In seiner Karriere gewann Javier Mascherano vor allem mit dem FC Barcelona zahlreiche Titel. Nun beendet der Rekordspieler der argentinischen Nationalmannschaft seine Laufbahn. Wie sich „El Jefecito“ in unser Herz grätschte.
Javier Mascherano ist im Weltfußball kein Unbekannter, doch ein stets Unterschätzter. Dass er das eigentlich nicht hätte sein dürfen, zeigen seine Erfolge. In fast acht Jahren beim FC Barcelona gewann er fünfmal die spanische Meisterschaft, fünfmal den spanischen Pokal, dreimal den spanischen Superpokal. Er holte dreimal die FIFA Klub-WM und zweimal die UEFA Champions League. Der Trophäen-Schrank des Argentiniers ist groß. Doch der Wert, den der Defensivspezialist für seine Mannschaften hatte, ist weitaus größer. Nicht umsonst wird er El Jefecito genannt – das Chefchen.
Selten treffen Spitznamen im Weltfußball den Spieler so genau wie es bei Mascherano der Fall ist. Wer braucht schon einen Flo im Sturm oder einen Kaiser in der Abwehr? Was in der Defensive gefordert ist, sind Wille, Mut und Führungsqualität. All das zeichnet einen Chef aus. All das zeichnete Javier Mascherano aus und doch wurde Javier Mascherano nicht Jefe genannt, sondern Jefecito. Das mag womöglich an der für einen Defensivspieler überschaubaren Körpergröße von 1,74 Meter liegen, es lag aber vor allem auch an seiner Spielweise. Wenn Javier Mascherano etwas tat, war es nie mit großem Aufsehen verbunden. Es war schnörkellos. Er tat, was getan werden musste. Dabei ging er selten roh oder unfair zu Werke. Er spielte nie wie ein Stefan Effenberg und haute mal dazwischen, wenn es sein musste, sondern sein Spiel war immer von höchster Disziplin und enormer Spielintelligenz geprägt. Ball gewinnen, weiterspielen.
Dieses Mantra kristallisiert sich mit einem Blick auf seine Statistiken bei Barca heraus. In 334 Spielen für die Katalanen traf er genau ein einziges Mal ins Tor. Es war am 26. April 2017 im Spiel gegen CA Osasuna. Es stand bereits 5:1 Mitte der zweiten Halbzeit. Deniz Suárez wurde gefoult und Mascherano durfte antreten, da Lionel Messi bereits ausgewechselt worden war. Er setzte den Ball staubtrocken in die Mitte knapp unter die Latte. War es Zufall? Vielleicht. Wahrscheinlicher ist aber, dass sich Mascherano das genau so überlegt hat. Denn amerikanische Wissenschaftler fanden einst in einer Studie heraus, dass die Trefferwahrscheinlichkeit eines Strafstoßes in die Mitte am größten ist. 81 Prozent gegenüber 77 Prozent des natürlichen Ecks – für einen Rechtsfuß das rechte Eck – und 70 Prozent des falschen. Auch für die Schusshärte gilt: Je härter der Schuss desto erfolgsversprechender der Treffer. Zudem ist bekannt, dass hochplatzierte Schüsse häufiger das Netz finden als flache.
Javier Mascherano war ein cleverer Spieler. Er führte seine Zweikämpfe wie er seinen Elfmeter schoss. Hart und kompromisslos, aber stets von einer enormen Intelligenz geprägt. Er konnte das Spiel herausragend gut lesen. Rodolfo Cardoso sagte einst über Mascherano: „Javier ist ein Tier und räumt vor der Abwehr alles ab. Er ist schnell, gut am Ball und stopft die Lücken.“ Wenn er seine Position verließ und ins Tackling ging, konnte sich ein Zuschauer quasi sicher sein: Mascherano gewann für seine Mannschaft den Ball. Eine argentinische Zeitung beschrieb die Spielweise des Sechsers: so „Ein römischer Gladiator sieht neben Mascherano aus wie ein Teletubby.“ In seiner Anfangszeit hatte er dennoch Probleme sich in Barcelona zurecht zu finden. Sergio Busquets war im Mittelfeld vor der Abwehr gesetzt. Erst eine Umschulung zum Innenverteidiger ließ ihn gänzlich ankommen. Der kleingewachsene Argentinier musste selten in Kopfballduelle im eigenen Strafraum, da dies so gut wie nie gefordert war. Wichtiger war es das Spiel zu eröffnen und gegnerische Konter zu unterbinden. Dafür forderte Guardiola von seinen Spielern auf den Beinen zu bleiben, damit sie nicht überlaufen werden, sondern den Gegner nach außen abdrängen konnten.
