Alexander Schwolow hat zwei harte Hertha-Jahre hinter sich. Findet er in Gelsenkirchen zu alter Form? Und wann trainiert er mal wieder mit Kühen auf der Weide? Schalkes neuer Stammkeeper über seine Kindheit auf dem Bauernhof und heikle Gespräche mit Christian Streich.
Alexander Schwolow, sind Sie Fußballfan?
Ja, auf jeden Fall.
Und haben Sie Nerd-Wissen?
Nein, das überhaupt nicht. Mein alter Kumpel Nils Petersen ist ein Lexikon, Chico Höfler auch, neben den zwei Kerlen zu sitzen, wenn sie sich über irgendwelche Spieler aus der zweiten norwegischen Liga unterhalten, macht so gar keinen Spaß. (Lacht.) Ich schaue gerne Fußball, es läuft auch oft, aber ich gucke mir nicht bis ins kleinste Detail die Aufstellungen an oder vergrabe mich in irgendwelchen Statistiken. Ich schalte den Kopf oft aus, das läuft eher im Hintergrund. Mein alter Trainer Christian Streich würde sich aufregen, wenn er mich so erwischen würde: „Wenn ihr Fußball guckt, legt das gottverdammte Handy weg! Schaut richtig hin, wie die anlaufen, da könnt ihr was lernen!“ Aber so bin ich nicht, ich gucke eher zum Ausgleich.
Ein bisschen Schalke-Wissen wollen wir trotzdem abfragen.
Oh je… Aber in Ordnung. Ich weiß auf jeden Fall, wie das Vereinsmagazin heißt: Schalker Kreisel! (Lacht.)
Das ist schon mal gut. Aber wer ist Schalkes Rekordspieler?
Puh, wenn Sie mir gleich den Namen nennen, kenne ich ihn garantiert.
Klaus Fichtel, 549 Spiele.
Kenne ich. Aber wäre ich nicht drauf gekommen.
Wer ist Rekordtorschütze?
Nicht Klaas-Jan Huntelaar, oder?
Der steht auf dem zweiten Platz. Gesucht ist ein Stürmer, der für eine bestimmte Technik bekannt war.
Fallrückzieher. Ich weiß genau, wen Sie meinen.
Es geht wieder um einen Klaus.
Klaus Fischer!
Exakt. 221 Tore, davon 180 in der Bundesliga. Und wer ist Rekordtorhüter?
Das weiß ich nicht.
Norbert Nigbur, 446 Einsätze für Schalke.
Leider noch nie gehört. Aber da sieht man mal: Als Fußballer kommt man sich immer so wahnsinnig wichtig vor, aber selbst solche Legenden wie er sind einem 30-Jährigen wie mir heute nicht präsent.
Haben Sie einen Lieblingsschalker?
Das war früher definitiv Manuel Neuer. Als ich angefangen habe, explizit auf die Torhüter in der Bundesliga zu achten, gab es das Duell zwischen ihm und Rene Adler um den Platz in der Nationalmannschaft. Die habe ich beide bewundert. Aber wenn ich an Schalke denke, kommen mir natürlich auch noch andere Spieler in den Sinn: Ebbe Sand, Gerald Asamoah, Raul.
„Das wäre ein bisschen cringe“
Wenn man diese Namen hört, wird deutlich: Schalke ist kein klassischer Aufsteiger. Ist eine derart große Vergangenheit gefährlich, wenn es eigentlich nur um den Klassenerhalt gehen kann?
Es ist Gefahr und Segen zugleich. Andere Mannschaften haben automatisch Respekt, weil wir Schalke 04 sind und diese krassen Fans im Rücken haben. Als Torwart, der hier bisher nur auswärts gespielt hat, kann ich sagen: Das ist kein Vergnügen. Unsere 17 Heimspiele müssen wir nutzen. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, wo wir vom Etat her stehen. Das ist kein Vergleich zu früheren Zeiten. Wir brauchen nicht drumherum zu reden: Das wird eine extrem schwere Saison, es muss viel zusammenpassen, damit wir die Klasse halten. Für uns wird es nicht leichter als für kleinere Vereine in den vergangenen Jahren. Wenn wir alles an blau-weißer Vergangenheit ausblenden und nur aufs Sportliche gucken, dann ist klar: Die Saison wird eine große Herausforderung. Der wir uns sehr gerne stellen.
