Oliver Kahn ist nicht nur der heißeste Kandidat auf die Nachfolge als Big-Boss bei den Bayern, sondern auch ein Revolutionär des Torhüter-Spiels. Warum er jetzt eine App an den Start gebracht hat und warum es nicht mehr „Torwart“ heißt.
Oliver Kahn, sind Sie eigentlich angetreten, die deutsche Sprache zu verändern?
Ich nehme mal an, Sie wollen darauf hinaus, dass ich häufig vom „Torspieler“ statt vom „Torwart“ spreche. Das ist aber nicht meine Erfindung, der Begriff ist unter Torwarttrainern längst gang und gäbe. Man will damit unterstreichen, dass der Torwart nicht mehr nur im Tor steht und die Bälle hält, sondern viel mehr Aufgaben hat. Die spektakulären Dinge bei einem Torwart, also etwa Reaktionen bei einem Torschuss oder Flugeinlagen, bilden nur einen kleinen Ausschnitt der Aufgaben ab.
Sie selber sind doch auch schon Torspieler gewesen.
Gott sei Dank sagt das mal einer! (lacht) Ich musste zwar auch schon mitspielen, also Spielsituation antizipieren, aber ich war noch nicht eine Art elfter Feldspieler, wie das heute immer häufiger der Fall ist. Torspieler werden inzwischen ganz natürlich ins Aufbauspiel einbezogen.
Teilen Sie den Eindruck, dass heute die spielerisch besten Torhüter auch im Mittelfeld eingesetzt werden könnten?
Ja, aber ist es ein Wunder, dass sie das können? Sie wurden in Leistungszentren grundlegend ausgebildet. Ich habe zwar auch viel trainiert, aber ziemlich häufig nicht unbedingt das Richtige. Ich habe etwa schwere Gewichte gestemmt, wusste aber gar nicht, was das genau bringt. Heute sind die Torhüter keine Figuren mehr wie Gerry Ehrmann, Bodo IIlgner, Peter Schmeichel oder ich, die ziemliche Kraftpakete waren. Heute weiß man ziemlich genau, was und wie man etwas tun muss, um besser zu werden.
Sie betreiben seit drei Jahren das Unternehmen „Goalplay“, das unter anderem Torwartschulung für Klubs und Verbände anbietet. Was lernen Sie von Ihren Experten noch übers Torwartspiel dazu?
Wir bezeichnen die beiden Head Coaches unser Academy liebevoll als den „Torwart-Tempel“. Was sie über Trainingsmethodik wissen, ist faszinierend. Dazu nutzen wir sehr viel Technologie und eine Menge an Daten. Die Entwicklung in diesem Bereich ist atemberaubend. Dadurch können wir schnell erkennen, welche Übungen einem Torspieler helfen, seine Leistungen zu verbessern.
Wo hatten Sie zuletzt ein Aha-Erlebnis?
Neulich bei einem Torwart-Kongress in Zagreb haben unsere beiden Head Coaches ein Training geleitet und die Torhüter dabei gecoacht. Sie standen direkt hinter ihnen und haben ständig Anweisungen und Korrekturen zum Positionsspiel gegeben.
Kann man sich denn überhaupt konzentrieren, wenn man ständig angesprochen wird?
Ich habe anfangs auch gedacht: Das hätte mal einer zu meiner Zeit machen sollen! Aber wir haben in den Trainerteams inzwischen eine Fülle von Spezialisten und wenn die Spieler daran gewöhnt sind und es sinnvoll ins Training integriert wird, kann das sehr hilfreich sein. Hinterher habe ich jedenfalls gedacht: die Entwicklung geht weiter!
Welche Möglichkeiten von heute hätten Sie während Ihrer Karriere gerne gehabt?
Ich war schon immer sehr technologiebegeistert und heute gibt es viele technische Möglichkeiten, die unterschiedlichsten Wearables zu nutzen, um Daten über sein Spiel zu generieren. Nehmen wir an, dass man ein Problem beim Hechten hat oder sich dabei irgendwie nicht gut fühlt. Ich hätte früher gesagt: Lass es uns noch zehnmal machen, irgendwann wird es schon wieder besser werden. Heute hingegen weiß man innerhalb von ein paar Sekunden, woran das liegt. Vielleicht setzt man seinen Auftaktschritt falsch oder es gibt ein anderes koordinatives Problem.
