Herr Rangnick, im Dezember 2005 haben Sie sich mit Ihrer berühmten Schalker Ehrenrunde aus der Bundesliga verabschiedet. Jetzt sind Sie mit Hoffenheim zurückgekehrt. Spüren Sie Genugtuung?
Genugtuung nicht. Ein bisschen Stolz vielleicht.
Auch Ihre Themen sind plötzlich sehr präsent. Man hat den Eindruck, dass hierzulande noch nie so viel über Taktik geredet wurde wie jetzt bei der EM. 1998, als Sie im Sport-Studio an der Tafel die Viererkette erklärten, wurden Sie noch als »Professor« verspottet.
Die Zeit war noch nicht reif für diese Dinge. Mein ZDF-Auftritt war ja inhaltlich im Grunde trivial. In Holland, Italien oder Schweiz hätte ich damals nur ein müdes Gähnen geerntet.
Hierzulande aber wurde noch über deutsche Tugenden geredet.
Und ich war ein junger Trainer. Ich kannte die Be- und Empfindlichkeiten der Branche noch nicht. Das Echo war damals zu 95 Prozent positiv, selbst meine Frau sagte: Super, jetzt habe ich das mit dieser Viererkette auch verstanden. Aber erfahrene Trainerkollegen haben gesagt: Was will der denn? Gerade mit Ulm aus der Regionalliga aufgestiegen – und will uns den großen Fußball erklären.
Sie würden das nicht nochmal tun?
Später dachte ich mir: Du warst ja blöd, deine Taktik im Fernsehen zu verraten. Damals gab es erst wenige Mannschaften in Deutschland, die Raumdeckung spielten: In der ersten Liga nur Gladbach – und Freiburg, mit Abstrichen, selbst Volker Finke sprach ja noch von »Manndeckern«. Heute ist es en vogue, die taktischen Hintergründe des Spiels zu zeigen. Dabei hilft die moderne Technik. Ich hatte in Ulm zwar auch schon einen Videomann, aber wir haben alles selbst geschnitten. In Hoffenheim haben wir jetzt einen hauptamtlichen Videoanalytiker.
Sie waren kein Fußballprofi, der eine große Karriere vorweisen kann. Sind Sie als Trainer ein Autodidakt?
Kann man so sagen. Ich habe während des Sportstudiums in den Semesterferien einen Trainerschein nach dem anderen gemacht. Mit 25 wurde ich Spielertrainer in Backnang und ging zum Fußballlehrer-Lehrgang – wo ich nach vier Wochen ziemlich frustriert war. Ich wollte dazulernen, aber in vielen Fächern hätte eigentlich ich der Referent sein müssen. Ich hatte an der Uni schon viel mehr gehört als beim Lehrgang vermittelt wurde.
Die Schlüsselerlebnisse kamen in der Praxis?
1984 hatten wir mit dem Backnang ein Freundschaftsspiel gegen Dynamo Kiew, mit dem alten Lobanowski als Trainer, mit Blochin, Michailitschenko, im Februar, gefrorener Platz. Nach zehn Minuten, als der Ball im Aus war, habe ich mal durchgezählt: Sind die etwa einer mehr? Hier stimmt doch was nicht! Es waren elf gegen elf, aber es gab keine Sekunde auf dem Platz, wo wir in Ruhe den Ball annehmen konnten. Ständig haben die uns zu zweit, zu dritt attackiert. Da spürte ich zum ersten Mal: Das ist eine andere Art von Fußball.
Verschieben, aggressiv pressen und nach der Balleroberung, wenn möglich, schnell und steil in die Spitze passen: So spielt Hoffenheim. Und so spielen heute fast alle modernen Topmannschaften.
Genau. Damals bin ich jeden Tag nach Stuttgart-Ruit gefahren und habe mir das Trainingslager von Kiew angeschaut. Später habe ich mit meinem Freund Helmut Groß jedes Spiel von Arrigo Sacchis AC Mailand in alle Einzelteile zerlegt. Du musstest als deutscher Trainer damals schon im Ausland schauen, wo sonst hättest du was erfahren?
Auch heute gelten Sie und ihr Expertentam in Hoffenheim als intellektuelle Vorreiter. Betreiben Sie wirklich, wie es oft heißt, ein »Fußball-Labor«?
Das klingt mir zu klinisch, zu technokratisch. Fußball funktioniert überall gleich: zu allererst über Emotionen, Kommunikation und Respekt. Auch in Hoffenheim macht der Ton die Musik, wie in einer Großfamilie. Sonst schaffst du nicht zwei Aufstiege in zwei Jahren.
Auf der nächsten Seite: »Langsam kapieren die Leute, dass wir kein neureicher FC Chelsea sind« – Ralf Rangnick.
