Robin Gosens erfüllt sich einen Traum und wechselt zu Union Berlin in die Bundesliga. Wer hätte das gedacht? Er mit Sicherheit nicht. Mit 18 kickte er noch auf dem Dorf, ging in die Disko und versaute sein Probetraining beim BVB. Wir haben mit ihm über seine wahnwitzige Karriere gesprochen.
Hinweis: Das Interview erschien erstmals im März 2019.
Robin Gosens, als Jugendlicher wurden Sie von Borussia Dortmund zum Probetraining in der U19 eingeladen. Heute nennen Sie den Nachmittag ein „Fiasko“. Warum?
Weil ich mich schon beim Aufwärmen gefragt habe: „Robin: Wat machst du hier eigentlich?“
Schon beim Aufwärmen?
Es unterschied sich maximal von allem, was ich kannte. Ich spielte damals beim VfL Rhede, erste Leistungsklasse Niederrhein. Ordentliches Niveau, aber im Endeffekt besserer Bauernfußball. Bei uns in Rhede machten wir zu Trainingsbeginn ein Eck auf, alberten ein bisschen rum, dann gab es Schusstraining, dann ein Spielchen, und danach ging es auch schon wieder ab nach Hause. In Dortmund lag eine Koordinationsleiter auf dem Rasen.
Klingt nach dem falschen Trainingsgerät für einen nervösen Jugendlichen.
Schon da lief es katastrophal. Bei den für mich viel zu komplexen Passübungen wurde es nicht besser. Aber das Schlimmste kam erst noch. Ein taktisches Elf gegen Elf über den ganzen Platz. Ich wurde überrannt. Ich habe mich die ganze Zeit hilflos umgeguckt und hatte keinen Schimmer, wo ich hinlaufen soll. Unter dem Strich ein Fiasko. Nach dem Training sprach ein Betreuer mit mir. Er sagte: „Wir melden uns dann bei dir, falls etwas sein sollte.“ Aber ich wusste genau: Das Thema ist durch. Ich habe auch nichts mehr aus Dortmund gehört.
Wie fühlt man sich, wenn man eine derart große Chance verpasst?
Ach, ich war nicht mal sonderlich traurig. Die anderen Jungs waren einfach zu gut gewesen, es war nicht mal knapp zwischen uns. In meiner Dorftruppe in Rhede war ich ein kleiner Star, aber dort, in Dortmund, war ich ein Niemand.
Bis auf den BVB hatte Sie bis dahin kein größerer Klub auf dem Schirm. Wieso?
Ehrlich gesagt war ich als Jugendlicher, zumindest bis zur B‑Jugend, kein auffälliger Spieler. Klar, ich war in Rhede ein Leistungsträger, dort waren alle zufrieden mit mir. Und als ich 17 war, hörte ich auch immer öfter, dass ich mich sehr gut entwickelt hätte. Aber es war nie so, dass irgendwer angekommen wäre und gesagt hätte: „Alter, du bist ja eine Rakete! Mach was aus dir!“
Wollten Sie denn Profi werden?
Natürlich hatte ich den Traum im Hinterkopf. Aber ich hatte damit abgeschlossen. Und ich war ja auch nicht unglücklich mit meinem Leben.
Wie lief ihr Leben denn so?
Unter der Woche ging ich zur Schule. Nebenher jobbte ich an einer Tanke hinterm Tresen.
Und am Wochenende?
Freitagabends verabschiedete ich mich von meinen Eltern mit den Worten: „Sonntag, nach dem Spiel, könnt ihr mich wieder abholen.“ Dann fuhr ich von Elten rüber nach Rhede, dort wohnten alle meine Kumpels. Und dann waren wir zwei Abende unterwegs. Das volle Programm.
Wie sah das aus?
Freitag raus, Samstag raus, die Nächte durchzelebriert. In Rhede gab es eine angesagte Dorfdisco, das „Blues“. Davor trafen wir uns meistens bei den Eltern meines Mannschaftskollegen Buggi (André Bugla, d. Red.) im Keller. Dort wurde dann vorgescheppert. Zu der Zeit trillerten wir immer den gleichen Song: „Kama Ahava“. Ich weiß gar nicht, von wem der ist, aber der Text geht nur so: „Kama, Kama Ahava!“ Der letzte Schwachsinn, aber wir haben dieses Lied übertrieben gefeiert. Irgendwann fuhren wir dann alle zusammen mit den Fahrrädern zum Blues. Wunderbare Nächte.
