Bochum, ich komm’ aus dir: Hermann Gerland über die Liebe zu seiner Heimat, Ommas Nagelbürste und sein Münchner Exil.
Hinweis: Das Interview erschien erstmals im 11FREUNDE Spezial „Fußball im Pott“ im Jahr 2014.
Hermann Gerland, singen Sie mit, wenn im Autoradio „Bochum“ von Herbert Grönemeyer läuft?
Manchmal. Vor allem freue ich mich, wenn ich das Lied höre.
Woran denken Sie, wenn Sie an Heimat denken?
Zuerst an mein Elternhaus, an die Familie und an Kollegen, mit denen ich aufgewachsen bin. Und an den VfL Bochum, zu dem ich immer noch engen Kontakt habe, hauptsächlich über die beiden Sekretärinnen, die ich von früher kenne.
Haben Sie dann Bilder vom Stadion im Kopf?
Auch, eher aber noch von der Eisdiele Faghera, an der man auf dem Weg zum Stadion vorbeikam. Das war der Treffpunkt aller Bochumer Spieler. Hat aber leider vor zwei Jahren zugemacht.
Und die Königsallee, auf der, wie Grönemeyer singt, keine Modenschauen stattfinden?
Es sind weniger die Gebäude und Straßen selbst, die ich dann im Kopf habe, sondern die Erinnerungen, die ich an sie habe: an die Sportplätze, den Kinderspielplatz und an Weitmar 09, den Verein im Viertel, in dem ich aufgewachsen bin.
Bei Grönemeyer heißt es auch: „Tief im Westen ist es viel besser, als man glaubt.“ Was glauben die Leute denn Ihrer Erfahrung nach, wie es da ist?
Wenn ich mich mit Manuel Neuer und Tapa (Toni Tapalovic, Torwarttrainer des FC Bayern, d. Red.) über den Pott unterhalte, grinsen die anderen und versuchen, uns zu provozieren: „Da will ich nicht tot überm Zaun hängen!“ Die verstehen nicht, dass wir davon schwärmen, wo wir aufgewachsen sind, und denken, da ist immer noch alles voller Ruß.
Ist das denn ein Irrglaube?
Natürlich sind der Starnberger See und der Chiemsee schöner als der Kemnader See, und die Isar ist sauberer als die Ruhr, aber mir gefällt es da trotzdem, mir hat das gereicht. Ich kenne da jeden Fleck, ich weiß, wo ich lang muss, und wenn mal ein Stau kommt, weiß ich, wie ich den umfahren kann.
Schöne Umschreibung von Heimat! Was fällt Ihnen noch ein?
Am wichtigsten sind natürlich die Menschen. Ich habe heute noch Kontakt zu den Leuten, mit denen ich zur Schule gegangen oder zur Arbeit in der Bank gefahren bin, in der ich eine Lehre gemacht habe. Als ich an Weihnachten zu Hause in Bochum war, habe ich drei Stunden in der Metzgerei Willie Drees an der Castroper Straße gesessen und mir angeschaut, wie nett der Seniorchef ist. Der ist 75 Jahre alt, Jahreskartenbesitzer vom BVB – wenn ich sehe, wie der mit seinen Kunden umgeht und wie die ihn begrüßen: Das ist einfach schön.
Fehlt Ihnen das anderswo?
Ach, da muss man vorsichtig sein, mir fehlt in München ja nichts. Ich stelle einfach nur fest, dass da eine Metzgerei ist, die wahrscheinlich auch teurer ist als der nächste Supermarkt, und trotzdem gehen die Leute da hin, werden erkannt und begrüßt. Das ist ein herzliches Verhältnis, man nimmt sich Zeit für ein Gespräch. Dabei ist ansonsten im Pott ja alles viel hektischer.
Woran bemerken Sie das?
Als ich 1988 von Bochum nach Nürnberg kam, ist mir sofort aufgefallen, dass dort niemand der Straßenbahn hinterherrennt. Die Leute sagen sich: Dann nehm’ ich halt die nächste. Bei uns im Pott hingegen: Nein! Die Straßenbahn! Schnell!
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Es ist hektischer da oben. Vielleicht wegen des Strukturwandels. Die Schlegel-Brauerei, Nokia, Opel, das ist alles nach und nach weggefallen oder wird es. Umso bemerkenswerter ist, was dort immer wieder geleistet wird.
Wie sind Sie aufgewachsen?
In einer Bergarbeitersiedlung. Mein Vater ist Bergmann geworden, weil er eine Wohnung benötigte. Wir sind vier Geschwister, ich bin der Älteste. Als mein Vater 1964 mit 39 Jahren gestorben ist, war ich neun und mein jüngster Bruder zwei.
War der Tod Ihres Vaters eine Folge seiner Arbeit?
Nein, es war ein Herzinfarkt, sonst hätten wir ja eine Rente bekommen. So aber waren wir sehr, sehr arm, was in unserer Siedlung allerdings keine Seltenheit war.
Ging es dort rau zu?
Ich wusste mich zu wehren, weil ich schon als Kind auf meine Geschwister aufpassen musste. Und später habe ich auch meine Kumpels beschützt. Es sei denn, es standen Fußballspiele an.