Sie sind erprobt, was Abstiegskampf angeht. Wie schätzen Sie die Mannschaft rein sportlich ein?
Wir müssen uns zu diesem frühen Zeitpunkt in der Saison noch in allen Bereichen steigern, sowohl offensiv als auch defensiv verbessern. Das wissen wir und daran arbeiten wir jeden Tag. Aber wir haben eine sehr gute Teamchemie, Führungskräfte, tolle Fans im Rücken. Das ist ein Faustpfand.
Eine Frage, die über der Schalker Saison schwebt, lautet: Knipst Simon Terodde endlich auch in der ersten Liga?
Ich sehe keinen Grund, warum es nicht klappen sollte. Ich sage ihm immer: „Simon, du bist wie Nils.“ (Petersen, d. Red.) Die sind sich so ähnlich, auch vom Charakter her, beide sind sehr belesen, kommunikativ, können sich gut unterhalten. Und Simon ist genau wie Nils ein absoluter Knipsertyp. Er weiß, wo das Tor steht, hat unfassbare Abschlussqualitäten. Wenn er die Bälle bekommt, macht er seine Tore. Die Frage ist für mich also nur: Bekommt er genug Bälle? Nils ist weder schneller noch ausdauernder als Simon, beide haben die gleichen Bewegungen drauf. Wenn wir als Mannschaft genug Chancen herausarbeiten, wird Simon treffen.
Nervt ihn diese Diskussion?
Das habe ich ihn nicht gefragt, es ist unter uns kein Thema. Wäre irgendwie auch komisch, wenn ich damit bei ihm ankäme, oder? Heutzutage würde man wahrscheinlich sagen: Das wäre ein bisschen cringe. (Lacht.)
Sie haben bereits zweimal von den Schalker Fans geschwärmt. Haben Sie das Gefühl, dass die Anhänger hier anders drauf sind als in anderen Städten?
Sie sind wie gesagt krass, im positiven Sinne. Mir wurde vorhin ein Video geschickt: Ein Schalke-Fan hat meine 150 besten Paraden bei YouTube hochgeladen. Das ging bei mir runter wie Öl. Hat richtig gut getan.
Die vergangenen zwei Jahre verliefen für Sie nicht nach Plan. Haben Sie ein persönliches Ziel für die neue Saison? Weniger als 60 Gegentore zum Beispiel?
Ich möchte jedes Spiel machen. Mir konkrete Ziele in Bezug auf Gegentore zu setzen, wäre Quatsch. Das habe ich intern schon mal gemacht, dann sechs Hütten gegen Leipzig und nochmal sechs gegen Bayern kassiert. Und schon war das Ziel ganz weit weg. Du bist als Torhüter auch abhängig von dem, was vor dir passiert. Da ergibt so ein individuelles Ziel keinen Sinn.
Sie waren sich schon 2020 mit Schalke einig, haben nach Wohnungen in der Gegend gesucht. Dann ist der Wechsel geplatzt, Sie landeten in Berlin. Was sagen Sie zu der Behauptung: Hertha BSC war für Alexander Schwolow nur ein fauler Kompromiss!
Das ist falsch. Hertha hatte schon lange Interesse an mir, das kam nicht aus dem Nichts. Im Nachhinein waren die zwei Jahre auch wichtig für mich persönlich.
Waren die zwei Jahre Berlin für Sie eine Art Reality Check? Vorher ging es für Sie ja vor allem bergauf.
Es ging vorher nur bergauf. Jetzt hatte ich zwei schwierige Jahre, aber im Nachhinein will ich sie nicht missen. Ich habe total viel gelernt, auch über mich selbst. Wie ich mit Rückschlägen umgehen kann zum Beispiel. Das hat mich abgehärtet. Mich wirft so schnell nichts mehr um.
Kannten Sie denn die Stadt vorher ein bisschen?
Ich war vor meiner Hertha-Zeit nur einmal in der Stadt gewesen, also abgesehen von Auswärtsspielen. Und das war eine sehr durchwachsene Erfahrung.
Wieso?
Wir waren an Silvester da. Die Tage vorher waren cool, aber der Silvesterabend war ein Skandal. (Lacht.) Das war lebensgefährlich. Später habe ich erfahren, dass viele Berliner extra abhauen.
Berlin als Stadt muss ein Kulturschock für Sie gewesen sein. Immerhin sind Sie auf einem Bauernhof in der hessischen Provinz aufgewachsen.