Wie würden Sie sich selbst charakterisieren: Rational – oder emotional?
Ich sehe mich emotional. Keine Ahnung, woher dieser Professor-Stempel kommt, vielleicht wegen meiner randlosen Brille. Schon in Ulm hieß es: Der wirkt wie ein Soziologie-Student. Aber wenn die Frage heißt »Bauch oder Kopf?«, dann könnte ich nie gegen ein starkes Bauchgefühl entscheiden. Auch bei der Auswahl unserer Spieler entscheidet mein Bauch – und der erste Eindruck.
Ist auch auf dem Platz der Siegeswille letztlich wichtiger als Strategie?
Das eine schließt das andere nicht aus, Siegermentalität und effiziente Strategie ergänzen sich. Wir Deutsche waren aber nie Vorbilder für taktische Dinge. Wir hatten ja immer große Turniererfolge – warum sollten wir also was ändern? Außer der 72er-Elf, die auf Größen wie Beckenbauer und Netzer beruhte, gab es keine stilprägende deutsche Elf. Am ehesten noch 1954, denn Sepp Herberger wurde später zu Unrecht auf diese Ihr-müsst-brennen-der-Ball-ist-rund-Rhetorik reduziert. Herberger hatte eine klare Handschrift, die über längere Zeit erkennbar war. Sonst waren wir nie das Modell für eine besonders schlaue, innovative Spielweise. Dafür hatte man gegen uns erst gewonnen, wenn jeder im Bus saß.
Ihr Team soll auch hohen charakterlichen Ansprüchen genügen. Als es im Mai um den Aufstieg ging, haben Sie in Köln verloren, weil der gegnerische Trainer Daum bei seinem Team eine sehr harte Spielweise provoziert hatte. Sie sagten damals: Das ist nicht unser Stil.
Für Köln war das damals legitim – und für uns lehrreich. Wir wollen aggressives Pressing spielen, aber nicht mit unsauberen Mitteln. Was unsauber ist, ist natürlich eine subjektive Frage. Kreative Spieler mit Mätzchen zu provozieren, bis sie austicken, ist leider – siehe Zidane, siehe Diego – Masche geworden.
Auch einige Kölner konnten plötzlich prima Portugiesisch, um Ihren Brasilianern Nettigkeiten einzuflüstern – bis sich Ihr Spielmacher Carlos Eduardo zu einer Tätlichkeit hinreißen ließ. Wird Ihrer spielstarken, aber naiven jungen Elf sowas in der Bundesliga öfter blühen?
Wir wollen nicht jammern oder verurteilen. Wir müssen lernen, uns zu wehren. Nicht durch Retaliation (Vergeltung, d. Red.), sondern gute Einfälle.
Früher war es die Regel, dass Aufsteiger routinierte Spieler holen. Hoffenheim hat bisher einen Neuen: den 21-jährigen Andreas Beck vom VfB Stuttgart.
Langsam kapieren die Leute, dass wir kein neureicher FC Chelsea sind, sondern dass Konzepte dahinter stecken. Wir haben von Anfang an gesagt: Wir holen maximal drei Neue, möglichst Toptalente. Mit Jaissle, Weis, Compper, jetzt Beck haben wir etliche junge Deutsche integriert. Andi Beck war ein Sonderfall, der sagte: Ich will kommen, selbst wenn ihr nicht aufsteigt. Menschlich war das außergewöhnlich – solche Talente sitzen aber nicht auf der Stange. Auch Verteidiger Neven Subotic hatte uns sein Ehrenwort gegeben – dann wollte er plötzlich von Mainz nach Dortmund. Sein Berater hat uns das per SMS mitgeteilt.
Auf der nächsten Seite: Welche Transfers die Liga noch erwarten darf – und warum Hopps Millionen nur in junge Spieler investiert werden.
Welche Transfers darf die Liga von Ihnen noch erwarten?
Ich bin überzeugt, dass wir hinten trotz der jungen Leute gut aufgestellt sind. Aber einen Stürmer wollen wir mindestens noch holen, da ist die Decke mit Ba und Ibisevic zum Start doch dünn.
Weil Chinedu Obasi mit Nigeria bei Olympia startet.
Leider, ja. Wenn uns ein richtig guter Griff gelingt, könnte es bei einem weiteren Stürmer bleiben, aber auch zwei neue sind möglich. Wir hatten im Vorjahr keinen im Kader, der schon mal irgendwo 20 Tore in einer Saison geschossen hat. Wir hatten dafür mehrere Angreifer mit knapp über zehn Toren. Also könnte man sagen: Es hat sich gut verteilt.
Nürnbergs Robert Vittek?
Ist ein interessanter Mann. Aber der Spieler muss zu uns wollen.
