Im Leben kommt es nicht darauf an, wie viel ein Mensch austeilen, sondern wie viel er einstecken kann. Diese leidige Erfahrung macht nun auch Lukas Podolski. Vermeintlich immun gegen jeglichen Einfluss von außen, tänzelte er jahrelang wie ein Sektkorken auf den peitschenden Wogen der Bundesliga. Selbst als Edelreservist beim FC Bayern perlte Kritik an dem Youngster scheinbar ab. Im DFB-Dress traf er wie dereinst im Juni 2006. Nerven wie Drahtseile sprach man dem Sunnyboy zu, der selbst nach Monaten auf der Münchner Ersatzbank immer noch mit gerecktem Daumen in jede Kamera griente.
Doch Poldis Verspieltheit hat gelitten. So sehr, dass die rheinische Frohnatur nach dem Länderspiel gegen Argentinien Anfang März einen TV-Reporter zum Ringkampf herausgefordert haben soll, als dieser ihn am Bus mit allzu kritischen Fragen behelligte. Und jede noch so marginale Boulevardmeldung zu seiner Person verdichtet sich im Kern auf eine These: Podolski steht unter DRUCK!
Ein Begriff, der viel Raum für Assoziationen lässt, spätestens seit dem Rücktritt von Sebastian Deisler aber auch eine pathologische Komponente bekommen hat. Kaum ein Interview vergeht, ohne dass kritisierte Spieler oder Trainer zur Beschreibung ihrer persönlichen Situation mit dem Druck-Begriff operieren. Aber was versetzt Profikicker eigentlich unter größeren Stress als den Busfahrer, den Herzchirurgen oder den Manager eines Dax-Unternehmens?
„Je prominenter du bist, desto mehr Druck lastet auf dir“
Der frühere Bundesligastürmer Thomas Brdaric sagt: „Druck erhöht sich proportional zu deinem Bekanntheitsgrad. Je prominenter du bist, desto mehr Druck lastet auf dir.“ Im Falle von Teenieschwarm Podolski muss sich demnach ein explosiver Cocktail zusammengebraut haben. Die Wissenschaft geht von drei Arten des Drucks aus, die bei dem Kölner insbesondere nach dessen Rückkehr zum FC zum Tragen kommen: 1. Erwartungsdruck, 2. Nominierungsdruck und 3. der mediale Druck.
Dass sich Podolski, ausgestattet mit einem exorbitanten Gehalt und Vorschusslorbeeren, die ihm beinah übersinnliche Kräfte zusprechen, bei seinem Rücktransfer enormen Erwartungen aussetzte, muss ihm bewusst gewesen sein. Auch dass die rheinische Medienlandschaft diese Haltung des Umfelds quasi als öffentliche Meinung verkaufen würde. Aber dass zwischenzeitlich ganz Deutschland jede Minute mitzählte, die der Spieler kein Tor mehr geschossen hatte, und damit nach und nach auch die Stammplatzgarantie Podolskis in Frage stellte, potenzierte das Druckszenario auf den 24-Jährigen ins Extreme. Valerien Ismael sagte einmal über seine Zeit beim FC Bayern: „Jeder kämpft um seinen Platz und muss über seine Grenzen gehen. Denn die Konkurrenz schläft nicht. In so einer Situation kommt es zu der einen oder anderen Überreaktion, die an die Öffentlichkeit gelangt.“ In Podolskis Fall entlud sich der Überdruck ausgerechnet in Richtung derer, die ihn nach Ansicht des einstigen Springinsfeld mit erzeugt hatten: die Reporter. Ein Teufelskreis.
Dabei ist Druck im Profifußball beileibe keine Zeitgeisterscheinung. Im Gegenteil. Ohne sich selbst unter Druck zu setzen, kann ein Sportler wohl kaum Höchstleistungen erzielen. Bernhard Peters, ehemaliger Hockeynationaltrainer und heutiger Direktor für Sport- und Nachwuchsförderung bei der TSG Hoffenheim, sagt: „Druck ist etwas Spezifisches und Gutes im Leistungssport, denn Druck fokussiert. Nur der Leistungssportler, der in der Lage ist, psychischem Druck standzuhalten, ist auch erfolgreich.“ Christoph Daum setzte seine Kicker schon in den Neunzigern unter künstlichen Druck, indem er sie über Glasscherben wandeln ließ und damit die Erkenntnis schuf, dass mit eisernem Willen alles zu erreichen sei. Spieler wie Oliver Kahn oder Uli Stein lebten zu ihrer aktiven Zeit in einer ständigen Drucksimulation, um in der entscheidenden Spielsituation nicht die nötige Körperspannung vermissen zu lassen. Stein verbrachte Halbzeitpausen oft auf dem Klo, um wenigstens dann bei einer Zigarette für Augenblicke zu entspannen. Auf einen leistungsbezogenen Vertrag bei Arminia Bielefeld verzichtete der Keeper einst mit den Worten: „Stell dir vor, mein Verteidiger lässt seinen Gegenspieler laufen, der mir dann frei vor dem Tor den Ball ins Netz haut! Den würde ich vor Wut gleich auf dem Rasen umbringen.“
Boxbeutel zur Schweinshaxe – das war einmal
Und doch hat sich die Lebenswelt eines Fußballers verändert. Von Gerd Müller, dessen einzigartige genetische Veranlagung zur Antizipation von Spielsituationen ihn dazu brachte, als Mittelstürmer mit 365 Bundesligatoren einen Rekord für die Ewigkeit aufzustellen, ist der Satz überliefert: „Wennst nachdenkst, is’ eh zu spät.“ Müller spielte in Zeiten, als Selbstzweifel noch nicht grassierten und Druckkompensation ungleich leichter fiel. Das Leben von Fußballern abseits des Feldes war so privat, dass der „Bomber“ mit seinem Kumpel Franz Beckenbauer jeden Freitagabend vor Heimspielen in der Sportschule Grünwald unbehelligt einen Boxbeutel zur Schweinshaxe trinken konnte.
