobern. Mit begeisterndem Offensivfußball. Mit Spielern, die anderswo schon gescheitert waren. Spieler mit Profil. Draufgänger wie Robin Gosens, Spaßvögel wie Marten de Roon oder Papu Gomez. Mit Fans, die dabei halfen, mitten in der Stadt ein Krankenhaus aus dem Boden zu stampfen, als die Pandemie am heftigsten wütete.
Der Bösewicht, das war an diesem Abend Paris Saint-Germain. Finanziert von Mächten aus Katar, der Kader künstlich aufgepimpt durch aberwitzige Millionentransfers wie Kylian Mbappé (145 Millionen Euro) oder Neymar (222 Millionen Euro). Insbesondere Letzterer geht vielen Fußballfans mittlerweile gehörig auf den Geist, weil er gerade auf internationaler Bühne gerne zeigt, dass er die zuweilen etwas hölzernen Schauspiel-Darbietungen in den Pilcher-Verfilmungen problemlos überbieten kann.
Jener Neymar war es dann auch, der in der Episode vom Mittwochabend eine Sonderrolle einnehmen sollte. Zwar gelang es ihm während des Spiels immer wieder, sich mit Dribblings seiner Gegenspieler zu entledigen (16 erfolgreiche Dribblings, Rekord in dieser Champions-League-Saison). Doch vor dem Tor scheiterte er wiederholt in fast schon grotesker Art und Weise.
Auf der anderen Seite hingegen schlenzte Mario Pašalić den Außenseiter aus Bergamo lässig in Führung. Alles lief nach Drehbuch. Alles lief tatsächlich darauf hinaus, dass Atalanta bei der ersten Champions-League-Teilnahme überhaupt ins Halbfinale eindringen würde. Selbst als PSG in der zweiten Halbzeit den Druck mehr und mehr erhöhte: Die wackeren Kämpfer aus der Lombardei stemmten sich dagegen mit allem was sie hatten, sie liefen, so weit sie ihre müden Füße trugen.
Doch dann kam die 90. Minute. Dann kam Eric Maxim Choupo-Moting.
Erst wenige Minuten zuvor hatte Thomas Tuchel den Stürmer eingewechselt. Und nun, in der letzten Minute der regulären Spielzeit schlug dieser mittlerweile auch schon 31-jährige Teilzeitarbeiter eine Flanke aus dem Halbfeld. Neymar legte quer, Marquinhos vollendete, Paris blieb am Leben.
Doch den Regisseuren dieses Abends war das noch lange nicht genug. Nur drei Minuten später war es erneut Neymar, der mit einem perfekt dosierten Pass den ebenfalls eingewechselten Mbappé in Szene setze. Und der sah in der Mitte: natürlich Eric Maxim Choupo-Moting. Der Stürmer brauchte den Ball nur noch über die Linie drücken, um zum Helden von ganz Paris zu werden.
Und weil Fußballfans wie Medien eben auf gute Geschichten stehen, sind die Zeitungen und das Internet an diesem Mittwoch voll mit Geschichten über Eric Maxim Choupo-Moting. Über einen, der mal ein ziemlich hoffnungsvolles Talent war, der aber bei seinen bisherigen sechs Stationen im Profifußball nie wirklich nachhaltig überzeugte, sodass er stets ablösefrei zum nächsten Verein zog. Natürlich erzählen sie noch einmal die Geschichte mit dem Faxgerät, die Choupo-Moting immer ein bisschen blöde dastehen lässt, obwohl er selbst dafür gar nichts kann. Sie erzählen aber auch, wie Thomas Tuchel den Stürmer nach dem Premier-League-Abstieg mit Stoke City im Sommer 2018 nach Paris holte, weil er ihn schon aus gemeinsamen Mainzer Zeiten kennt und eben weiß, was er an ihm hat: einen zuverlässigen Back-up, groß gewachsen, physisch aber auch technisch stark. Dessen Vertrag bei PSG eigentlich schon ausgelaufen war und der nur in den Champions-League-Kader rückte, weil Edinson Cavani keine Lust mehr hatte. Und der nun dafür sorgte, dass die Champions-League-Trophäe, seit dem Einstieg der katarischen Investoren oberstes Ziel, erstmals auch tatsächlich in greifbare Nähe rückt.
Dabei hatten die Finanziers doch eigentlich Neymar oder Mbappé für diese Rolle vorgesehen, allein schon um die monströsen Ablösen irgendwie zu rechtfertigen. Doch den beiden Königstransfers blieb in dieser 93. Minute nichts anderes übrig, als freudestrahlend auf einen 31-Jährigen zuzustürmen, der das Fußballspielen beim FC Teutonia 05 Ottensen begonnen hatte, und diesen zu seiner Heldentat zu beglückwünschen.
Der Brasilianer Neymar, immerhin auch maßgeblich an beiden Toren beteiligt, spielte auch dem Schlusspfiff beim Rollenwechsel weiter artig mit. Die Auszeichnung für den „Spieler des Spiels“ reichte er sogleich an Choupo-Moting weiter. Und sogar die Sportzeitung L’Equipe, die eine unglückliche Aktion des Stürmers mal als „schlimmsten Fehlschlag in der Geschichte“ bezeichnet hatte, kroch zu Kreuze und schlagzeilte am Donnerstagmorgen: „Chapeau Moting!“
Ein bisschen schade ist es ja schon um die Geschichte von Atalanta Bergamo. Denn auch sie hätte ein kitschiges Happy End verdient. Aber, und das wusste schon Rosamunde Pilcher, die Leute haben eben eine ganz besondere Vorliebe für persönliche Schicksale. Und so erfreuen sie sich heute eben an der Heldengeschichte von Eric Maxim Choupo-Moting. Oder um es mit den Worten der Schriftstellerin zu sagen: „Das Leben anderer Menschen ist immer faszinierend.“