Eintracht Braunschweig hat sich nach dem Abstieg von Trainer Torsten Lieberknecht getrennt. Damit endet ein zehnjähriges Fußballmärchen. Dabei hätte der Klub seinen Trainer jetzt am dringendsten gebraucht.
„Mit Lieberknecht werden wir dann nochmal durchgereicht in Liga 5. Wie kann das Präsidium nur so dumm sein?“, schrieb einer, der sich „Meisterbier“ nennt, ins Fan-Forum von Eintracht Braunschweig. Der Eintrag ist zu finden auf der ersten Seite des Sammelbands „Trainer Torsten Lieberknecht“ und wurde am 12. Mai 2008 verfasst. Einen Tag zuvor, vor mittlerweile zehn Jahren, hatte der A‑Jugendtrainer Torsten Lieberknecht das Amt in Braunschweig übernommen. Jetzt wurde es ihm entzogen. Es ist das Ende einer außergewöhnlichen Ära, ja, einer großen Liebesbeziehung.
Eine schnöde Presseerklärung verkündete am Montag die Trennung von Verein und Trainer: „Nach dem für ganz Braunschweig bitteren gestrigen Tag und einer Analyse der Situation sind wir gemeinsam mit Torsten zu dem Entschluss gekommen, dass es keine weitere Zusammenarbeit geben wird“.
43 Gegentore
Am Abend zuvor flossen noch Tränen. Nach dem Abstieg applaudierte Lieberknecht den Fans als er zum Fanblock ging, er wollte sich vor ihnen irgendwie zusammenreißen, aber am Ende unterlag er hoffnungslos den Gefühlen – und weinte hemmungslos.
43 Gegentore hatte sich Eintracht Braunschweig in dieser Saison gefangen. Eins weniger als Fortuna Düsseldorf, die Meister wurden. Braunschweig steigt ab, Düsseldorf auf. Die verrückteste Zweite Liga aller Zeiten, vielleicht. Sicher nicht das Verrückteste, was Torsten Lieberknecht in zehn Jahren bei Eintracht Braunschweig erlebt hat.
Spagat zwischen Tradition und Zukunft
Rückblick: Die Fans waren 2008 gehörig skeptisch, als der Verein im Saisonendspurt den unerfahrenen Lieberknecht auf die Trainerbank setzte. Nicht, dass er unbekannt in Braunschweig war. Schließlich hatte er sich das Trikot der Eintracht noch selbst übergestriffen und seit einem Jahr die A‑Jugend trainiert. Doch das Umfeld war nervös. In der Regionalliga musste Braunschweig mindestens Zehnter werden, um sich für die neugegründete 3. Liga zu qualifizieren. Andernfalls: Amateurfußball. Erst am letzten Spieltag zwängte sich Braunschweig an Magdeburg vorbei. Danach ging’s aufwärts.
Viel Geld hatte Braunschweig nie zur Verfügung. Es hätten bessere Voraussetzungen sein können für Lieberknechts Planungen, aus dem Meister von 1966/67 wieder eine schlagkräftige Truppe zu formen. „Der schwierige Spagat zwischen Tradition und Zukunft bei Eintracht Braunschweig“ lautete der Titel seiner Abschlussarbeit als Fußballlehrer. Es hätte auch der Titel seiner gesamten Amtszeit sein können. Erwartungen abfedern, Sparzwänge meistern, Erfolge feiern.
Als Spieler des FSV Mainz hatte Lieberknecht unter Wolfgang Frank trainiert, zusammen mit Jürgen Klopp. Aus beiden machte Frank Bundesligatrainer. „Ich war lange auf Anweisungen gepolt, deshalb war Wolfgang Frank ein prägender Trainer, denn er erwartete gedanklich sehr viel von seinen Spielern.“
Das machte er sich später selbst zur Eigenschaft. In zehn Jahren als Trainer der Eintracht gab der Verein nur ein einziges Mal wesentlich mehr Geld für Neuzugänge aus, als er vorher eingenommen hatte. 2013, als Braunschweig quasi mit einem Drittligakader in die Bundesliga aufstieg, investierte die Eintracht 1,5 Millionen Euro. Manager Marc Arnold boxte den Sparkurs durch, Lieberknecht holte das Maximum heraus. Seine Spieler forderte Lieberknecht derweil auf, selbst Ideen zu entwickeln, nicht nur den Anweisungen des Trainers zu folgen. Er forderte sie auf, eigenständige Menschen zu sein.
Größer als eine Person?
Und auch wenn das Abenteuer Bundesliga nach nur einer Saison endete: Torsten Lieberknecht hatte sich längst ein Denkmal gesetzt. Jetzt hinterlässt er eine riesige Lücke. Wie so oft, wenn eine Ära endet, und der Verein beweisen muss, dass er größer als eine einzelne Person ist. Das fiel Dortmund nach Klopp schwer. Das klappte bei Manchester United nach Alex Ferguson nicht. Daran krankte Werder Bremen ohne Otto Rehhagel.
Vielleicht werden sie ihm eines bauen. Vorerst aber ist Eintracht Braunschweig zurück in der 3. Liga und hat kein Geld für Denkmäler. Statt 41 Millionen Euro rechnet der Verein mit einem 14-Millionen-Euro-Etat für die kommende Saison. Der Fall in die Drittklassigkeit ist oftmals keine Gelegenheit, um sich neu zu sortieren, sondern wird aufgrund immenser Erlöseinbußen und großer Erwartungen an einen Wiederaufstieg zum Überlebenskampf. Vielleicht wäre ein Torsten Lieberknecht, der zehn Jahre lang ohne Mittel eine Mannschaft wettbewerbsfähig hielt, für die Eintracht noch immer die beste verfügbare Option gewesen.
„Danke für zehn Jahre“
Doch seltsamerweise ist bei den Fans auch Erleichterung zu spüren. Der Mannschaft sei das Feuer ausgegangen, die Zeit für den Abschied von Torsten Lieberknecht sei reif gewesen, schreibt einer in dem Forum, indem vor zehn Jahren schon von der 5. Liga gewarnt wurde. 21.361 Beiträge sind in dieser Zeit über den Trainer geschrieben worden. Im letzten Beitrag steht: „Danke für zehn geniale Jahre. Die besten seit ich Eintracht-Fan bin.“
Lieberknecht wird der Eintracht fehlen. Wie sehr, muss sich erst noch zeigen. Aber das allein unterstreicht seinen Stellenwert.