Roy Hodgson liebt es, wenn ein Plan funktioniert. Doch können Talente wie Harry Kane oder Raheem Sterling England den Glauben an den Fußball zurückgeben?
Wie in so vielen Geschichten über die deutsch-englische Rivalität im Fußball spielt auch in dieser Franz Beckenbauer eine gewichtige Rolle. Als Berti Vogts im September 1998 entnervt die Brocken als Bundestrainer hinwarf, stellte Verbandspräsident Egidius Braun in einer Nacht- und Nebelaktion eine Namensliste auf, wer dem „Terrier“ nachfolgen könnte. Ganz oben stand ein Name, der vielen in Deutschland nur wenig sagte: Roy Hodgson. Doch der Mann aus Croydon war schon über zwanzig Jahre im Geschäft.
Er stand in dem Ruf, Teams mit einer guten Organisation auszustatten und aus überschaubaren Möglichkeiten gute Erträge zu erzielen. Unter ihm war die Schweizer Nationalelf zum internationalen Geheimtipp avanciert. Und als Coach von Inter Mailand war Hodgson 1997 dem FC Schalke 04 im UEFA-Cup-Finale nur knapp unterlegen.
Brauns Idee war also nicht die schlechteste. Doch dann sagte er dem Briten kurz darauf mit der Begründung ab, Franz Beckenbauer habe ihn darauf hingewiesen, dass ein ausländischer Bundestrainer dem deutschen Trainernachwuchs nicht helfen könne. Mit anderen Worten: Der DFB ging nicht davon aus, dass Hodgsons Engagement von Nachhaltigkeit geprägt sein würde.
Des „Kaisers“ Veto verhinderte den kulturbeflissenen Gentleman aus dem Londoner Süden und bescherte Deutschland die kurze, aber einprägsame Ära von „Sir“ Erich Ribbeck.
Hodgson machte die Modernisierung des DFB erst möglich
Der Rest ist Geschichte: Die DFB-Elf wurde bei der Europameisterschaft 2000 vorgeführt wie selten zuvor in ihrer Historie. Der mangelnde Reformeifer und die geringe Auswahl an konkurrenzfähigen Nachwuchsspielern sorgten für eine jämmerliche Vorstellung. Erst als sich nach dem Vorrundenaus der Rauch verzogen hatte, setzte ein Umdenken im DFB ein. Die Nachwuchsförderung wurde den Profiklubs als Pflicht auferlegt. Nie wieder sollte es einer Nationalelf widerfahren, dass sie den Anschluss verliert.
Roy Hodgsons damalige Nicht-Berufung – weil er angeblich nicht zum Coaching-System des DFB passte – machte indirekt die Modernisierung der deutschen Nationalelf unter Jürgen Klinsmann und dessen Adjutanten Jogi Löw erst möglich. Schwer zu ermessen, wie die Geschichte weitergegangen wäre, hätte der DFB 1998 Roy Hodgson eingestellt. Denn auch hierzulande zeigten die Reformen erst acht Jahre später erkennbare Wirkung. Und so entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass auch Hodgson selbst, seit er im Juli 2012 beim englischen Verband die 19. Trainerstation seiner mittlerweile 40-jährigen Laufbahn antrat, einen steten Generationswechsel begleitet.
Die Altmeister verabschiedeten sich aufs Altenteil
Auch ihm fiel es anfangs schwer, die alten Zöpfe abzuschneiden. So wie Erich Ribbeck nicht die Traute hatte, seine Abwehr mit einem talentierten Greenhorn anstatt mit Lothar Matthäus zu besetzen, schreckte Hodgson davor zurück, Dauerbrenner wie Frank Lampard oder Steven Gerrard auszusortieren.
Auch John Terry würde wohl immer noch integraler Kaderbestandteil sein, wenn er sich nicht durch rassistische Äußerung selbst ins Abseits manövriert hätte. Und so regelte sich erst nach dem kläglichen Auftritt bei der WM 2014 der Zeitenwechsel biologisch.
Die schillernden Altmeister aus der Zeit um die Jahrtausendwende, als die Premier League endgültig die weltweit führende Fußballliga geworden war, verabschiedeten sich aufs Altenteil. Hodgson blieb eine Auswahl an Spielern, die, von Wayne Rooney mal abgesehen, veritable Vereinsspieler waren, aber ganz sicher nicht als internationale Topstars gehandelt wurden.
Das Team, das im September 2014 mit einem Sieg gegen die Schweiz in die EM-Quali startete, war eine Schicksalsgemeinschaft, in der kein Engländer, der halbwegs bei Trost war, die Vorboten einer goldenen Generation erkannte. Spätestens die verheerende 1:4‑Niederlage im WM-Achtelfinale 2010 gegen Deutschland hatte vielen im Mutterland klar gemacht, dass die Three Lions international bedeutungslos waren.
