Julian Baumgartlinger ist Kapitän der österreichischen Nationalelf und Leistungsträger in Leverkusen. Dennoch hat er bei vielen Bayer-Fans einen schweren Stand. Hier erklärt er, wie er damit umgeht und warum der österreichische Fußball lässiger ist als der deutsche.
Julian Baumgartlinger, Ihre Mannschaft ist mit einem 4:1‑Sieg in Paderborn gestartet, was ist für Bayer Leverkusen in der Rückrunde drin?
Ich denke, wir haben schon im Herbst ganz gut gesehen, wo die Potenziale stecken.
Aber die Leistungen waren auch bemerkenswert wechselhaft.
Es ist ein großes Thema innerhalb der Mannschaft und beim Trainerteam. Wir sind permanent auf der Suche nach dem Schlüssel zur Konstanz. Wir brauchen sehr viele Chancen, um Tore zu machen, da müssen wir besser werden. Das zehrt besonders, weil wir zugleich einen großen Aufwand betreiben, wir laufen beispielsweise in der Bundesliga mit am meisten. Es wird wichtig sein, achtsamer mit den Chancen umzugehen. Ansonsten müssen wir gar nicht so viel anders machen.
Kann man auch zu viel ändern?
Oh, ja! Wir hatten schließlich viele Momente und Spiele, die sehr gut waren. Ein Beispiel: Wir haben in der Hinrunde in Dortmund 0:4 verloren, aber als wir vom Platz kamen, hat das Ergebnis gefühlt nicht unsere Leistung widerspiegelt. Der BVB hat seine Chancen genutzt, und wir nicht.
Täuscht der Eindruck, dass es inzwischen unheimlich wichtig ist, in Führung zu gehen.
Nein, überhaupt nicht. Weil es in der Bundesliga ganz eng zugeht, können ein, zwei Aktionen im Spiel die ganze Dynamik auf dem Platz verändern. Hat ein Team dazu noch einen guten Matchplan, wird es für jeden Gegner schwer.
„Auch ich bin ein Teil des attraktiven Angriffsfußballs“
Sie haben im Winter Ihren Vertrag bei Bayer Leverkusen verlängert, werden von ihren Mitspielern und allen im Klub hoch geschätzt, haben bei einem Teil des Publikums aber einen schweren Stand. Woran liegt das?
Darüber mache ich mir nach dreieinhalb Jahren und über hundert Pflichtspielen für Leverkusen keine großen Gedanken mehr, zumal ich das persönlich auch gar nicht so wahrnehme. Natürlich agiere ich als Sechser nicht permanent im letzten Drittel und habe nicht viele Toraktionen. Bei meinen Stärken heißt es meist: läuft viel und stopft Löcher. Das ist auch so, aber wer die Position des defensiven Mittelfeldspielers im Fußball von heute beobachtet, wird sehen, dass dazu auch einige andere Qualitäten gehören.
Welche sind das?
Man muss immer anspielbar sein, ball- und passsicher, während von allen Seiten der Druck kommt. Wir wollen bei Bayer in erster Linie Ballbesitzfußball spielen, und dann ist das zentrale Mittelfeld gefordert. Es ist eine anspruchsvolle Position, die immer komplexer wird. Aber bei den Aktionen am Tor, die besonders auffallen, bin ich meist wieder in absichernder Position unterwegs.
Vielleicht gibt es einfach auch eine Vorliebe des Leverkusener Publikums für Ballkünstler?
Der Verein definiert sich schon über attraktiven Angriffsfußball, aber von dem bin auch ich ein Teil.
„Der Fußball in Österreich ist lockerer, es gibt den lässigen Schmäh“
Sind Sie eigentlich ein deutscher oder ein österreichischer Fußballspieler?
Ich bin österreichischer Fußballer, aber schon in Deutschland domestiziert. In der Jugend von 1860 München habe ich viele Freundschaften geschlossen – und bis heute behalten. Ich bin inzwischen in meinem neunten Profijahr in der Bundesliga und habe nur zwischendrin mal zwei Jahre für Austria Wien gespielt. Meine Frau ist Münchnerin, wir kennen uns aus der Schulzeit.