Auch vor Spielen?
Klar. Eigentlich erstaunlich, dass wir das durchgestanden haben, ganz verkehrt war das Niveau ja auch nicht. Aber Buggi und ich hatten stets das Gefühl: Je länger wir unterwegs waren, desto besser lief es auf dem Platz.
Kurz nach dem BVB-Probetraining wurden Sie bei einem Auswärtsspiel in Klewe von einem niederländischen Scout entdeckt. Waren Sie vor dieser richtungsweisenden Partie auch im Blues?
Und ob. Ich hatte maximal eine Stunde geschlafen, es war eine der Nächte, in denen wir mehr oder weniger direkt aus dem „Blues“ zum Treffpunkt gestolpert sind.
Wie konnte das gutgehen?
Ich weiß es nicht, aus heutiger Sicht ist das für mich fast unvorstellbar. Aber vom Anstoß weg habe ich die Sterne vom Himmel gespielt. Ich schoss ein Tor selber, ich bereitete weitere Tore vor, im Prinzip gelang mir alles. Direkt nach dem Spiel, ich war gerade auf dem Weg vom Platz in die Kabine, sprach mich dann ein Typ an. Er meinte, er sei ein Scout von Vitesse Arnheim und eigentlich wegen eines anderen Spielers gekommen. Jetzt wollte er aber lieber mit mir reden.
Und Sie?
Ich wollte eigentlich überhaupt nichts sagen. Mir wurde ganz heiß.
Warum?
Weil ich Angst hatte, dass er meine Fahne riechen würde. Ich hielt mir also die Hand vor den Mund. Schlussendlich lud er mich trotzdem nach Arnheim ein. Direkt nach dem Probetraining sagte der U19-Trainer: „Ich muss dich haben. Unbedingt.“ Dann ging das Gefühlschaos los.
Eigentlich wollten Sie Polizist werden.
Einmal, als ich sechs Jahre alt war, stülpte mir mein Opa seine Polizeimütze auf den Kopf und setzte mich zum Spaß neben sich in den Streifenwagen. Ab dem Moment war die Sache für mich geritzt: Eines Tages würde ich Polizist werden. Als das Angebot aus Arnheim kam, hatte ich mich längst für den höheren Dienst beworben und war auch schon mehr oder weniger angenommen.
Ihre Mutter war nicht begeistert von der Idee, alles stehen und liegen zu lassen, um in Holland Jugendfußball zu spielen.
Es gab zwei Lager. Mein Papa sagte: „Robin, Polizei schön und gut. Aber dein wahrer Traum war es immer, Fußballer zu werden.“
Und Ihre Mutter?
Die sagte: „Mach erst mal deinen Abschluss und zieh die Bewerbung bei der Polizei durch. Wer weiß, was passiert?“ Und sie hatte ja eigentlich Recht. Es ging um die A‑Jugend bei Vitesse Arnheim, nicht um einen Profivertrag. Ich hatte noch überhaupt nichts in der Hand. Deswegen war sie eher auf Sicherheit bedacht. Sie hatte die Sorge, dass ich mein Abi verhauen und am Ende mit leeren Händen dastehen würde.
Haben Sie Ihr Abi verhauen?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe ein für meine Verhältnisse grandioses Abitur gemacht. Ich war nie ein besonders guter Schüler, aber am Ende hatte ich einen Schnitt von 2,0. Weil ich schon immer diszipliniert arbeiten konnte, wenn es drauf ankam.
Was bedeutete das konkret für diese Zeit?
Ich lernte beispielsweise im Auto. Oft stand ich auf dem Rückweg von Arnheim nach Deutschland im Stau. Dann legte ich meine Unterlagen aufs Lenkrad und ging den Stoff durch.
Nach einem Jahr A‑Jugend wurden Sie in Arnheim in die U23 hochgezogen. Wieder ein paar Monate später machte Sie Peter Bosz zum Profi.
Auf einmal flog ich ins Trainingslager nach Abu Dhabi. Kurze Zeit zuvor hatte ich noch auf Asche gespielt. Es war komplett abgefahren. Aber Peter Bosz war der Erste, der in mir einen Linksverteidiger erkannte. Zuvor war ich Achter oder Sechser, spielte immer im Zentrum. Doch Bosz sah meine Laufstärke, meine Physis, mein Durchhaltevermögen.
Schulte er Sie um?
