Brasilien 2014: Endlich mal wieder eine Weltmeisterschaft, die richtig schön wehtat – den Spielern und ihren Fans, auch unserem Autor Dirk Gieselmann. Der schmerzhafte Rückblick auf ein Turnier zum Mitleiden.
Es war der frühe Morgen des 22. Juni 2014, als ich feststellte, dass diese Weltmeisterschaft wehtun würde. Nicht nur den Spielern wegen der Hitze, der Härte, der langen Saison. Nein: auch mir, ganz persönlich. Ich würde leiden, mit Müller, Klose, auch mit Löw. Nicht zurückgelehnt vor dem Fernseher sitzen, sondern nach vorn gebeugt, mit den Fäusten auf die Knie trommeln, ins Kissen beißen, brüllen, mit Gegenständen werfen, in der Nacht danach so wenig schlafen wie ein unglücklich Verliebter. Der Turniermensch und seine Turniermannschaft – da waren sie wieder. Ja: Es würde wehtun. Sehr.
So weh wie seit 1986 nicht mehr. Seit dem Endspiel zwischen Deutschland und Argentinien, in dem ich, damals acht Jahre alt, mit den Beinchen auf dem Wohnzimmerteppich trappelnd, Hans-Peter Briegel hinterherlief, um ihn anzuschieben, damit er den eine Grassteppe weit entfernten Jorge Burruchaga noch irgendwie einholte. Und in dem ich dann mit Briegel zusammenbrach, unter den 20 Sonnen von Mexiko-Stadt. Geschlagen, übersäuert, todtraurig und wartete, dass es endlich dunkel würde, im Aztekenstadion und auf der Mattscheibe des elterlichen Fernsehers.
Ich weiß noch, wie ich am nächsten Morgen, in der Badewanne liegend – einer Art Entmüdungs becken, wenn man so will – im Radio hörte, dass Briegel nach dem verlorenen Endspiel aus der Nationalmannschaft zurückgetreten war. Noch heute kommt mir das vor wie eine Sportinvalidität aufgrund eines gebrochenen Herzens. Nie wieder fühlte ich mit einem Athleten wie mit Briegel, der 40 Meter wie ein Wahnsinniger gesprintet und gerade noch rechtzeitig gekommen war, um seinen Gegenspieler zum 3:2 einschieben zu sehen. „Toni, halt den Ball!“, hatte ZDF-Kommentator Rolf Kramer noch den herauseilenden Schumacher beschworen. „Nein.“ Und Briegel: sein in den Nacken abkippender Kopf, sein offener Mund, der stumme Schrei – Nein.
„Dat wird nix!“
Sechs Weltmeisterschaften wurden seither bestritten, doch mein Schmerz ließ nach von Mal zu Mal: 1990 schüttete jemand bei der improvisierten Siegesfeier auf der einzigen Ampelkreuzung meiner Heimatstadt Waschpulver in den Springbrunnen. Der Schaum quoll noch Anfang August bis an die Ladentür des Sanitätshauses Brandscheidt. 1994 litt ich zwar mit Icke Häßler, der Jordan Letschkow im Viertelfinale gegen Bulgarien nicht entscheidend beim Kopfball stören konnte – aber dieses Mitleid schien auf metaphysische Weise an die Körpergröße Häßlers gekoppelt zu sein. Ich war, mit 16, eher so der Effe-Typ.
1998 sah ich das Ausscheiden gegen Kroatien in der Runde der letzten acht auf einer winzigen Glotze im Hinterzimmer des „Schusterkruges“, wo am selben Abend mein Abiball stattfand. Missmutig saßen ein paar Altbauern am Tisch davor und glaubten von Anfang an nicht an einen Sieg: „Dat wird nix.“ Dahinter wir, viel zu laut, viel zu fröhlich – blasierte Gymnasiasten, die noch während des Spiels immer wieder in den Ballsaal auswichen, um die Diplom-Ingenieure zu verspotten, die ihre Einser-Töchter übers Parkett schoben. Die Nachricht vom 0:3 registrierten wir nur noch alkoholvergiftet im Stroboskopgewitter der gemieteten Lichtorgel. Die Altbauern hatten vollkommen recht: Dat war nix.