Während hierzulande noch diskutiert wurde, ob sich das Spiel wohl gedreht hätte, wenn Frank Lampards Fernschuss rechtmäßig als Tor anerkannt worden wäre, waren sich die Briten einig: Gegen die unbekümmerte DFB-Elf war man in Bloemfontain chancenlos gewesen.
Die Niederlage gegen den Rivalen stürzte das Land in tiefe Depression, die gleichzeitig reinigende Wirkung haben sollte. Das Selbstbewusstsein war schlagartig futsch. Die jahrhundertealte Überzeugung, eine große Fußballnation zu sein, fundamental beschädigt. Warum hatte niemand die Zeichen deuten können? Seit 1996 war England bei keinem Turnier mehr im Halbfinale gewesen. Das letzte Mal, dass eine Elf das Land so sehr begeistert hatte, dass es sich Hoffnungen auf einen Titel machen durfte, war 1990 gewesen, als Bobby Robsons Partytruppe um ein Haar die deutsche Elf aus dem Turnier bugsiert hätte.
Um ein Haar. Fast. Beinahe. Die Ruhmeshalle des englischen Fußball quillt über vor Konjunktiven. Erst als die Statistiker all die unglücklichen Niederlagen und traumatischen Elfmeterschießen abgerechnet hatten, offenbarte sich die erschütternde Faktenlage.
England hat nur ein einziges Mal etwas Bedeutsames gewonnen: die Weltmeisterschaft 1966 auf heimischem Rasen. Fünfzig Jahre ist das her. Eine Ewigkeit – nicht nur im Fußball. Und die Voraussetzungen, die in den Swingin’ Sixties von der noch mächtigen Football Association mit einer umfassenden Vorbereitung geschaffen worden waren, wird es für die Nationalelf nie mehr geben.
Die Fans identifizierten sich lange nur mit der Premier League
Die Premier League mit ihrer unendlichen Finanz- und Strahlkraft bestimmt längst das Handeln und den Terminkalender. Die großen Klubs wollen ihre Spieler keinesfalls länger als unbedingt nötig für ein Länderturnier abstellen. Die Fans in London oder Manchester interessieren sich längst mehr für die heimlichen Weltauswahlen vor Ort, als für den Verlegenheitskader mit den drei Löwen, dem einer Bestimmung folgend stets im entscheidenden Augenblick die Muffe geht. Kurz: England hat ein gestörtes Verhältnis zu seinem Team.
Die identitätsstiftende Wirkung, die eine Nationalelf in vielen Länder besitzt, kommt auf der Insel oft nur noch in der Provinz zum Tragen, wo kein großkopferter Premier-League-Verein angesiedelt ist, bei dem sich die Stars die Klinke in die Hand geben. Der obszöne Lebensstil, den inzwischen selbst Mittelklasseprofis wegen der exorbitanten Gehälter an den Tag legen, trägt auch nicht dazu bei, dass die Bevölkerung eine übergroße Nähe zu ihren „Boys“ verspürt.
Hodgsons Masterplan: Offensive
Roy Hodgson war bewusst, dass er nicht mehr viel zu verlieren hatte, also trat er die Flucht nach vorn an. Im wahrsten Sinne des Wortes. In der EM-Qualifikation ließ er teilweise mit drei Stürmern spielen. Das System hätte leicht in der Katastrophe enden können. Doch die stärksten Gegner in der Gruppe E hießen Schweiz und Slowenien, die dem offensiven Pressing und den fluffigen Kontern nichts entgegenzusetzen hatten. England gab keinen einzigen Punkt ab, erzielte 31 Tore in zehn Spielen und ließ nur drei Gegentreffer zu.
Die teils langwierigen Verletzungen von gesetzten Spielern wie Jack Wilshere, Jordan Henderson, Wayne Rooney, Danny Welbeck oder Alex Oxlade-Chamberlain, dazu die Formschwäche von Theo Walcott, sorgten parallel für eine Neuordnung der Hierarchie.
Das Fundament der Stammelf stellten zuletzt nicht mehr Spieler aus Manchester, vom FC Arsenal oder dem FC Chelsea, sondern die Blöcke aus Liverpool, die jungen Wilden von Tottenham und ein paar zähe Knochen vom Überraschungsmeister aus Leicester. Plötzlich liefen da Spieler für England auf, für die ein Länderspiele nicht nur eine Pflichtaufgabe in der Zeit darstellte, in der die Champions League ruhte, sondern ein echtes Highlight war.