Dahingegen fiel Mascherano im Spiel der Katalanen auf, denn Carles Puyol fehlte häufig verletzt und Gerard Piqué und Sergio Busquets sind nicht unbedingt für ihre Fähigkeiten beim Grätschen bekannt geworden. Anders Javier Mascherano. Er sprach selbst über eine Zeit vor der Grätsche und einer Zeit danach. Gemeint ist das Tackling aus der 87. Minute im Champions-League-Achtelfinalrückspiel der Saison 2010/11. Barcelona führte 3:1 und wäre somit nach einer 1:2‑Hinspiel-Niederlage eine Runde weiter. Doch nach einem fatalen Ballverlust von Adriano war Nicklas Bendtner drauf und dran den FC Arsenal doch noch ins Viertelfinale zu schießen. Mascherano grätschte dazwischen. Klar, die Ballannahme von Bendtner war alles andere als perfekt, doch Mascherano bewertete die Situation blitzschnell und erkannte seine Chance. Er grätschte den Ball zur Seite, sodass ihn Torwart Victor Valdes aufnehmen konnte. Barcelona gewann 3:1 und zog in die nächste Runde ein, um später den Wettbewerb zu gewinnen. Gefeierter Mann war nach dem Spiel dennoch nicht der kleine Chef, sondern wie fast immer bei Barca der Flo, Lionel Messi.
Ohne Glück wäre es vermutlich gar nicht zu dieser Rettungsaktion gekommen, doch eine Fußball-Weisheit besagt: Immer Glück ist Können. Und so überrascht es nicht, dass auch Mascherano in der argentinischen Nationalmannschaft mehr als nur einer von zehn Zuschauern von Lionel Messi war. 2014 führte der Weg der Albiceleste bis ins Finale. Die Mannschaft wurschtelte sich mit knappen Siegen durch das Turnier und benötigte zweimal die Verlängerung, um überhaupt soweit zu kommen. Dass es im Halbfinale gegen die Niederlande einen Nachschlag gab, ist nicht zuletzt Javier Mascherano zu verdanken. Als Mittelfeldspieler eingesetzt verhinderte er abermals kurz vor dem Ablauf der 90 Minuten einen gegnerischen Einschuss. Wie im deutschen Finale in Wembley lief Arjen Robben auf den Torwart zu bis Mascherano grätschte. Er blockte den Schuss mit einer eingesprungenen Grätsche und wälzte sich danach am Boden. Nicht jubelnd, sondern vor Schmerzen. Ein Krampf. Er machte weiter, obwohl er bereits in der ersten Halbzeit mit dem Kopf eines Niederländers zusammengestoßen war und länger behandelt werden musste. Er spielte über die volle Distanz. So wie jedes seiner 20 WM-Spiele, bei denen er auf dem Platz stand. Der erste auf dem Platz und der letzte, der ihn wieder verließ, Chef-Sache eben. Kein Schlips- und Anzug-Träger, sondern einer, der die Ärmel hochkrempelt. Ein Chef, der mit gutem Beispiel voran geht und keine lauten Töne spuckt.
Wollte man Argentinien bei diesem Turnier bezwingen, musste man das „Hirn und Herz Argentiniens“ Javier Mascherano bezwingen. So kam es wie es kommen musste: Im Finale flankte Andre Schürrle auf Mario Götze. Deutschland wurde Weltmeister. Was dieses Tor mit Javier Mascherano zu tun hat? Schürrle vermied durch seine Flanke einen Zweikampf mit Mascherano, der schon zu einer seiner Grätschen ansetzte. Der flache Pass auf den kleinen Götze musste schließlich verhindert werden. Eine hohe Flanke sollten die großgewachsenen Martín Demichelis und Ezequiel Garay herunterpflücken. Besondere Spiele werden durch besondere Momente entschieden. Diesen Moment kreierten Schürrle und Götze und so bleibt Mascherano der ganz große Titel mit Argentinien verwehrt. Die deutschen Spieler lagen sich in den Armen, jubelten an der Seitenlinie, wo er noch immer am Boden lag. Argentinien besiegt, die Mannschaft verzweifelt, Mascherano erschöpft. Die große Karriere blieb ungekrönt. Nach dem Spiel versammelte sich die Albiceleste im Mittelkreis. Die Gewinner trösteten die Verlierer und im Fokus stand einmal mehr Lionel Messi, dem fast alle Deutschen Trost spendeten. Von den hunderten Kameras im Stadion nahezu ungeachtet nahm Mascherano seine Medaille entgegen.