Hoffenheim ist ein kleiner Klub ohne Tradition. Hält das manche Spieler von einem Wechsel ab?
Es ist heute leichter als vor zwei Jahren. Bei Sead Salihovic, damals bei Hertha, haben wir unzählige Stunden gebraucht, um sein Umfeld zu überzeugen, dass er rausgeht aus der Stadt Berlin, nach Hoffenheim! Das ist heute besser, andererseits steigt mit jeder Liga unser Qualitäts-Anforderungsprofil. In Relation dazu haben wir es immer noch schwer.
Das Establishment fürchtet Hoffenheim wegen der SAP-Millionen des Mäzens Dietmar Hopp. Stuttgarts Manager Heldt sagt: Das sind die einzigen außer Bayern, die einen Ribéry kaufen könnten.
Und? Haben wir Ribéry geholt? Nie! Ideal sind für uns Zugänge, die nicht von deutlich weiter oben kommen, sondern mit uns den Weg dorthin gehen wollen. Ich will Spieler, für die der Schritt zu uns im Kopf kein Rückschritt ist. Wir sind überzeugt, dass alle Jungs, die wir letztes Jahr geholt haben – Vorsaah, Eduardo, Gustavo, Ba, Obasi, Nilsson – nicht nur für den Aufstieg gut waren, sondern auch die erste Liga stemmen.
Warum investieren Sie Hopps Millionen nur in junge Spieler?
Wenn ein Spieler Ablöse kostet, soll die Summe gegebenfalls beim Weiterverkauf noch steigen. Wir wollen kein Ausbildungsverein sein, wir haben nicht die Absicht, Spieler zu verkaufen. Aber theoretisch muss die Möglichkeit bestehen, das Geld wieder reinzuholen.
Hopp sagt, der Verein solle möglichst bald finanziell unabhängig werden von ihm. Ist das realistisch?
Das sehe ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht. Ich habe nicht die Vorstellung, irgendwann ohne das Geld von Herrn Hopp auszukommen.
Wie regelmäßig sprechen Sie oder Manager Jan Schindelmeiser mit Hopp über Grundsatzfragen?
Alle vier bis sechs Wochen treffen wir uns. Bei Transfers wie Beck – 3,1 Millionen – informieren wir ihn, da wollen wir wissen: Hat er dabei ein gutes Gefühl? Er hatte. Wie es bei uns in den nächsten Jahren weitergeht, hängt allein davon ab, wie schnell Herr Hopp welche Entwicklung haben will. Meine Ansichten kennt er, aber er bestimmt das Tempo, er muss sich bei jedem Schritt wohlfühlen. Theoretisch könnten wir sagen: Wir geben sofort Vollgas, wie es Wolfsburg tut, die sich offenbar um jeden Preis nach oben schießen wollen. Aber ich unterstelle, dass es in Wolfsburg auch vor drei, vier Jahren schon Spieler gab, die viel Geld verdient haben. Bei uns gab es vor zwei Jahren Regionalliga-Verträge. Wenn wir jetzt Spieler holen, die drei Millionen verdienen, wäre das Anachronismus. Wir werden irgendwann bestimmte Schwellen überschreiten. Aber behutsam.
Auf der nächsten Seite: Macht Rangnick ein Biotop wie Hoffenheim mehr Spaß als Schalke?
Es gibt keinen genauen Zeitplan, wann Hoffenheim in der Champions League ankommen will?
Wir wollen uns in der Bundesliga schnell zurechtfinden, damit wir gegen jeden Gegner gewinnen können – und nicht bis zum Schluss auf Platz 16 schauen müssen. Alles weitere hängt davon ab, was Herr Hopp fühlt. Im Vorjahr gab es für ihn ja einige unangenehme Situationen in Auswärtsspielen.
Gegnerische Fans beschimpften die neureichen Geldsäcke.
Deswegen erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass wir mit einem Etat von 23 Millionen eher am unteren Ende der Liga anzusiedeln sind. In der Bundesliga sagen zehn, elf Vereine ganz offen: Wir wollen in den Uefa-Cup. Dieses Feld fängt unten bei Frankfurt, Hertha und Hannover an und hört bei Bremen, Stuttgart, Schalke, Hamburg auf. Da liegt man am unteren Ende bei 45 Millionen Etat, oben bei 65 bis 70. Wir liegen bei 23. Unser Level ist Bielefeld, Bochum.
Mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass Hopps Festgeldkonto Ihnen die Sicherheit gibt, bei Misserfolg im Herbst den Kader nachrüsten zu können.
