Heute Abend spielen Brentford und Fulham um den Aufstieg in die Premier League – und um jede Menge Geld. Das Play-Off-Finale ist das lukrativste Spiel Europas. 120 Millionen Pfund für den Sieger. Nichts für den Verlierer. Wir waren 2013 vor Ort – eine Reportage aus Wembley.
Schon ist Halbzeit, die Watford- Fans sind immer noch still, und es steht immer noch 0:0. „Wir brauchen einen impact player“, murmelt Steve Fryer und geht die Namen durch. „Bolasie? Moritz? Vielleicht Phillips?“ Kevin Phillips. Vier Monate älter als Ryan Giggs. Wird im Juli 40 Jahre alt. Der einzige Engländer, der je den Goldenen Schuh der UEFA gewonnen hat, was auch schon wieder 13 Jahre her ist.
Diese Saison hat er nur einmal die Woche mittrainiert, seine Familie wohnt oben in Birmingham, zweieinhalb Autostunden entfernt, er ist aus dem Alter raus, sie jedes Mal umziehen zu lassen, wenn er wieder mal einen neuen Verein hat. Phillips, das ist auch der Mann, der dreimal dieses Aufstiegsfinale gespielt und noch nicht ein- mal gewonnen hat. Ein Mensch gewordenes Trauma, das nun ins Spiel kommt. Der älteste Strohhalm der Welt.
Das rächt sich
Holloway, der hier im Vorjahr mit Blackpool den Kürzeren gezogen hat, das Gegentor fiel drei Minuten vor dem Ende, dirigiert unten immer hektischer, Wasserflasche in der Hand, das Sakko hat er längst ausgezogen, die Glatze funkelt. Zola ist ruhiger, nur wenn er plötzlich und mit wehender Mähne die zehn Meter zur Bank zurückspurtet, um sich auf seinen Sitz plumpsen zu lassen, ein grotesker Sprint, ahnt man die Anspannung. Klare Chancen hat Palace, die normalerweise für zwei, drei Endspiele reichen. Aber: nichts.
Steve Fryer reißt an seinem rotblauen Schal, er gräbt sich tief in seinen Nacken. Seine Augen scheinen aus den Höhlen zu treten, er pustet gegen seine Daumen, als wären sie eine Panflöte.
Er flucht leise, er denkt, was alle denken: Das rächt sich. „Redblarmy! Redblarmy!“ Immer öfter kommt es jetzt, immer verzweifelter. Doch die Truppe ist müde. Sie schleppt sich in die Verlängerung. Das Spiel wird jetzt kippen, Richtung Watford, die gelben Fans sind lange aufgewacht.
Aber irgendwie kippt es nicht, auch die Gelben vergeben den Sieg. Und als alles schon auf ein Elfmeterschießen zuläuft, auf die finale Lotterie, Montagsziehung, im Jackpot für Sie heute: 120 Millionen Pfund, als schier gar nichts mehr zu gehen scheint, da geht: Zaha. Der legt den Ball in den Strafraum, drängt an seinem Gegenspieler vorbei, es ist die 105. Minute, und Marco Cassetti, Rechtsverteidiger, grätscht dazwischen und trifft keinen Ball der Welt, dafür einen jungen Mann aus Croydon, der 15 Millionen Pfund wert ist oder vielleicht noch viel mehr, und der Schiedsrichter pfeift ohne zu zögern Elfmeter.
Coach Holloway jubelt über diesen Pfiff wie über ein Tor, den Mund weit aufgerissen, der Körper spannt sich, sein Anzug droht zu zerreißen, gleich platzt ihm die Plastikflasche in der rechten Faust. Und auch Zaha schleudert den rechten Arm in den Himmel, freudeschreiend, aber oben, Block 548, Sitz 262, ist Steve Fryer, der Buchhalter, schon einen Schritt weiter. „Wer schießt? Wer schießt? Nicht Zaha, bitte nicht Zaha!“ Keine Mätzchen jetzt.
