An dem Tag, als Björn Pahrmann zum letzten Mal ins Stadion ging, blieben sie stumm. Sie hielten einfach ihre Fahnen in den Wind. Dort, wo Pahrmann stand, im Block F, am äußersten Rand der Westkurve des Hamburger Volksparkstadions, dort, wo die hart gesottenen HSV-Ultras Woche für Woche auf ihre angestammten Plätze marschierten wie Mallorca-Urlauber zu ihren Handtüchern am Badestrand, dort, wo er immer schon gestanden hatte, war er an jenem lauen Spätwintertag im Februar 1990 mit einem Mal ganz alleine. »Ich hörte hinter mir lautes Gepöbel«, erinnert er sich, »und als ich mich umdrehte, sah ich, wie Neonazis einen jungen Türken aufs Krasseste beschimpften«. Kurz bevor die Fäuste flogen, ging er dazwischen – und kurz danach verließ er mit zerbeulter Nase die Westkurve. Für immer.
Ein paar Monate später stand Pahrmann zum ersten Mal in der Gegengerade am Millerntor, ergriffen davon, wie selbstverständlich die Anfeuerungen durch das Stadion hallten. »Ich fand eine neue Welt: old-schooliger englischer Support, politisch interessierte Menschen«, sagt er. »Und dann stand ich noch direkt neben dem Idol meiner Jugend, neben dem Sänger von Slime.« Schlüsselerlebnisse.
»Das romantische Bild des St.-Pauli-Fans stimmt sicherlich nicht mehr«
Seitdem hat sich nicht alles geändert, doch einiges. Dirk »Dicken« Jora, jener Frontmann der Punkband Slime, sitzt mittlerweile auf der Haupttribüne. In der Nordkurve und der Gegengerade stehen die Werber von Jung von Matt und Springer & Jacoby, die sich hier am Wochenende ihre Ration »Anarchie light« abholen und am Montag durch das aufgehübschte Schanzenviertel in ihre Agenturen flanieren. Das mögen Klischees sein, das weiß auch Pahrmann, doch wenn man genau hinschaut, wenn der Blick über die rissigen Treppenstufen des Millerntors streift, dann bewahrheiten sie sich. Jedes Wochenende von neuem. Sven Brux, ehemals Schreiber des Fanzines »Millerntor Roar« und heute Organisationschef des Vereins, wertet diese Entwicklung aber nicht per se als negativ: »Das romantische Bild des St.-Pauli-Fans, der irgendwie immer noch im Hafenstraßen-Punk verwurzelt ist, stimmt sicherlich nicht mehr. Doch ist das wirklich so schlimm?« Schlimm findet das auch Fan Pahrmann nicht. Was zählt, sei die Haltung und die Fähigkeit, das eigene Handeln zu reflektieren. Und warum sollte man diese Eigenschaft den Modefans, den Werbern, die in der linken Rhetorik zu einer Art Symbol der ungewünschten Gentrifizierung auf St. Pauli geworden sind, von vornherein absprechen. Zumindest kann man nicht alle unschönen Randerscheinungen auf diesen Fantypus abwälzen.
So hat es etwa homophobe oder sexistische Sprüche am Millerntor immer gegeben, wenngleich auch nie so ausgeprägt wie in anderen Stadien. Stefan Schatz, der seit dem Rücktritt von Heiko Schlesselmann Leiter im St.-Pauli-Fanladen ist, meint: »Wir leben auch nicht in einem abgeschlossenen Kosmos, in den von außen nichts eindringt, wo es keine Überschreitungen von Grenzen gibt.« Björn Pahrmann kennt dieses unliebsame Außen, er kennt die Geschichten von den Auswärtsfahrten, auch die aus der letzten Saison, als junge St.-Pauli-Fans älteren Osnabrück-Anhängern die Schals klauten und mit dumpfen Sprüchen Ärger provozierten. Fast resignierend sagt er: »Letztlich ist Fußball immer noch ein Proletensport.« Heiko Schlesselmann trat auch aufgrund dieser Vorkommnisse von seinem Amt als Fanladen-Vorsitzender zurück. In einem Interview mit dem Fanzine »Der Übersteiger« beklagte er jüngst die größer werdende Fraktion jener Fans, für die kein Widerspruch mehr besteht zwischen einem linken Selbstverständnis auf der einen Seite und unreflektiertem Handeln oder homophobem Gestus auf der anderen.
Brux ist sich derweil sicher: »Eine ganze Kurve, die Bibiana Steinhaus hinterher-
pfeift, wird es am Millerntor auch in Zukunft nicht geben.« Zudem, ergänzt Pahrmann, sei es immer noch ein Unterschied, wenn etwas aus dem Affekt heraus geschehe oder eben langfristig im stillen Kämmerchen geplant wurde und dann über Transparente oder Schlachtrufe in den öffentlichen Raum transportiert würde. Wenn auch das idyllische Bild von einst porös und vergilbt wirkt – komplett schwarz malt es niemand. Denn die neue Generation scheint immer noch gewillt, die Idee der Fankultur auf St. Pauli weiterzutragen, Stellung zu beziehen, vereinsinterne Prozesse nicht zur Routine werden zu lassen und zu intervenieren, wenn es sein muss. Und das ist neben dem antifaschistischen Grundkonsens das einigende Moment.
Jede Fan-Generation initiierte sich über die sozialen Verhältnisse, über den konkreten gesellschaftlichen Status quo. In den 80er Jahren gab der Hafenstraßenkampf den Fans am Millerntor ihre Identität, und in den 90ern war es das Erstarken des rechten Mobs vor allem in Ostdeutschland, das zum Widerstand animierte. Heute ist es eben der Dissens gegen unlautere Vereinspolitik, der Kampf gegen das ewige Jasagen und Abnicken in der eventisierten Fußballmaschinerie. So wurde auch mit einer kollektiven Boykottandrohung verhindert, dass der Caterer des FC St. Pauli den »Millerntaler« einführte, eine Art Chip, mit dem der Besucher fortan sein Bier und den Knacker zahlen sollte. »Ein klares Zeichen dafür, dass sich der gemeine Fan am Millerntor immer noch seiner Stellung bewusst ist«, sagt Pahrmann, »er sieht sich immer noch nicht als reinen Konsumenten wie viele Fans in anderen Stadien«.
Das Biotop FC St. Pauli reinigt sich so fast von innen selbst. Doch das tut es nur, weil die kritische Grundhaltung von Generation zu Generation weitergetragen wird, weil die Arbeit mit und um den Verein nie ruht. »Erst dann, wenn sich niemand mehr einmischt – an diesem Tag ist der FC St. Pauli ein Verein wie jeder andere«, sagt Björn Pahrmann. »Aber dieser Tag ist noch Lichtjahre entfernt.«
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