Es war ein Mehr-Generationen-Hof, ein klassischer Hufeisen-Hof, aber im kleinen Stil. Meine Großeltern haben dort als Bauern gelebt und gearbeitet, dann wurde meine Mutter geboren, die hat den Betrieb lange am Laufen gehalten.
Und dann?
Wie das leider bei so vielen Bauernhöfen der Fall ist: Irgendwann hat sich die Arbeit nicht mehr gerechnet. Vor allem, als meine Großeltern zu alt wurden. Mein Vater kam zwar aus Wiesbaden dazu, ist nach der Hochzeit auch auf den Hof gezogen, aber er selbst ist kein Bauer. Der mochte einfach nur die Idylle, wollte raus aus der Stadt. Meine Mutter hat die Landwirtschaft dann Stück für Stück zurückgefahren, schon als ich ein kleiner Junge war.
Gab es nie den Plan, dass Sie den Hof mal übernehmen?
Nein. Als ich klein war, hatten wir zwar noch Puten, Hühner, Schweine und Kühe. Doch mittlerweile gibt es nur noch die Kühe – und die stehen auch nur im Sommer auf der Wiese rum, weil wir das Land um den Hof verpachtet haben. Das sind also nicht unsere eigenen. Das Haus, in dem meine Eltern jetzt leben, war früher ein Stall. Den haben sie umgebaut, als ich vier oder fünf Jahre alt war. Der alte Kuhstall ist jetzt unser Wohnzimmer.
Ihre Familie hat gar keine eigenen Tiere mehr?
Bis vor fünf Jahren hatten wir noch ca. 20 Hühner. Aber irgendwann konnte sich meine Oma nicht mehr darum kümmern, vor knapp drei Jahren ist sie verstorben. Die einzigen Tiere, die es noch gibt, sind Bienen. Mein Onkel hat vor ein paar Jahren Bienenstöcke aufgebaut.
„Da haben sie in der Nazizeit die Schweine versteckt“
Wie weit ist es bis zum nächsten Nachbar?
Das ist ein richtiger Aussiedlerhof. Bis zum nächsten Nachbar ist es locker ein Kilometer. Mal eben klopfen und Zucker leihen ist eher nicht drin.
Aber ihre Familie hat sich ja lange selbst versorgt.
Sehr lange sogar. Meine Oma hat mir krasse Geschichten erzählt. Das alte Bauernhaus, in dem sie mit meinem Opa ihr Leben verbracht hat, ist 400 Jahre alt. Da hängen mittlerweile die Decken komplett durch, das ist richtig antik. Es gibt auch geheime Keller, da haben sie in der Nazizeit die Schweine versteckt, damit sie ihnen nicht weggenommen wurden. Ich kann mich auch erinnern, wie ich selbst mal bei der Schlachtung eines Schweines dabei war. Das wurde erst mit einer Elektrozange betäubt, dann wurde ihm mit einem Schnitt die Kehle durchgeschnitten, danach ist es ausgeblutet. Einerseits war es wichtig zu sehen, dass das Schwein wegen der Betäubung nicht gelitten hat. Andererseits war es auch für mein späteres Leben eine prägende Erfahrung. Zu wissen, wo das Fleisch herkommt, das im Supermarkt liegt.
Mussten Sie als Kind mit anpacken? Oder war der Hof eher ein großer Abenteuerspielplatz?
Letzteres. Teile des Landes hatten wir damals schon verpachtet, da wurden Weizen und Mais angebaut. Der Pächter war total nett, der hat mich immer mit dem Mähdrescher mitgenommen. Das war mega geil. Traktorfahren auch. Es war einfach insgesamt cool, dass wir so viel Platz hatten. Freunde waren immer gerne bei mir, wir konnten Burgen und Höhlen bauen aus Strohballen, wir haben mit kleinen Steinen das Wasser im Fluss gestaut. Es gibt Bilder, da sind meine Freunde und ich komplett eingesaut mit Matsch, also wirklich komplett. Da hat uns meine Mutter mit dem Gartenschlauch abgespritzt. Insgesamt musste meine Mutter sehr viel waschen. (Lacht.) Ich bin bei jedem Wetter raus, Fußball spielen, auch bei Regen. Ich habe es schon als Kind geliebt, mich in den Schlamm zu schmeißen.