Nein, Zaha schießt nicht. Es schießt stattdessen: Kevin Phillips. Der alte Mann sieht entschlossen aus, als er sich den Ball auf den Punkt legt und bedächtig zwei Schritte zurück geht. Blick geradeaus. Ein wahnwitzig kurzer Anlauf. Es gibt Fans, die nicht hinsehen können, Rücken zum Spielfeld, sie atmen in die flache Hand, die Augen gerötet, sie warten wie auf ein Erschießungskommando.
„Ich kann es nicht glauben“
Ein Schuss für 120 Millionen Pfund. Kevin Phillips läuft an und drischt den Ball in den Winkel. Dann haut es alles auseinander. Menschen fliegen übereinander, unten auf dem Feld und in Block 548, wo Steve Fryer einfach hintenübergepurzelt ist, umgeworfen von diesem Moment, und erst gar keine Anstalten macht, sich wieder aufzurappeln. Fryer sitzt einfach auf dem Hosenboden, zwischen all den hüpfenden, schreienden Leuten, und schaut aus großen, ungläubigen Augen wie ein Kind, das ins Planschbecken geworfen wurde. Er ist jetzt, in diesem kurzen, wertvollen Moment, wieder der Achtjährige, der zum ersten Mal mit darf zu dem Verein mit dem sonderbaren Namen, ein kleiner Junge, der davon träumt, dass England einmal Weltmeister wird und Palace Champion in der First Division.
So ist das mit den Träumen, nur jeder zweite wird Wirklichkeit, wenn man Glück hat, und so wird es keinen zweiten Treffer mehr geben in diesem Finale und Steve Fryer wird nicht unten auf dem Rasen stehen, aber das macht gar nichts.
Es wird langen, dieses eine Mal langt es, das spüren jetzt alle irgendwie. Und dann schlägt sich Steve Fryer selbst mit der flachen Hand gegen den Kopf, rauft sich die Haare. „Ich kann es nicht glauben! Es ist unglaublich! “ Das ruft er, der seit bald 50 Jahren Palace-Fan ist, als Martin Atkinson eine Viertelstunde später dieses Finale abpfeift.
Fryer hat es gemacht wie alle, er hat nichts erwartet, mit dem Schlimmsten gerechnet und wird nun ehrlich überrascht. „Palace in Wonderland“, wird die „Daily Mail“ tags darauf euphorisch titeln, und das trifft es, denn was ist es sonst als ein Wunder, wenn die, die immer alles vergeigen, plötzlich ein so großes Spiel gewinnen?
Baby, I am glad all over
Die Erleichterung, auch sie hat tausende Gesichter. Das von Abwehrchef Damien Delaney, dem irischen Hünen, der zusammengesunken und alleine im dunklen Kabinengang kauert und sich immer wieder die Tränen vom Gesicht wischt. Das von Wilfried Zaha, der mit 20 Jahren seinen ersten Cup in die Kurve trägt, ein freudestrahlender Junge mit einer großen Zukunft. Das von Coach Ian Holloway, der seine Spieler fest an sich drückt, einen nach dem anderen, wie ein stolzer Vater seine Söhne, die es nach all den Jahren doch zu etwas gebracht haben.
Und das eines 58 Jahre alten Buchhalters, der seinen rot-blauen Schal zum ersten Mal an diesem Nachmittag quer über den Kopf spannt und lauthals mitsingt. „You say that you love me“, schmettert er, „all of the time!“ Es ist das Lied von Crystal Palace, ein Liebeslied, natürlich. „Glad All Over“ von den „Dave Clark Five“, fast 50 Jahre alt ist auch der Song, der im Januar 1964 die Beatles von der Spitze der britischen Charts boxte.
„Baby, I’m glad all over“, das singen sie nun, die Alten und die Jungen, und klatschen dazwischen zweimal, so wie dieser Song es vorsieht. „Say that you love me“, natürlich lieben sie ihren Klub, aber nur ganz selten liebt er sie so sehr zurück wie heute. 30 000 Menschen in Rot und Blau, überglücklich, ihre Stimmen schallen durch Wembley, das nur noch zur Hälfte voll ist, und keiner, wirklich keiner, denkt in diesem Moment an das ganze verdammte Geld.