Die Curva Nord von Atalanta Bergamo engagierte sich sozial, sammelte Gelder für Obdachlose und baute Schulen in Afrika. Gleichzeitig kämpfte sie jahrzehntelang mit der Justiz. Jetzt hat sie sich aufgelöst. Über eine besondere Ultraszene und ihren Capo.
Grimmig der Blick, drei Tage der Bart. Unter seinem Bandana, das um den Kopf gebunden ist, liegen unsortiert die langen braunen Haare, manche fransen über die Augen. Das Kreuz wie ein Schrank, Oberkörper und Hals zieren vereinzelte Tattoos. Seine Augen haben Tiefe und eine kindliche Unbekümmertheit, aber auch etwas Trauriges. Auf Fotos sieht Claudio Galimberti verlebt aus, wie ein Rockstar im Ruhestand.
Galimberti war Atalanta und Atalanta war Galimberti. Nichts hätte den Verein, die Ultras und die lombardische Stadt besser beschreiben können als ihr Capo, den sie hier Il Bocia (der Junge) nennen. Denn diese Ambivalenz, die sein Gesicht zeichnet, die trug auch die Curva Nord, Atalantas Ultraszene, in sich. Nun hat sich die Gruppierung aufgelöst.
Wie kann man fliegende Pflastersteine auf die Gegner und Spenden für Schulen in Ruanda unter dieselbe Flagge stecken? Atalantas Ultras waren stets ein Reizthema für die italienische Justiz und gleichzeitig Initiatoren unzähliger sozialer Projekte. So verhasst sie bei der Staatsmacht waren, so sehr respektierten die Bergamaschi, Bergamos Einwohner, ihre Ultras und deren Kopf, Claudio Galimberti. Er war einer der letzten wahren Capotifosi der alten italienischen Schule. Und tat mehr als die meisten für die Stadt, muss sich aber gleichzeitig seit Jahren mit der italienischen Justiz herumschlagen.
Es sei wie eine Droge, sich mit einem verfeindeten Ultra zu schlagen, hat Galimberti mal in einem Interview gesagt. Dabei geschehe das nicht aus Hass, mehr aus Respekt. Irgendwo zwischen seinen Schlägen und denen, die ihn treffen, vermute er eine Loyalität. Denn jeder kämpfe unter gleichen Bedingungen, jeder zolle dem Gegenüber den gleiche Respekt. Bis einer fällt.
Claudio Galimberti ist 47 Jahre alt. Er, der Gärtner, war es, der die verstreuten Ultragrüppchen Atalantas um die Jahrtausendwende zur Curva Nord, einer Gemeinschaft, formte. Wegen eines provozierten Spielabbruchs gegen den AC Mailand 2007, Ausschreitungen rund um das Spiel Atalanta gegen Catania Calcio 2009, sowie Randalen wegen der Einführung von „La Tessera Del Tifoso“, einer Art Fan-Pass für personalisierte Tickets, bekam Galimberti in einem Prozess 2011 fünf Jahre Stadionverbot. Die Staatsanwaltschaft forderte seinerzeit gar mehrjährige Haftstrafen gegen ihn und andere Mitglieder, weil die Curva Nord Strukturen einer „kriminellen Vereinigung“ aufgebaut hätte. Nachweisen konnten das allerdings niemand.
In den Folgejahren sah er die Atalanta-Spiele von „Rocca“ aus, einer Festung am höchsten Punkt Bergamos. Es ist der Treffpunkt für Bergamos Stadionverbotler. Von dort konnte Galimberti zwar nur eine Hälfte des Spielfeldes im Atleti Azzuri d’Italie, der Heimstätte Atalantas, sehen, aber das reichte, um die Banner, die seine Brüder auf der Curva Nord für ihn präsentierten, zu erspähen: „Claudio libero“, Freiheit für Claudio. Außerdem konnte er hier oben Alkohol trinken, was im Stadion nicht erlaubt war. Und er konnte die Curva Nord hören, wenn der Wind günstig stand und die Gesänge auf die 373 Meter Höhe in seine Ohren schleppte.
