Best of 2022: Tommi Schmitt spricht über seinen Herzensklub Gladbach, öffnet seinen Trikotschrank und erklärt, was im Fußball noch wirklich wichtig ist.
Hallo, Herr Schmitt. Hallo?
(Unverständliches.)
Herr Schmitt? Hallo??
(Räuspern.) ’Tschuldigung, meine Stimmbänder. Sie müssen wissen: Ich war am vergangenen Wochenende im Stadion – Bayern gegen Gladbach und klinge seit fünf Tagen wie Walter Frosch nach ‘ner Turnierpackung West Light. Als Thuram das 1:0 geschossen hat, bin ich brüllend durch den Gästeblock gewirbelt worden und beinahe im kultigen Telekom‑T gelandet. Dieser Torjubel und dieses Spiel waren „anders wild“, wie wir BRAVO-Sport-Leser sagen.
Ihre Borussia spielte 1:1. Ein beachtliches Ergebnis gegen die Bayern.
Dafür liebe ich diese Sportart. 75.000 sehen ein Spiel auf ein Tor, aber der Underdog geht in Führung. Das gibt es eigentlich nur im Fußball, weil innerhalb von 90 Minuten sehr selten Punkte erzielt werden. Durchschnittlich geht ein Bundesligaspiel 1:1 aus. Zwei Tore innerhalb von eineinhalb Stunden. Deshalb kommt es immer wieder zu Überraschungen. Real Madrid kann theoretisch gegen einen Fünftligisten verlieren. Das wird im Handball nicht passieren. Das gibt’s auch nicht in der Formel 1, nicht in der NBA, nicht in der Leichtathletik, vor allem nicht im Tennis. Und das ist der Grund, warum Fußball die Massen so anzieht, dieses Ungeplante. Es sind die Nuancen, das Unfaire, die Ähnlichkeit zum Leben. Es ist Theater, Soap, Wunder, Tragödie. Und deshalb ist meine Stimme auch so, wie sie gerade ist.
Gladbach hat ohnehin einen guten Saisonstart erwischt, oder?
Der Spaß ist zurück. Und das durch Kampf erarbeitete Glück. Denn natürlich spielen wir größtenteils endlich wieder richtig gut, aber zur Wahrheit gehört auch: unsere Gegner bekommen Platzverweise, wir bekommen Elfmeter zugesprochen und Yann Sommer hält gegen Hertha BSC und in München fantastisch. Wenn diese Faktoren gegen dich laufen würden, kannst du noch so gut spielen, dann bist du chancenlos. Dazu haben wir in Ko Itakura den japanischen Beckenbauer verpflichtet, der in einer unglaublichen Seriosität alles und jeden wegverteidigt. Eine Sekunde länger und er hätte in der Allianz-Arena die Klimaprotestler vom Pfosten losgebissen, jede Wette. Super Verpflichtung. Genau wie der neue Coach.
„Gladbach braucht jemanden wie Farke. Jemanden, der den Emotions-Defibrillator ansetzt.“
Daniel Farke.
Es ist schon interessant, was ein einzelner Mensch ausmachen kann. Ich liege wirklich sehr oft falsch in meinen Prognosen und Wünschen, aber ich habe schon im vergangenen Jahr einem Kumpel geschrieben, dass Gladbach jemanden wie Farke braucht. Jemanden, der den Emotions-Defibrillator ansetzt und vom Fanshop bis zur Geschäftsführung für Aufbruchsstimmung sorgt. Sind Sie im Online-Dating firm?
Kein Kommentar.
Ich selbstverständlich auch nicht. Aber ich versuch‘s mal so: Nach der toxischen Fremdgeherei von Marco Rose und dem anschließenden Liebeskummer und Missverständnis mit Adi Hütter, daten wir nun jemanden, der uns gerade einfach mal gut tut.
Verstehe.
Dieser Typ „Shrek“. Eine furchteinflößende Erscheinung mit der Stimme der jungen Jeannette Biedermann: herrlich! Wenn jemand sensibel ist, über Einfühlungsvermögen und Oberarme wie ein Braunkohlebagger verfügt, kommt das einfach an. Bei den Spielern, bei den Fans, bei den Medien. Er ist ein Glücksgriff.
Sie sind ja regelrecht verliebt!
Mir gefällt einfach, dass er in etwa wieder den Gladbacher Fußball spielen lässt, den Lucien Favre vor zwölf Jahren implementiert hat: Ballbesitz, ein bisschen Lauern und geduldig sein. Ein wenig wie die Deutsche Nationalmannschaft in den guten Zeiten unter Joachim Löw. Nicht dieser lästige Versuch, den FC Liverpool zu imitieren, nein. Wenn du gegen Gladbach spielst, weißt du, die haben erstmal den Ball. Das mag ich, weil da etwas erkennbar ist. Und das ermöglicht auch endlich wieder sachlicheren Mittelfeldspielern wie Christoph Kramer, dem deutschen Toni Kroos, ballverteilend den Takt anzugeben. Und zu Julian Weigl passt das auch ganz wunderbar.
Am 25. September findet zum sechsten Mal der Tag der Amateure statt. Seid dabei!
Es scheint, als hätten auch Sie wieder Gefallen am Fußball gefunden.
Ja, ich bin wieder in Gänze angefixt! Im vergangenen Jahr gab es keine besondere Bindung zur Mannschaft, das mit dem Trainer hat nicht so funktioniert. Dazu die zwischenzeitlichen, pandemiebedingten Zuschauerbeschränkungen. Die Saison war irgendwie nix. Jetzt ist aber alles so wie immer, die Stadien sind voll, die Liga hat zwei Traditionsvereine dazugewonnen. Das steht und fällt mit den Fans und entsprechend mit dem Umgang mit der Pandemie im Herbst. Sollte die Stadionkapazität heruntergeschraubt werden, ist die Saison für mich wieder vorbei. Ohne volle Arenen ist Fußball nur irgendeine Sportart wie jede andere. Für mich völlig uninteressant.