Nach Jahren der totalen Dominanz muss Juventus in dieser Saison sogar um den Einzug in die Champions League bangen. Nun steht vieles auf dem Prüfstand: Superstar, Klublegenden, Trainer, Sportdirektor und sogar der Präsident. Hilft der Pragmatismus eines alten Bekannten?
Lange Zeit sah es nach einem katastrophalen Sonntag für alle Fans von Juventus aus. Während Erzrivale Inter Mailand mit dem früheren Juve-Kapitän- und ‑Trainer Antonio Conte den Meistertitel feierte, kämpften die Seriensieger aus Turin im strömenden Regen von Udine gegen die sechste Saisonniederlage. Nach neun Minuten hatte sich die Defensive von einem schnell ausgeführten Freistoß überraschen lassen und war mit 0:1 in Rückstand geraten. Pässe landeten im Nichts, Torchancen gab es fast keine, die Verunsicherung war spürbar. Erst in den letzten zehn Minuten drehte der bis dahin weitgehend unsichtbare Superstar Cristiano Ronaldo mit einem Elfmetertreffer und einem Kopfballtor noch das Spiel.
Dass man zu diesem Zeitpunkt der Saison nicht mehr um die Meisterschaft, sondern nur noch um die Teilnahme an der Königsklasse kämpfen muss, ist ein ungewohntes Gefühl für den italienischen Rekordmeister. Seit 2012 hatte Juve neun Meistertitel in Serie gefeiert, oft mit deutlichem Vorsprung vor der Konkurrenz. Doch in dieser Saison ist alles anders. Vier Spieltage vor Saisonende befindet sich das Team von Trainer Andrea Pirlo dreizehn Punkte hinter Meister Inter auf Rang drei – punktgleich mit dem Tabellenvierten AC Milan und dem Zweiten Atalanta Bergamo, deren Champions-League-Tauglichkeit Juve-Präsident Andrea Agnelli im März 2020 noch öffentlich in Frage gestellt hatte. Der SSC Neapel liegt nur zwei Punkte dahinter, auch Lazio könnte mit einem Sieg im Nachholspiel gegen den FC Turin bis auf zwei Zähler herankommen. Leistet sich Juve in den verbleibenden Spielen – unter anderem gegen Milan und Inter – weitere Ausrutscher, droht das Verpassen des Mindest-Saisonziels.
Kein Wunder, dass in Turin also derzeit so ziemlich alles und jeder zur Diskussion steht. Allen voran Trainer Andrea Pirlo. Der ehemalige Weltklasse-Regisseur sollte eigentlich als Coach der U23 in der Serie C behutsam ins Trainergeschäft einsteigen. Bei seiner Antrittspressekonferenz im Sommer 2020 verkündete Agnelli, Pirlo solle irgendwann einmal die erste Mannschaft übernehmen, schränkte jedoch ein: „Ein solches Ziel muss man sich verdienen, und die U23 ist die erste Etappe auf dem Weg dorthin.“ Es kam anders: Eine Woche später schied Juve gegen Olympique Lyon aus der Champions League aus, Trainer Maurizio Sarri wurde entlassen und Pirlo fand sich deutlich eher als geplant auf der Trainerbank der ersten Mannschaft wieder.
In seinem Premierenjahr läuft für den Trainer-Novizen so ziemlich alles schief. In der Champions League scheiterte Juve bereits im Achtelfinale am FC Porto, in der Liga leistete sich die Mannschaft bereits neun Unentschieden und fünf Niederlagen. Im März hatte Vize-Präsident Pavel Nedved dennoch den Verbleib Pirlos über das Saisonende hinaus versprochen. Im Vorfeld des erneut enttäuschenden 1:1‑Unentschiedens in Florenz am vergangenen Wochenende klang das schon anders. Sportdirektor Fabio Paratici sagte: „Pirlo bleibt unser Trainer – wenn wir uns für die Champions League qualifizieren.“
Laut diversen italienischen Medienberichten ist Pirlos Verbleib inzwischen aber selbst im Falle der CL-Qualifikation nicht mehr sicher. Massimiliano Allegri, zwischen 2014 und 2019 Cheftrainer, dabei in jedem Jahr italienischer Meister und 2015 und 2017 im Champions-League-Finale, soll bereits in den Startlöchern stehen. Bereits Anfang April traf er sich öffentlichkeitswirksam mit Agnelli. „Ein normales Treffen unter Freunden“, beschwichtigte Pirlo damals noch. Doch die Anzeichen verdichten sich, dass Allegri tatsächlich zurückkehren könnte.