Und obwohl er die fünf Jahre Stadionverbot längst abgesessen hat, durfte Galimberti bis heute kein Stadion besuchen. Irgendwann wurde ihm verboten, in der Provinz Bergamo zu leben, einige Jahre später dann verhängte die Staatsanwaltschaft eine dreijährige Sonderüberwachung gegen ihn. Nun durfte er die Stadt nur noch mit polizeilicher Erlaubnis verlassen. Eine Strafe, die Tätern gilt „die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen.“ Strafen, die nie zuvor gegen einen italienischen Fußballfan verhängt wurden.
Immer wieder missachte er die Auflagen, ließ die Justiz verlauten. So reiste er 2018 mit nach Dortmund zum Europa-League-Spiel, das er in einer Kneipe in der Stadt schaute. Ferner habe er sich einmal neben das heimische Stadion gesetzt, als UC AlbinoLeffe spielte, ein kleines Team aus Bergamo, das in der Serie C kickt. Nur um seiner Curva Nord mal wieder nahe zu sein.
Es wirkt, als hätte man sich auf Bergamos Polizeistation ein Versprechen gegeben. Eins, das Il Bocia nie wieder erlaubt, ein Fußballstadion von innen zu sehen. Laut einigen italienischen Medienberichten muss er seit Jahren mitunter willkürliche Hausdurchsuchungen, Maßnahmen und Urteile durchstehen.
Wie groß die Anerkennung für diesen Mann ist, zeigen die Solidaritätsbekundungen, die Galimberti seit Jahren erhält. Regelmäßig finden Protestaktionen der Ultraszenen in ganz Italien statt. Ex-Spieler und Funktionäre, Pfarrer, ganze Mannschaften oder Giorgio Sandri, Vater des durch einen Polizisten 2007 getöteten Lazios-Ultras Gabriele, zeigten sich solidarisch mit Galimberti.
Sie alle hatten irgendwann in den letzten Jahren von Hilfs- und Spendenaktionen der Curva Nord profitiert. Auch Antonio Conte, einst Atalanta-Coach, habe in einer Nachricht seine Solidarität mit Galimberti bekundet, wie unter anderem die Gazetta dello Sport bestätigte. Und sogar Brescia Calcio zeigte ein Banner in der Kurve mit den Worten „Nemico leale, Boci non mollare!“ – Bocia, unser loyaler Feind, gib nicht auf! Brescia ist der größte Rivale Atalantas.
„Wenn die Roma Francesco Totti, Juventus Alessandro Del Piero und Milan Paolo Maldini hat, dann hat Atalanta Claudio Galimberti.“
Der Journalist Martino Simcik beschrieb es in der „Derby Days“-Episode zum Lombarden-Derby von Copa90 so: „Wenn die Roma Francesco Totti, Juventus Alessandro Del Piero und Milan Paolo Maldini hat, dann hat Atalanta Claudio Galimberti.“
Woher aber kommt diese Anerkennung für einen Mann, der davon spricht, es sei eine Droge, anderen Männern die Fäuste ins Gesicht zu drücken?
Unter der Regentschaft von Il Bocia organisierte die Curva Nord jahrelang Aktionen zur Obdachlosenhilfe, unterstützte Einrichtungen für Drogenabhängige, sammelte Spendengelder für von Erdbeben betroffenen Regionen oder Schulen in Ruanda. In Zeiten der Corona-Krise halfen die Ultras dabei, ein provisorisches Feldkrankenhaus hochzuziehen.
Außerdem veranstaltet die Curva Nord jährlich eine große karnevalsähnliche Party in den Straßen Bergamos – „La Festa della Dea“, das Fest der Göttin. Dort gibt es Konzerte, Umzüge, Neuzugänge werden präsentiert, aktuelle Atalanta-Spieler so wie Ex-Spieler sind zugegen, Ultras der Curva Nord wie Fans außerhalb der Szene kommen zusammen. Und das gesammelte Geld wird an gemeinnützige Projekte gespendet.