Nach dem Trainingslager in Abu Dhabi machte ich noch ein Spiel für Arnheims U23. Bosz sagte dem U23-Trainer, dass er mich links hinten einsetzen sollte. Ich machte meine Sache so gut, dass plötzlich Zweitligist Dordrecht an mir interessiert war. Dort hatte ich eine Perspektive, auf hohem Niveau zu spielen.
Also ließen Sie sich verleihen.
Ich wollte Einsätze sammeln. In Dordrecht wurde ich von der lokalen Presse als Königstransfer angekündigt. Als der Linksverteidiger, der so dringend benötigt wurde. Die hatten keine Ahnung, dass ich in meinem ganzen Leben genau eine Partie auf dieser Position gemacht hatte!
Hatten Sie zu der Zeit eigentlich schon einen Berater?
Ja, er war mir privat empfohlen worden von meinem Jugendtrainer in Arnheim. Anfangs machte er seine Sache auch gut. Aber irgendwann wollte er mich über den Tisch ziehen.
Wie das?
Im Winter 2016/17, ich war mittlerweile zu Heracles Almelo in die Eredivisie gewechselt und dort Stammspieler, erzählte er mir, dass Atalanta Bergamo an mir interessiert sei. Dann hörte ich ein halbes Jahr nichts mehr von der Sache. Bis zum letzten Saisonspiel. Plötzlich riefen die Italiener wieder an, also schickte ich meinen Berater nach Bergamo.
Klingt doch super.
War es ja zunächst auch. Die Serie A, das klang wie ein Märchen! Während mein Berater in Bergamo war, flog ich mit den Jungs von Almelo auf Abschlussfahrt nach Mallorca. Am zweiten Tag stand ich in Badehose am Strand, plötzlich klingelte mein Telefon. Mein Berater sagte: „Du musst jetzt sofort unterschreiben!“
Was war daran so schlimm?
Ich selber hatte noch mit niemandem aus Bergamo gesprochen. Nicht mit dem Trainer, nicht mit dem Manager. Ich kannte die Stadt nicht, hatte das Trainingsgelände nicht gesehen. Mein Berater sollte lediglich Infos einholen, herausfinden, ob das Interesse von Bergamo ernst gemeint war. Doch er wollte den Transfer unbedingt sofort eintüten.
Warum?
Wahrscheinlich hatte er eine nette Prämie für sich ausgehandelt. Ich habe seine Ansage zunächst gar nicht für voll genommen und einfach aufgelegt. Eine Minute später rief mich der Sportchef von Almelo zu sich rüber, er war mit uns Spielern auf Malle. Ich stapfte zu ihm durch den Sand, er guckte mich verwundert an und sagte: „Robin, wir sind uns mit Atalanta einig, du kannst unterschreiben!“ Ab diesem Moment wusste ich: Ich bin für die meisten in diesem Geschäft nur ein Objekt, mit dem sich Geld verdienen lässt. Der Verein wollte auch nur die Ablösesumme kassieren.
Wie gingen Sie mit dieser Erkenntnis um?
Ich war völlig überfordert. Ich schaltete mein Handy auf stumm und tat so, als wäre nichts passiert. Zurück in Holland sagte ich dann zu meinem Berater: „Erstens, Freundchen: Du bist gefeuert. Und zweitens: Ich gehe nicht nach Bergamo. Kannst du denen ausrichten.“ Damit war die Sache für mich durch.
Heute spielen Sie trotzdem in Bergamo.
Wieder ein paar Tage später klingelte mein Handy, ein Anruf aus Italien. Ich ging ran und hörte: „Ciaaaoo Robin!“ Danach sprach ein Mann auf Italienisch, ich verstand kein Wort. Irgendwann merkte er, dass ich ihm nicht folgen konnte, also sagte er: „I give you wife!“ Und dann telefonierte ich mit der englisch sprechenden Frau von Atalantas Sportchef. Der hatte mich persönlich angerufen, weil er von meinem Berater nichts mehr gehört hatte.
Und seine Frau zurrte den Transfer fest?
So ungefähr. Am Telefon waren beide total höflich, super nett. Sie luden mich ein, mir alles in Bergamo anzuschauen. Also flog ich zusammen mit meinem Vater zum letzten Meisterschaftsspiel nach Bergamo und hatte dort ein wunderschönes Wochenende.