Wie meinen Sie das?
Meine Kumpels wollten mich Samstagsabends immer mit in die Diskotheken nehmen, damit ich auf sie aufpasse. Sie haben mich sogar mit Cola und Currywurst mit Pommes bestochen. Aber am Sonntagvormittag waren die Spiele, und da wollte ich ausgeruht sein und meine Leistung abliefern, weil ich unbedingt Profi werden wollte. Da haben sie gelacht: „Du wirst kein Profi!“ Aber ich meinte nur: „Ich will es auf jeden Fall versuchen.“
Haben Sie denn auch Unterstützung erfahren?
Und ob. Mein bester Freund Martin war drei Jahre älter als ich und hat mir immer seine Fußballschuhe geschenkt, weil ich mir keine kaufen konnte und bei ihnen mehr Geld vorhanden war, sein Vater war Ingenieur. Nur deswegen konnte ich überhaupt Fußball spielen und mit 15 zum VfL Bochum wechseln.
Ist dieser Zusammenhalt typisch für das Ruhrgebiet?
Ja, absolut. Ich bin später oft mit meinem Schwiegervater, der selbst Bergmann war, bevor er zu Opel gegangen ist, zu den Jugendspielen seines Sohnes gegangen. Dort konnte ich beobachten, wie er frühere Arbeitskollegen aus der Zeche traf, und wie die sich dann nach Jahren begrüßten und ein Bier zusammen tranken, das war so was Schönes, einfach wunderbar. Das hab ich ihm auch gesagt. Und er antwortete: „Du, auf der Zeche musstest du dich auf deinen Kumpel verlassen können. Wenn einer Mist gemacht hat, ist die Kohle runtergelaufen und du warst tot.“ Diesen Zusammenhalt hat man auch in vielen anderen Bereichen gespürt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
In der Bank gab es einen, mit dem ich die Lehre gemacht habe, der hieß Rakowski, auch ein großer BVB-Fan. Wir Lehrlinge wurden immer losgeschickt, um für die ganze Abteilung was zu essen einzukaufen. Als ich dann mal in einer anderen Abteilung gearbeitet habe, hat eine Mitarbeiterin zu ihm gesagt: „Aber dem Herrn Gerland können Sie jetzt nichts mehr mitbringen.“ Und was sagt Rako? „Wenn ich dem nichts mitbringen darf, dann geh ich gar nicht.“ So war das bei uns immer. Und das ist auch nie verlorengegangen. Wenn ich in Bochum bin und die Leute von früher treffe, dann ist das noch wie vor 40 Jahren.
Welche Rolle hat Fußball in Ihrem Leben gespielt?
Ein riesige. Im letzten Jugendjahr habe ich schon mit der ersten Mannschaft trainiert. Deswegen habe ich jeden Morgen schon um sieben Uhr in der Bank angefangen, um mein Pensum zu schaffen. Mein Ziel war es, Profi zu werden.
Beim VfL Bochum.
Was anderes konnte ich mir ja gar nicht vorstellen, das war für mich das Schönste und das Größte. Nach meinem ersten Spiel als Profi, einem 2:0 gegen Braunschweig, ich war eingewechselt worden, sagte Heinz Höher, unser Trainer, zu mir: „Du hör mal, Hermann, du musst deine Prämie teilen, der Günther Etterich ist Vater geworden, und der ist nicht eingewechselt worden.“
Und, haben Sie geteilt?
Ich habe zu Höher gesagt: „Geld interessiert mich nicht. Ich habe in der Bundesliga gespielt, wissen Sie, was das für mich heißt? Das ist das Höchste, was mir je passieren konnte, da ist mir das doch piepegal, ob ich 400 oder 200 Mark bekomme.“
Auf welchem Untergrund haben Sie in Ihrer Jugend gespielt?
Meistens auf Asche, manchmal auch auf Wiese, Rasen konnte man das nicht nennen. Auch beim VfL Bochum gab es als Trainingsfläche keinen Rasen mit Heizung wie heute, sondern Asche in der Mitte, und außen standen ein paar Grasbüschel.
Braucht man auf Asche eine bessere Technik?
Von mir kann man das nicht behaupten, ich war kein Techniker. Asche ist gut zu spielen, wenn sie nass ist. Aber wir haben ja auch gespielt, wenn der Boden gefroren war und selbst flach gespielte Bälle in Kniehöhe ankamen. Und im Sommer war es staubig und sehr hart. Wenn man hinfiel oder doch mal gegrätscht hat, ging die Asche gar nicht mehr raus. Ich weiß noch, wie mich meine Omma in die Badewanne gesetzt und mit der Nagelbürste abgeschrubbt hat. Das waren Schmerzen!
Sie sind für Ihr Auge für Fußballer bekannt. Können Sie erkennen, auf welchem Untergrund einer ausgebildet wurde?