Sie kommen aus der Nähe von Salzburg, von welcher Mannschaft waren sie damals Fan?
Bei uns im Ort gab es einen Bayern-Fanclub, das war zu der Zeit, als sie 1999 erst im Champions League Finale gegen Manchester United verloren und dann zwei Jahre später gegen Valencia gewonnen haben. Die Geschichte hat mich natürlich gepackt, aber als ich zu 60 gewechselt bin, hat sich das schlagartig geändert.
Gibt es einen Unterschied, wie man Fußball in Deutschland und in Österreich angeht?
Ein Unterschied könnte eine gewisse österreichische Lockerheit sein, der lässige Schmäh, der nicht fehlen darf. Wir haben den Fußball schon immer mit einer gewissen Leichtigkeit betrieben. Mit dieser Herangehensweise hatten wir früher schon sehr gute Nationalmannschaften und Spieler, die im Ausland sehr erfolgreich waren. Heute haben wir sicherlich die eine oder andere Tugend aus Deutschland adaptiert.
Wie groß ist die Rivalität zu Deutschland aus österreichischer Sicht?
Es gibt einerseits eine große Begeisterung für die deutsche Bundesliga in Österreich, und für uns als junge Spieler war es immer ein großes Ziel, nach Deutschland zu kommen. Andererseits ist bei deutsch-österreichischen Duellen schon eine starke Rivalität mit einem ausgeprägten Fußball-Patriotismus zu spüren. Als wir kurz vor der letzten WM in Klagenfurt gegen Deutschland gewonnen haben, war das auch für mich was besonderes.
Sie spielen seit zehn Jahren im Nationalteam, haben inzwischen 74 Länderspiele und sind Kapitän. Ist die aktuelle die beste Mannschaft in dieser Zeit?
Als wir uns 2016 für die EM qualifiziert haben, haben wir auch eine Topmannschaft gehabt. Fast alle Spieler waren Leistungsträger bei internationalen Klubs, aber leider war das Turnier in Frankreich am Ende ein Misserfolg.
Was ist da eigentlich schief gelaufen, Österreich ist als Tabellenletzter in der Vorrunde ausgeschieden?
Nicht mehr als das, was im Fußball jederzeit schief laufen kann. Wir haben gegen Ungarn eine Gelb-Rote Karte kassiert und sind in Rückstand geraten, statt wie in der Qualifikation meist in Führung gegangen zu sein. Wir haben im letzten Spiel, in dem wir mit einem Sieg hätten weiterkommen können, einen Elfmeter verschossen und weitere Riesenchancen vergeben. Das schlägt bei solchen Turnieren noch mehr durch als in der Liga mit vielen Spielen. Im Vorfeld wurde in der Euphorie schon das Halbfinale für uns vorhergesagt, dementsprechend groß war die Katerstimmung. Jetzt haben wir eine neue Mannschaft, die mit der vor vier Jahren in ihren Stärken vergleichbar ist.
Worin liegen die?
Ich denke, dass wir alle vier Phasen des Spiels gut beherrschen. Wir wollen Ballbesitz spielen, können das auch, können aber auch umschalten. Dazu haben wir in der Abwehr fast ein Überangebot an fünf bis sechs Top-Innenverteidigern, die alle spielen könnten. Die Mannschaft ist also sehr ausbalanciert mit vielen jungen Spielern, die noch etliche Jahre spielen können.
„Wir wollen nicht wieder in die Bedeutungslosigkeit abrutschen“
Österreich hat sich für die EM in diesem Jahr qualifiziert, obwohl es so schrecklich losging, dass der Verbandspräsident Leo Windter von einer „Schülermannschaft“ sprach. Was war da los?
Wir sind mit einer Heimniederlage gegen Polen in die Qualifikation gestartet, und standen drei Tage später in Israel ziemlich unter Zugzwang. Wir haben dort unerklärlich schlecht gespielt und 2:4 verloren. Danach haben wir uns gesagt, dass wir es in den verbleibenden acht Spielen uns, aber auch ganz Österreich, beweisen wollten, dass wir es besser können.