Jetzt spielen Sie gegen Weltstars wie Cristiano Ronaldo und für einen Klub, dessen Fans berühmt sind für ihre Leidenschaft.
Die Stadt lebt für den Verein. Ich werde auf der Straße erkannt, Leute wollen mich umarmen. Nach Niederlagen haben manche auch am Tag danach noch Tränen in den Augen.
Mittlerweile gibt es sogar ein Skillvideo von Ihnen bei Youtube!
Stimmt. Da sieht man mich vor allem grätschen. Meine linke Sense ist berüchtigt!
Haben Sie sich schon an den Profizirkus gewöhnt?
Es geht so, ich bin vom Typ her noch immer anders. Weil ich nie das Konkurrenzdenken entwickelt habe, das viele meiner heutigen Kollegen seit Jahren prägt. Viele der Jungs, die ihr Leben schon früh auf den Fußball ausgerichtet haben, denken nur an sich. Das meine ich überhaupt nicht wertend, ich stelle es nur fest. Die wollten unbedingt Profi werden, von Hunderten Kids das eine sein, das es am Ende schafft. Ich dagegen war lange Teil einer Kumpeltruppe. Ich war ein ganz normaler Bauer. Dementsprechend ist es auch heute noch so: Selbst wenn ich nicht spiele, freue ich mich über Siege. Klar bin ich nicht glücklich, auf der Bank zu sitzen, aber ich umarme trotzdem jeden und denke: „Geil, drei Punkte.“
Nicht nur deshalb dürften Sie unter Kollegen als Sonderling gelten.
Sie meinen wegen meines Studiums?
Neben der Profikarriere studieren Sie Psychologie.
An einer Fernuni, genau.
Wozu die Quälerei?
An einem normalen Tag gehe ich um neun Uhr zum Fußball und bin um 15 Uhr wieder zu Hause. Dann habe ich noch einen halben Tag. Warum sollte ich mich vor die Xbox hocken und bis Mitternacht zocken? Da kann ich mich genauso gut noch zwei, drei Stunden bilden. Im besten Fall lebe ich ja nicht nur, bis ich 34 Jahre alt bin. Es gibt hoffentlich ein sehr langes Leben nach dem Fußball.
Was denken die Kollegen?
Der Einzige, der davon überhaupt etwas mitbekommt, ist mein Zimmerkollege. Wenn wir auf Auswärtsfahrt sind, hole ich ab und zu die Bücher raus.
Was sagt er?
Er sagt: „Brudi, ich habe riesigen Respekt vor dir! Ich könnte mich dazu nicht motivieren.“ Doch bei mir ist es so: Natürlich bin ich physisch platt nach einer Einheit. Aber der Kopf funktioniert ja noch. Ich habe mal ein Interview von Nils Petersen gelesen. Der meinte sinngemäß, dass er seit zehn Jahren verblöden würde. Ich finde, daran kann jeder, der es wirklich will, etwas ändern. Wenn er nicht verblöden möchte, soll er studieren. Oder sich anderweitig fortbilden. Ich bin nicht schlauer als andere. Ich will nur die Energie, die ich in mir spüre, nicht verkümmern lassen.
Warum Psychologie?
Ich interessiere mich für Menschen. Durch meinen Job bekomme ich ja unglaublich viel Input. Ich habe in meiner Karriere mit hinterhältigen Menschen zu tun gehabt. Ich erlebe in meinen Teams Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen. Im Moment spiele ich zum Beispiel mit einigen Südamerikanern zusammen, etwa mit Papu Gomez oder Duvan Zapata. Die kommen aus einem komplett anderen Teil der Welt, die organisieren ihr Leben ganz anders. Die sind nicht aus der Ruhe zu kriegen. Wir dagegen machen uns dauernd Stress. Zu sehen, wie Menschen sich verhalten, wie sie auf ähnliche Situationen komplett verschieden reagieren, das finde ich spannend.
Wie würden Sie reagieren, wenn im Sommer ein Angebot aus der Bundesliga kommt? Angeblich soll ausgerechnet Borussia Dortmund an Ihnen interessiert sein.
Ich habe noch nie in Deutschland auf hohem Niveau gespielt. Die Bundesliga bleibt also mein Traum. Aber aktuell bin ich in einer starken Liga, die wieder am Aufblühen ist, und bei einem Verein, der immer mehr an Fahrt aufnimmt. Ich strebe nicht auf Teufel komm raus nach der Bundesliga. Ich fühle mich in Bergamo zu Hause.