Durch die Erfolge in der Qualifikation strahlte bald wieder ein Hauch von Glamour vom Jersey mit den drei Löwen ab. Hodgsons Husarenstil wuchs den Leuten derart ans Herz, dass der Coach, bevor er seinen vorläufigen EM-Kader berief, ernste Probleme hatte, der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass es fahrlässig sei, mit weniger als sieben Defensivspielern nach Frankreich zu fahren.
Denn während in der englischen Abwehr eher solide Handwerker ihren Dienst verrichten, stellen die Akteure im Angriff jeder für sich Naturgewalten dar: Tottenhams Mittelstürmer Harry Kane trifft aus jeder erdenklichen Lage und wurde Torschützenkönig der Premier League. Die 1,88-Meter-Kante geht keinem Zweikampf aus dem Weg. Zudem weicht Kanes Geschichte wohltuend von der eines angepassten Jungmillionarios ab: Bevor der 22-Jährige 2014 an der White Hart Lane durchstartete, fristete er lange ein Dasein als Leihspieler bei Leyton Orient, Millwall, Norwich und Leicester.
Kanes kongeniale Partner und Zuspieler sind Eric Dier, 22, und Shootingstar Dele Alli, 20. Letzterer wurde von den Premier-League-Spielern zum Newcomer der Saison gewählt. Seine Ballfertigkeit, mit der er Gegner alt aussehen lässt, brachte ihm bei Teamkollegen den Spitznamen „Delstroyer“ ein. Obwohl Alli noch kein Jahr Stammspieler in der Premier League ist, meldete zuletzt sogar Real Madrid Interesse an ihm an.
Eine Gardinenpredigt für den Mann der Stunde
Die eingespielte Angriffsachse der Spurs könnte Raheem Sterling ergänzen, der im letzten Sommer für 62,5 Millionen Euro vom FC Liverpool zu Manchester City wechselte. Das Tempo des 20-Jährigen ist atemberaubend. Wenn er fit ist, kann er sowohl aus dem Rückraum, im Angriffszentrum oder über den linken Flügel Durchschlagskraft entfalten. Allerdings hatte Sterling zuletzt Leistenprobleme, weshalb abzuwarten bleibt, auf welchem Leistungsniveau er sich in Frankreich präsentiert.
Der Mann der Stunde in dieser jungenhafte Offensive jedoch ist Jamie Vardy. Der Lad aus Sheffield erfüllt praktisch alle Klischees als englischer Sehnsuchtsspieler. Obwohl der Stürmer von Leicester City mit 29 Jahren schon fast aufs Rentenalter zusteuert, versprüht er den testosterongeschwängerten Charme eines College-Jungen. Bis vor vier Jahren kickte der gelernte Carbonfaser-Techniker noch in der siebten Liga. Als er 2012 für eine Million Pfund nach Leicester kam, wusste er anfangs nichts mit sich anzufangen.
An manchen Tagen lief er betrunken beim Training auf, bis ihn der Sohn des Klubchefs, Aiyawatt Srivaddhanaprabha, zur Seite nahm und ihn zur Rede stellte: „Jamie, wir haben in dich investiert, meinst du nicht, es wäre klug, dass du versuchst, uns etwas zurückzugeben?“ Der Legende nach öffnete ihm die Gardinenpredigt die Augen.
„Der beste Abend meiner Karriere“
Srivaddhanaprabha sagt, danach sei Vardy nicht mehr derselbe gewesen. Er gab das Trinken auf und trainierte wie ein Berserker. Die Leicester-Fans zollen seinem einstigen Lebensstil dennoch bis in die Gegenwart Tribut, wenn sie singen: Jamie Vardy’s having a party, bring your vodka and your charlie. („Charlie“ = „Kokain“). In ihm paart sich die Unbekümmertheit eines Youngsters mit der kalten Schnauze des Straßenfußballers. Selten sah die deutsche Abwehr in der jüngeren Zeit so lächerlich aus wie bei Vardys Testspieltor Ende März, das er aus vollem Lauf mit der Hacke erzielte.
Nach dem 3:2‑Sieg in Berlin sagte Roy Hodgson selbstbewusst: „Der beste Abend meiner Karriere für mich? Ja, warum eigentlich nicht.“ Dabei hätte er es belassen können. Ein Auswärtssieg gegen Weltmeister Deutschland spricht eigentlich für sich. Dennoch setzte der Coach hinzu: „Die besten Momente für uns kommen aber erst noch.“
In der Tat scheint es, als hätten Roy Hodgson und sein E‑Team das Momentum auf ihrer Seite. Eine Laune des Schicksals hat dafür gesorgt, dass Leicester City das erste Mal in den 132 Jahren seines Bestehens den Meistertitel gewann. Die Mannschaft ist ohne die Zusatzbelastung der Champions League durch die Spielzeit getänzelt. Auch aus den Pokalwettbewerben hat sich der Klub früh verabschiedet.