Sie haben dann nach der Qualifikation gesagt: „Schön, dass wir die erste Schülermannschaft sind, die sich für die EM qualifiziert hat. Das ist besonders. Aber es ist oft so, dass sich der Direktor nur im Erfolgsfall vor die Mannschaft stellt und sonst immer nur draufhaut, das kennen wir ja schon…“
Das war aber mit einem Augenzwinkern in Richtung unseres Präsidenten gesagt. Das hat er auch so verstanden.
Aber seine Kritik hatte die Mannschaft schon gekitzelt.
Nach dem Spiel in Israel war der Tenor in der Kabine: „Wir wollen nicht wieder in die Bedeutungslosigkeit abrutschen, wollen da unbedingt wieder raus.“ Das Spiel hat an unserer Ehre gekratzt, da wir dachten, in unserer Entwicklung weiter zu sein. Wir wussten auch, dass wir fast alle Spiele würden gewinnen müssen, was uns bis auf ein Unentschieden in Polen auch gelungen ist.
Klingt fast so, als ob der Fehlstart hilfreich gewesen wäre.
So war es auch, meistens lernt man aus den schmerzhaftesten Momenten am meisten.
Sie haben sich letztes Jahr als Kapitän der Nationalmannschaft auch politisch geäußert, woher kam das Bedürfnis?
Ich wollte deutlich machen, woraus wir bestehen. Wir sind eine multikulturelle Mannschaft mit Spielern, die zwar unterschiedliche Wurzeln haben, aber alle in Österreich geboren sind. Das wird auch so bleiben, und ich wollte darauf hinwiesen: „Hey, bei uns funktioniert Integration gut. Und was ist der verbindende Faktor? – Fußball!“
Wie war die Reaktion?
Ich habe eigentlich nur gutes Feedback bekommen.
Sind Sie nicht angefeindet worden?
Meine Botschaft war nicht parteipolitisch formuliert.
„Erfahrung hilft eben in allen Lebenslagen“
Waren Sie eigentlich 2012 dabei als David Alaba vom Tiroler Landeshauptmann Günther Platter auf Englisch angesprochen hat?
Ja, ich stand auch da.
Haben Sie gelacht oder innerlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen?
Die Situation war eher unglücklich, denn David hatte mit unserem damaligen Konditionstrainer gesprochen, einem Briten, der nur Englisch sprach. Das hatte Platter gehört und David dann auf Englisch angesprochen. Es war eher ein Missverständnis, wenn auch ein peinliches (schmunzelt).
Gefällt es Ihnen, dass die kommende Europameisterschaft in Europa ausgetragen wird?
Es ist noch schwer zu greifen. Wir wissen zwar, wo wir in der Vorrunde spielen werden, aber es fehlt noch der erste Gegner, und die ganze logistische Planung ist unheimlich schwierig. Das kann charmant werden, aber ich habe den Charme eines Turniers in einem Land wie Frankreich kennenlernen dürfen, und das ist schon was besonderes.
Sie sind kürzlich 32 Jahre alt geworden, ist das ein Alter im Fußball oder keines mehr?
Es ist inzwischen mehr ein Thema als noch vor zehn Jahren. Das Spiel ist heutzutage viel mehr auf Tempo und Endgeschwindigkeit ausgelegt. Man sprintet ein Drittel bis zur Hälfte mehr als vor zehn Jahren. Dadurch ist das fortgeschrittene Alter nicht unbedingt ein Vorteil.
Aber zunehmende Erfahrung gibt es schon auch.
Ja, weil man viele Situationen schon erlebt hat: Rückschläge oder Situationen, in denen es einfach nicht läuft, hat man schon so oft erlebt, so dass man damit besser umzugehen weiß. Aber Prävention und Regeneration sind in meinem Alter ganz wichtig, bei der Ernährung verschieben sich ebenfalls die Prioritäten. Fleisch ist für mich beispielsweise ein Luxusgut geworden und nicht tagtägliche Kost. Erfahrung hilft eben in allen Lebenslagen.