Oliver Kahn und ich konnten nicht weinen
Während der WM 2002 studierte ich schon, und in den Seminaren saßen plötzlich blonde Lehramtsanwärterinnen, die sich Deutschland-Fahnen auf die Wangen geschminkt hatten. Vom Bundestrainer wussten sie, dass es ihn nur einmal gab. Von seiner Vergangenheit, etwa seinem Tor zum zwischenzeitlichen 2:2 im Finale von 1986, das Rolf Kramer entgeistert „Ja, ist denn das die Möglichkeit?“ rufen ließ, wussten sie freilich nichts. Das Turnier in ihrer unausweichlichen Nähe erleben zu müssen, schmerzte mich bedeutend mehr als die Niederlage Deutschlands im Finale gegen Brasilien. Nach dem 0:2 versuchte ich zwar zu weinen, aber wie Oliver Kahn kam mir keine einzige Träne. Bei ihm war wohl der Druck zu groß, bei mir die Angst, die Lehramtsanwärterinnen könnten mich trösten wollen.
Und es wurden immer mehr: 2006 begannen sie, sich auf den sogenannten Fanmeilen zusammenzurotten und trugen, obwohl in der Mehrheit haarsträubend ahnungslos, die Mannschaft bis ins Halbfinale. Nach der 0:2‑Niederlage gegen Italien gab es keinen Hans-Peter Briegel, der, sich auf die Brust schlagend, in die heimische Pfalz zurückgerannt wäre, sondern nur topgelaunte Poldis, die den dritten Platz am Brandenburger Tor beschunkelten, im Herzen der Hauptstadt von Schlaraffenschland. Als ich mir Jahre später in einem Anfall falscher Nostalgie erstmals „Deutschland – Ein Sommermärchen“ anschaute, den duseligen Heimatfilm von Sönke Wortmann, wusste ich wieder, warum auch bei dieser WM nichts wesentlich mehr wehtat als Oliver Kahns Nackenmassage, die er vorm Elfmeterschießen im Viertelfinale gegen Argentinien Jens Lehmann aufzwang.
„Och, schade! Aber toll gekämpft!“
Das Turnier 2010 verlief ganz ähnlich: Die schiere Freude darüber, nunmehr als supersympathische Fußballnation gelten zu dürfen, war stärker als die Enttäuschung über das Aus gegen Spanien. Fußball-Weltmeister war Deutschland zwar schon wieder nicht geworden, aber die süße Lena Meyer-Landrut hatte ja den Eurovision-Song-Contest gewonnen, und die Schnittmenge zwischen beiden Fanlagern war gigantisch. Ich stand einsam am Tresen und schaute in mein zehntes Bier. Sollte das denn immer so weitergehen? Dass ein vorzeitiges Aus den allermeisten nur noch ein „Och, schade! Aber toll gekämpft!“ und mir selbst nur noch ein Schulterzucken entlocken würde?
Am frühen Morgen des 22. Juni 2014 wusste ich, dass es damit jetzt vorbei sein würde.
Das 2:2 im Gruppenspiel gegen Ghana lag gerade ein paar Stunden zurück, die Schlacht von Fortaleza. Ich stand auf dem Balkon, die ersten Vögel zwitscherten, ein verklemmter Rückennerv strahlte helle Blitze in mein linkes Bein aus, es war herrlich. Unten in den Straßen von Berlin drehte bereits ein Cityfant der BSR seine Runden, wie angelockt vom Tröten einer einsamen Vuvuzela. Nur noch wenige Stunden, bis meine Kinder mich mit Legosteinen bewerfen würden, um mich zu wecken. Doch wie sollte ich jetzt zu Bett gehen, im Vollgefühl des wunderbaren Turnierschmerzes, auf den ich seit 28 Jahren gewartet hatte? In der heißen, kindlichen Hoffnung, dass Deutschland wieder Weltmeister werden könnte? Und zwar: Jetzt erst recht. Wer sich in solch einem Massaker nicht winselnd zu Boden wirft, der fällt auch später nicht mehr um, so dachte ich, und die Vögel zwitscherten entschlossen.