Ähnlich geht es den Profis von Tottenham Hotspur, deren Desinteresse an der Europa League im Achtelfinale gegen den BVB selbst für Fußballlaien unübersehbar war. Die Spieler sind – im Gegensatz zu vielen Kollegen bei europäischen Spitzenklubs – am Ende dieser Spielzeit nicht ausgelaugt und überspielt. Zudem fahren sie mit der Beschwingtheit triumphierender Underdogs nach Frankreich.
Was kann motivierender sein als Erfolg? Da ist eine große Vorfreude. Nur wenige Spieler haben Erfahrung auf Turnierebene. Sie alle eint die Sehnsucht nach Wahrnehmung und der Hunger auf Erfolg. Roy Hodgson sollte es leicht fallen, in dieser Gemengelage einen Teamgeist zu schüren, der England bei der EM neue Möglichkeiten eröffnet.
Hodgsons Leitwolfdebatte
Eigentlich könnte sich der 67-Jährige zurücklehnen, huldvoll die Lobpreisungen als Erneuerer empfangen und die Zeit bis zum Beginn der EM genießen. Auf der Insel ist der Mann mit dem Antlitz des bierzeltgegerbten Kommunalpolitikers inzwischen beinahe sakrosankt. Niemand würde es ihm noch ankreiden, wenn er einen altgedienten Star nicht mehr berücksichtigte, so wie es noch 2012 war, als Hodgson Rio Ferdinand aus dem Kader strich.
Ausgerechnet in dieser Situation aber verlässt er freiwillig die Komfortzone und stößt eine Leitwolfdebatte an: Als Wayne Rooney sich im Februar eine Bänderverletzung im Knie zuzog und kaum noch zum Einsatz kam, stellte Hodgson frühzeitig klar: „Wayne ist Kapitän und hat entscheidenden Anteil an der erfolgreichen Qualifikation. Es enttäuscht mich sehr, wenn jetzt, da er verletzt ist, spekuliert wird, ob man ihn über Bord gehen lassen sollte.
Ein emphatisches Bekenntnis, das sich als Bumerang erweisen könnte. Denn Rooney ist wieder einsatzfähig, von seiner Bestform aber sichtbar entfernt. Viele trauen Dele Alli auf der zentralen Position längst mehr zu als ihm. Dass aber hitzige Spiele den Youngster noch überfordern, bewies Alli im Match gegen den FC Chelsea, als er einem Gegenspieler einen Schlag in die Magengrube versetzte und für drei Spiele gesperrt wurde.
Zu oft hat England schon seinen nächsten großen Star ausgerufen – und wurde am Ende doch enttäuscht. Rooney war der neue Michael Owen, nun soll Alli der neue Wayne Rooney sein. Abwarten. Fußball ist ein Geschäft mit Träumen. Trotzdem wäre es ein deutliches Zeichen, dass die Zukunft begonnen hat, wenn Hodgson seinen Kapitän nicht zwangsläufig als gesetzt betrachten würde.
England hofft auf ein Signal
Die Buchmacher sind nach wie vor skeptisch. Als Optimum wird gemeinhin das Erreichen der Runde der letzten Acht betrachtet. Wer den Three Lions das Halbfinale zutraut, bekommt drei Wochen vor Turnierbeginn noch das Vierfache seines Einsatzes geboten, für den Titel gäbe es mehr als das Zwölffache. Aber es ist wirklich entscheidend, dass Hodgsons Elf am Ende etwas Zählbares mit zurück auf die Insel nimmt? Wäre es nicht wichtiger, dass die Mannschaft nach so vielen verlorenen Jahren neue Hoffnung auf bessere Zeiten vermittelt? Und dass es wieder Spaß macht, ihr zuzusehen.
Dass sie Menschen vorm Fernseher vereint, die ihr Vertrauen schenken. So wie es der Klinsmann-Elf beim „Sommermärchen 2006“ gelang, das doch der Prolog für etwas war, das acht Jahre später in Maracana in einem Triumph mündete. So ähnlich könnte die EM 2016 ein Signal sein, dass mit England wieder zu rechnen ist. Ein Versprechen auf die Zukunft.
Und so wie der Zettel im Stutzen von Jens Lehmann die WM 2006 in der Retrospektive stets wie eine Erfolgsgeschichte aussehen lassen wird, könnte auf der Insel nichts den Beginn einer neuen Zeit besser illustrieren als ein gewonnenes Elfmeterschießen.
Der Text erschien in 11FREUNDE #175, unserem großen EM-Sonderheft: Jetzt am Kiosk, bei uns im Shop und in digitaler Version im iTunes- sowie im Google-Play-Store.