Das stimmt. Aber Hopp ist eben kein Abramowitsch. Er sagt nicht: Volles Risiko, kaufen Sie alles, ohne Rücksicht aufs Gehaltsgefüge! Natürlich haben wir auch diese Möglichkeit besprochen. Aber Hopp fühlt sich mit organischen Wachstum wohler. Ich will Wolfsburg nicht bewerten. Aber die waren letzte Saison Fünfter, trotzdem kommen wieder acht bis zehn Neue. Die logische Folge ist Verdrängungswettbewerb. Man kann sagen, Darwin funktioniert so, c´est la vie. Aber für uns wäre es pervers, unseren Jungen wie Eduardo, Ba oder Jaissle neue Konkurrenten vor die Nase zu setzen. Das würde die Kaderhygiene zerstören.
Macht Ihnen die Arbeit in einem Biotop wie Hoffenheim mehr Spaß als in Schalke, weil keine Störfaktoren im Umfeld Ihren Tatendrang bremsen?
Ich wäre nicht ohne Not in die dritte Liga gegangen, wenn die Arbeitsbedingungen hier dieselben wären wie bei normalen Bundesligaklubs. Jeder würde gerne so arbeiten, wie ich es hier kann. Auch in England entscheiden bei großen Klubs die Trainer alle wichtigen Dinge. Ich stimme mich immer sehr eng mit Jan Schindelmeiser ab, aber das letzte Wort hätte ich, auch bei Transfers. In Deutschland ist das noch unüblich.
Zu Ihrem Expertenstab gehören ein Sportpsychologe, Ernährungsberater und Viedoanalytiker, das Nachwuchskonzept koordiniert Bernhard Peters. Zieht der Verein deshalb viele Menschen an, die besondere Dienstleistungen anbieten?
Klar, querbeet alles, was man sich vorstellen kann. Da ist viel Unbrauchbares dabei, aber grundsätzlich sind wir für alles offen. Im Trainingslager hatten wir gerade den Yoga-Trainer der Nationalmannschaft dabei, und der Ironman-Gewinner Normann Stadler hat unseren Jungs einen Vortrag gehalten. Bei Yoga hatte ich selbst das Bild im Kopf: Frauensache, das hat einen femininen Touch! Aber es war überragend.
Verdirbt Ihnen das Image von Hoffenheim als Geldklub die Preise, fordern Berater und Manager deshalb mehr?
Manchmal musst du Leuten schon sagen, dass sie nicht kapiert haben, worum es bei uns geht. Die guten, seriösen Berater wissen aber, was Sie uns vorschlagen können. Und was tabu ist.
Sie vergleichen den Trainer gerne mit einem Theaterregisseur: Man müsse dessen Handschrift auf der Bühne erkennen, trotzdem müssten die (Schau-)Spieler die Freiheit haben, sich kreativ zu entfalten. Welche Handschrift will der Regisseur Rangnick sichtbar machen?
Den Gegner möglichst weit weg vom eigenen Tor zu stellen. Und dem Ballbesitzer immer das Gefühl zu geben, dass er gegen alle unsere Spieler gleichzeitig spielt. Wie Backnang gegen Kiew oder wie der Rest der Welt gegen Sacchis Milan – ohne übertrieben Foul zu spielen, denn der ganze Quer- und Längsverschieben-Aufwand nutzt nichts, wenn plötzlich einer zu gierig den Knöchel des Gegners malträtiert. Und bei Ballbesitz wollen wir Quer- und Rückpässe minimieren.
Diese Ideen müssen aber erst mal bei der Mannnschaft ankommen.
Motivation ist der Transfer meiner Überzeugungen. Wenn ich als Regisseur nicht weiß, wie meine Spieler spielen sollen, kann ich nichts vermitteln. Ich muss ein klares Bild im Kopf haben.
Offenbar gibt es in Deutschland immer mehr Trainer einer jungen Generation, die solche klaren Pläne haben. Sterben die Heißmacher-Gurus aus?
Es tut sich was, das sieht man auch daran, dass sich gezieltes Trainerscouting und Headhunting in der Bundesliga langsam entwickelt, siehe zuletzt beim HSV oder Leverkusen. Bisher hat man Trainer bei uns selten nach Konzepten ausgesucht, nach Trainerwechseln hieß es reflexartig: Jetzt brauchen wir einen Gegenpol zum Vorgänger! Auch die Trainerausbildung des DFB wird reformiert, das war überfällig. Andererseits: Drei, vier Jahre bei Sacchi gespielt zu haben, bei diesem kleinen Schuhverkäufer, der aussieht wie Louis de Funès und selber nur B‑Klasse gespielt hat – das wiegt keine Trainerausbildung der Welt auf. In Deutschland wäre es undenkbar gewsen, dass so ein faszinierender Mann in die Nähe eines Erstligisten gekommen wäre.