Nein, das kann ich nicht. Eher könnte ich anhand des Publikums einschätzen, wo ich mich befinde. Im Westen sind die Leute viel kritischer. Wenn es mal nicht läuft und man das Gefühl hat, dass einer nicht alles gibt, dann wird so ein Spieler in Bochum, in Dortmund, in Schalke, in Duisburg und in Wattenscheid gnadenlos ausgepfiffen. Das passiert hier im Süden nicht in dieser Art, weder in Nürnberg noch in München.
Wie erklären Sie sich das?
Ich denke, dass die Leute, die früher unter Tage waren und unter Lebensgefahr ihr Geld verdienen mussten, sehen wollen, dass die Spieler eine hundertprozentige Leistung abliefern. Dann verzeihen sie im Gegenzug auch mal eine Niederlage, wenn der Gegner klar besser war oder man kein Glück hatte.
Warum gibt es im Revier an jeder Ecke einen großen Verein, während im Süden alles von zwei, drei Klubs absorbiert wird?
Vor allem natürlich, weil dort überall so viele Menschen leben, die früher keine andere Freizeitbeschäftigung hatten als Fußball. Heute hat man die finanziellen Möglichkeiten, Tennis zu spielen, Golf zu spielen, Schlittschuh zu laufen oder sogar Segelfliegen zu gehen. Früher sind die Jungs aus der Zeche gekommen und wollten Fußball spielen. Fußball war das Größte für die. Daraus sind meines Erachtens die Vereine entstanden.
Ist der Fußball generell präsenter im Alltag?
Ich glaube schon, aber ich kann das nur schwer beurteilen, weil ich überall sehr viel über Fußball rede. Auf jeden Fall laufen die Begegnungen im Pott anders ab. Das habe ich erst bei meinem letzten Besuch in Bochum wieder bemerkt.
Erzählen Sie!
Ich hatte kaum das Auto abgestellt, da kam schon der Erste auf mich zu: „Na Mensch, watt machs du denn hier?“ Und gleich danach kamen zwei ältere Damen: „Ach, guck mal, da iss ja unser Hermann, ach, watt war datt schön, als du noch bei uns gespielt has.“ Und schon ist man mitten im Gespräch.
Werden Sie in München nicht angesprochen?
Doch, aber das ist anders. Zunächst mal duzt mich in Bochum jeder, hier sagen sie Herr Gerland.
Was ist Ihnen lieber?
Duzen natürlich. Jeder kann Hermann zu mir sagen.
Hermann, hat es dich nie gereizt, deine Erfahrungen beim FC Bayern für den VfL Bochum zu nutzen?
Tja, ich bin seit 25 Jahren weg, und erst jetzt hat mich mit Martin Kree zum ersten Mal ein Offizieller von Bochum angesprochen. Von Ottokar Wüst, als der noch mitgemischt hat, wurde das zwar auch gewünscht, das weiß ich, aber es ist nie jemand vom VfL Bochum auf mich zugekommen.
Würdest du den FC Bayern für den VfL Bochum aufgeben?
Heute auf gar keinen Fall mehr. Es gab eine Zeit, da hätte ich es mir vorstellen können. Je nachdem, wie alt ich werden kann, könnte ich mir auch vorstellen, im Rentenalter mal eine Mannschaft zu übernehmen oder die Jugendabteilung, wenn man mich ansprechen würde. Dann allerdings ohne Geld.
Du willst wieder zurück nach Bochum.
Ja, wobei es jetzt auch so ist, dass meine Frau in diesem Jahr noch zweimal Omma wird. Und den kleinen Paul haben wir schon. Der ist jetzt drei, und als ich zu Jahresbeginn einen Fanklub in der Uckermark besucht habe, habe ich in Berlin Station gemacht, wo meine Töchter wohnen, und ihn mitgenommen. Er hat dann für mich auf die Torwand geschossen und von drei Versuchen zwei getroffen. Ein verrückter Linksfuß. Mit drei!
Und jetzt überlegst du, ob du nach Berlin musst, ihn ausbilden?
Naja. Ich mag meine Töchter schon auch leiden, keine Frage, aber vor allem hat meine Frau das Gefühl, sie würde dort gebraucht. Ich würde schon gerne zurück ins Revier, wir haben da einen Bauernhof mit Pferdezucht. Und für die Kinder ist das doch auch wunderbar, wenn sie kommen können und mit dem Oppa Trecker fahren. Aber das ist alles noch nicht entschieden.
Werner Olk hat mal gesagt: „München ist die schönste Stadt der Welt, hier will doch keiner weg.“ Warum willst du doch?
Sagen wir mal, der FC Bayern lässt mich noch fünf oder sechs Jahre hier arbeiten. Dann habe ich 30 Jahre in der schönsten Stadt der Welt gewohnt. Dann kann ich doch zurück in meine Heimat. Wobei, von meinen Kumpels sind schon einige gestorben: Ottokar Wüst, Eia Kremer, Werner Balte. Wenn ich in ein paar Jahren gar keinen mehr kenne, dann weiß ich auch nicht, was ich in Bochum noch zu tun habe. Wie gesagt: Es geht nicht um die Königsallee oder das Stadion, das habe ich meinem Enkel schon gezeigt. Es geht um die Menschen, um Weggefährten.