Ihrem sozialen Engagement stehen fortlaufend Ausschreitungen, Provokationen und Gerichtsprozesse gegenüber. Beim „Festa della Dea“ 2013 hatten die Ultras einen amerikanischen Weltkriegspanzer organisiert, mit dem sie über zwei Autos in den Farben der verfeindeten Vereine Brescia Calcio und AS Roma rollten. 2017 randalierten sie auf einer Auswärtsfahrt in Liverpool, was zehn Anzeigen nach sich zog, davon acht gegen Fans von Eintracht Frankfurt, die eine Fanfreundschaft zur Curva Nord pflegen.
So klar die Strukturen innerhalb der Gruppierungen sind, so formlos ist die Logik des Ultra-Daseins, so strikt den Regeln und dem Kodex im Inneren des Kreises zu gehorchen ist, so anarchisch ist das Auftreten in der Öffentlichkeit. „Jemand, der kein Ultra ist, wird es nie verstehen“, hat Galimberti vor ein paar Jahren gesagt.
Strukturiert und formlos. Gehorsam und anarchisch. Selbstlos und kriminell. Das ist, das war der Spannungszustand der Curva Nord.
Zu viele Ultra-Gruppierungen, gerade im Norden Italiens, seien mittlerweile von kriminellen Gangs übernommen worden, findet ihr Capo Galimberti. Hier in Bergamo werde das nicht geschehen. „Selbst wenn wir schlechte Entscheidungen treffen, sollen unsere Mütter noch stolz auf uns sein“, sagt er in James Montagues Buch 1312 – Among the Ultras. Für Bergamos Ultraszene ist die Gewalt gleichermaßen ein Antrieb wie die Einfühlsamkeit. Irgendeine soziale Idee drängt sich immer wieder zwischen die Fäuste.
Ohne Gewähr: Aber Claudio Galimberti hat in seinem Leben mit Sicherheit ein paar Nasen gebrochen. Er hat sogar wirklich mal einen Schweinekopf auf einen Polizisten geworfen. Er beteuert aber auch, nie etwas mit Drogen, organisierter Kriminalität oder Politik zu tun gehabt zu haben. Es sei immer nur um Atalanta gegangen. Alles, was er tat, sollte Atalanta größer, stärker und schöner machen. „Und damit bin ich noch nicht fertig.“
In der schlimmsten Phase der Pandemie, als Bergamo sich zum Corona-Epizentrum in Europa entwickelt hatte, hat Galimberti einen Brief geschrieben, adressiert an Atalantas Präsidenten Antonio Percassi. Sein Herz weine, wenn er sehe, wie das Militär die Leichen der Corona-Pandemie aus der Stadt bringe und zeitgleich darüber diskutiert werde, wann der Spielbetrieb in der Serie A wieder aufgenommen werde. Es war ein Flehen, die Saison zu beenden. Es war als würde er seine Curva Nord im Kampf gegen Brescias Ultras bitten, aufzuhören.
Kaum jemand in dieser Stadt liebt den Verein und die Provinz so sehr wie Il Bocia, der Junge aus Bergamo. Aber zum ersten Mal in seinem Leben hatte er erkannt, dass es etwas Größeres als Atalanta gibt.
Gut anderthalb Jahre später hat die Curva Nord um ihren Capo den Spielbetrieb selbst eingestellt. Die Ultra-Gruppierung existiert nicht mehr. Galimberti ist es verwehrt geblieben, sich von seinem Lebensauftrag zu verabschieden. Über Gründe der Auflösung ist öffentlich nichts bekannt. Die Curva Nord hat bloß ein Statement abgesetzt, indem sie etwas kryptisch davon spricht, alles sei heute falsch und heuchlerisch, Werte und Gedanken würden auf den Kopf gestellt. Und jahrzehntelange Repressionen durch die Polizei hätten zum Ziel gehabt, die Welt der Ultras eliminieren zu wollen.
Am Ende der Stellungnahme heißt es noch, die größte Niederlage sei es, Claudio Galimberti nicht zurück ins Stadion gebracht zu haben. Ihn, den bergamaskischen Gärtner.