Neben dem Trainerposten stehen noch weitere Positionen auf der Kippe. Der Vertrag von Sportdirektor Paratici läuft am Saisonende aus, eine Verlängerung erscheint aktuell unwahrscheinlich. Ihm wird seit dem Abschied seines früheren Partners Giuseppe Marotta zu Inter nicht nur mangelndes Geschick bei Spielerverpflichtungen vorgeworfen, er soll auch in den Skandal um den Sprachtest zur Einbürgerung des damaligen Transferziels Luis Suarez im vergangenen Sommer involviert gewesen sein.
Nicht nur die Zukunft von Trainer und Sportdirektor ist offen, auch der Präsident selbst sitzt nicht mehr ganz so fest im Sattel. Vor kurzem noch galt Agnelli als überaus erfolgreicher Präsident, in dessen Amtszeit unter anderem der Bau eines vereinseigenen Stadions, die deutlich gesteigerte internationale Sichtbarkeit sowie 18 gewonnene Titel fielen. Darüber hinaus stand er der European Club Association (ECA) vor und war an allen wichtigen internationalen Entscheidungen beteiligt. Doch seit seinem vorerst gescheiterten Vorstoß zur Super League und dem plötzlichen Rücktritt als ECA-Vorstand ist Agnellis Ruf geschwächt. UEFA-Präsident Ceferin bezeichnete ihn öffentlich als Lügner und machte deutlich, er sei persönlich von ihm schwer enttäuscht. Auch die Wut anderer Serie-A-Vereine über das Vorpreschen von Juve, Milan und Inter war groß; Urbano Cairo, Präsident des Lokalrivalen Torino FC, nannte Agnelli gar „Judas“. Laut „Gazzetta dello Sport“ könnte Agnelli Ende 2021 zu einem anderen im Familienbesitz befindlichen Unternehmen wechseln und der Geschäftsmann Alessandro Nasi, ein Cousin Agnellis, die Präsidentschaft übernehmen. Auch über eine Rückkehr von Klub-Legende Alessandro Del Piero als Vizepräsident wird spekuliert.
Abgesehen von all diesen möglichen Veränderungen bräuchte vor allem der Kader dringend frischen Wind. An Superstar Cristiano Ronaldo scheiden sich die Geister. Einerseits ist er der mit Abstand beste Torschütze, andererseits brachte er seit seiner Ankunft 2018 nicht den schon ein Vierteljahrhundert lang ersehnten internationalen Titel. „Trenn dich von Ronaldo, er hemmt die Entwicklung der Mannschaft“, soll Allegri kurz vor seinem Abschied 2019 seinem Präsidenten geraten haben. Im Mittelfeld mangelt es an Kreativität und Struktur, der Ex-Schalker Weston McKennie ist einer der wenigen Lichtblicke. Ebenfalls offen ist die Zukunft der in Italien „Senatori“ genannten Führungsspieler, die jahrelang maßgeblich für den Erfolg und die Mentalität Juves standen. Ersatztorhüter Gianluigi Buffon erwägt offenbar trotz seiner 43 Jahre einen Wechsel zu einem Verein, bei dem er noch einmal die Nummer eins sein könnte und der 36-jährige Kapitän Giorgio Chiellini wartet bisher vergeblich auf eine Vertragsverlängerung. Allerdings würden bei einer Rückkehr Allegris die Karten vermutlich neu gemischt.
Eine Rückkehr des Pragmatikers aus Livorno wäre auch das Eingeständnis eines Irrtums. Unter Allegri agierte Juve zwar oft erfolgreich, aber selten spektakulär. Schönen Fußball sollte zunächst Maurizio Sarri nach Turin bringen. Der gewann 2020 zwar die Meisterschaft, fremdelte aber spürbar mit dem Juve-Ambiente – und von schönem Fußball war ebenfalls selten etwas zu sehen. Auch Pirlo propagiert einen offensiven, auf Ballbesitz ausgerichteten Spielstil, bisher stimmten jedoch weder die Ergebnisse noch die Spielweise. Allegri hält wenig von solchen Diskussionen. Zu viele Mannschaften hätten versucht, das Modell des Ballbesitz-Fußballs von Guardiolas FC Barcelona zu kopieren, äußerte er 2019 in einem Interview mit dem „Corriere della Sera“. Dabei sei Fußball doch eigentlich einfach. Es gehe darum, Spiele zu gewinnen, um nichts anderes. Oft wurde Juves Spielstil unter Allegri von den eigenen Fans kritisiert, inzwischen wünschen ihn sich viele zurück. Verkörperte er doch das vom langjährigen Präsidenten Giampiero Boniperti geprägte Klubmotto: „Gewinnen ist nicht wichtig. Es ist das Einzige, was zählt.“