Was ist noch an Wissen hinzugekommen?
Es gibt erstaunlicherweise wenig sportwissenschaftliche Untersuchungen zum exakten Bewegungslauf bei den Grundtechniken des Torwartspiels. Deshalb haben wir die Bewegungsabläufe mit Highspeed-Kameras aufgenommen und analysiert. Allein um die maximale Weite beim Absprung zu erreichen, muss ein Torspieler verstehen, wie die optimale Bewegung dafür aussieht.
Woran sind Ihre Kunden besonders interessiert?
Das ist ganz unterschiedlich und hängt davon ab, ob wir es mit Vereinen, Verbänden oder anderen Organisationen zu tun haben. Beim saudi-arabischen Fußballverband sind wir von der Nationalmannschaftsebene über den Jugendbereich bis hin zum Scouting in viele Bereiche involviert. Dadurch können wir für eine langfristige kontinuierliche Ausbildung der Torspieler und deren Trainer sorgen.
Ist das Unwissen denn so groß?
Man weiß in vielen Ländern inzwischen, dass es ohne gute Torhüter schwer wird, erfolgreich zu sein. Ein gutes Beispiel dafür stellen die Chinesen dar, die sehr viel Wert auf Daten und Fakten legen. Wir haben festgestellt, dass den chinesischen Torhütern in der Qualifikation zur WM 2018 in Russland einige Fehler unterlaufen sind. Hätten sie nur einen Fehler weniger gemacht, hätte sich China für die WM qualifizieren können. Als wir den Chinesen das klar gemacht haben, haben sie gestaunt, wie wichtig der Torwart ist. Die effizienteste Art eine Mannschaft besser zu machen, ist den Torwart zu verbessern. Aber auch in großen Fußballnationen wie Brasilien hat sich das Standing der Torhüter deutlich verbessert.
Würden Sie sagen, dass es einen Stand des Torwartspiels 2019 gibt oder gibt es viele konkurrierende Schulen?
Es kursieren viele Ideen und persönliche Überzeugungen. Wir haben daher versucht, meine persönlichen Erfahrungen, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und den Wissensstand unserer Head Coaches so zu einem Konzept zu verbinden, dass man sich als Torspieler tatsächlich verbessert. Das ist unser Kernpunkt und daran wollen wir uns auch messen lassen.
Neben diesem Akademiebereich, der sich an Fußballprofis wendet, bieten Sie seit diesem Sommer eine App für den Breitensport an. Was wollen Sie damit erreichen?
Mit unserer App wollen wir vor allem die jungen Torspieler ansprechen, aber auch alle anderen Torhüter, die den Ehrgeiz haben, auch jenseits des Spitzenfußballs ihr Spiel zu verbessern. Unsere App ermöglicht es, im Amateur- und im Jugendfußball ein Trainingsprogramm passgerecht auf die jeweilige Leistungsstärke zuzuschneiden. Dazu liefern wir viel Wissen, Spaß und Trainingspakete.
Ist das nicht eine relativ kleine Nische?
Wir betrachten diese Nische sehr global. Wir sehen vor allem in China, wo die Lernbereitschaft mit Hilfe von E‑Learning und technologischen Hilfsmitteln stark ausgeprägt ist, spannende Möglichkeiten. Auch in den USA tut sich viel – nicht zuletzt, weil die Amerikaner eine große Affinität zu Wearables und Apps haben. Wir profitieren natürlich auch davon, dass das Ansehen deutscher Torhüter in der Welt sehr hoch ist.
Haben Sie eigentlich eine Erklärung dafür, warum es in Deutschland eine so lange Tradition herausragender Torhüter gibt?
Die Frage habe ich mir auch schon häufig gestellt. Ich denke, dass die Rolle der Vorbilder dabei ganz wichtig ist. Wir haben angefangen mit Toni Turek – damals wollten alle Torhüter wie er sein. Heute wollen die jungen Torhüter wie Manuel Neuer sein. Und bei mir war es so, dass ich so wie Toni Schumacher sein wollte.
— — — — — — — -
Alles über die App „Goalplay“ erfahrt ihr hier »>