Auch Lukas Podolskis Coolness wird darauf zurückgeführt, dass er sich keinen Kopf macht und auch mal Fünfe gerade sein lässt. Doch in Zeiten, in denen jegliche Regung eines Profis unmittelbar öffentlich verhandelt wird, tut sich selbst ein weniger reflektierter Spieler mitunter schwer, das Nachdenken einfach wegzuschlagen. An einem vergebenen Elfmeter können Millionen hängen, eine Rote Karte zur falschen Zeit kann den Abstieg bedeuten und für Dutzende im Verein die Arbeitslosigkeit. Kurz: Würde ein Goalgetter wie Gerd Müller heutzutage am Vorabend eines Matches mit einem kleinen Radler im Vereinsheim von einem Boulevardjournalisten gesehen, wären disziplinarische Folgen wohl vorprogrammiert.
So empfindet ein Spieler am Ende dasselbe, was jeden Arbeitnehmer umtreibt: die Angst um den Job, um das Auskommen, die öffentliche Anerkennung und sein individuelles Quantum Macht. Mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, dass sich die Wahrnehmung des Spielers je nach Erfolg von Woche zu Woche verändert.
Druckszenarien können vielfältig sein: Mit Grausen erinnert sich Thomas Brdaric an die Pfiffe von den Rängen, als der ehemalige Hannoveraner in der Saison 2004/05 mit dem VfL Wolfsburg ins Niedersachsenstadion zurückkehrte. „Zwölf Tore hatte ich in der Vorsaison für 96 geschossen, und jetzt wurde ich ausgebuht. Wenn du bei den Fans keine Chance hast, dann bist du tot.“
In solchen Momenten reagiert jeder Profi anders: Den einen motivieren die Pfiffe und erzeugen eine Trotzreaktion, dem anderen gelingt kein Flachpass über zehn Meter mehr. Ein Spieler, der mit der Spielsituation nervlich nicht zurechtkommt, fällt auch im klubinternen Konkurrenzkampf zurück.
Aber nur wer regelmäßig spielt, hat auch die Chance, langfristig wirtschaftliche Sicherheit zu erlangen. Deshalb ist die Verletzung wohl der größte Stress, unter den ein Profi geraten kann. Wer verletzt ist, kann der Mannschaft nicht helfen, was einhergeht mit dem Verlust der Akzeptanz durch die gesunden Spieler, wirtschaftlichen Einbußen und schließlich dem Gefühl der Minderwertigkeit. Manche Kicker setzt die Angst vor der Bedeutungslosigkeit derart unter Druck, dass sie Fitness vortäuschen. Die Folgen sind verheerend: Etliche Profis päppeln sich aus Angst, keine Rolle mehr zu spielen, mit Schmerzmitteln fast bis zur Gefühllosigkeit und riskieren so mitunter eine frühzeitige Invalidität.
„Entweder du gewinnst, oder du verlierst“
Doch diesem Nominierungs- und Erwartungsdruck unterliegt, wenn auch in Abstufungen, jeder Leistungssportler. Was den Fußballer nachhaltig von anderen unterscheidet, ist der Druck, den Medien verursachen. Bernhard Peters sagt: „Medien erhöhen den Erwartungsdruck in der Öffentlichkeit ungemein. Viele Spieler fürchten sich vor den Beurteilungen der Nicht-Könner in den Redaktionen.“ Wie der Einzelne mit dieser Situation umgeht, hängt auch von seiner Persönlichkeit ab. Stefan Effenberg schien jede Negativschlagzeile zu Höchstleistungen zu pushen, Sebastian Deisler hat die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit letztlich die Karriere gekostet. In einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ sagte er: „Ich habe etwas getragen und ausgehalten, was nicht jeder in diesem Geschäft erleben muss. Stellen Sie sich mal damals die Schlagzeile vor: Der Retter des deutschen Fußballs muss gerettet werden. In dieser Welt ist man nur jemand, wenn man keine Schwächen zeigt: Entweder du gewinnst, oder du verlierst.“
Deisler gehört zu den 17 Prozent der Menschen, die in unserer Gesellschaft unter Depressionen leiden. Auch wenn es eine hohe Dunkelziffer unter Fußballern gibt, ist das Ausmaß seines Leidens sicherlich eine Ausnahme im Profisegment. Um Lizenzspieler zu werden, durchläuft schon der Nachwuchs einen Selektionsprozess. „Jemand, der sich auf diesem Weg zu viel zu Herzen nimmt, fällt meist schon früher durchs Raster“, sagt Dr. Thomas Nickel, Psychiater am Max-Planck-Institut in München, wo Sebastian Deisler in Behandlung war. „Doch Deisler war von seinem Talent derart herausragend, dass er sehr rasch die Spitze erreichte, obwohl er von seiner Persönlichkeit her nicht unbedingt für dieses Leben geschaffen war.“
Der Normalfall im Profigeschäft sind robustere Charaktere, die in der Lage sind, ihre Situation rational zu bewerten und sich Auswege aus Druckszenarien zu schaffen. BVB-Kapitän Sebastian Kehl sagt: „Als Fußballer stellst du dir irgendwann die Frage: Lese ich die Zeitungen, oder lese ich sie nicht? Ich lese sehr wenig, auch weil ich weiß, wie das Geschäft tickt und wie die Kritiken oder Lobeshymnen ausfallen werden.“ Oliver Kahn machte es sich noch einfacher, um sein Überleben als Alphatier im umkämpften Geschäft abzusichern: „Man stumpft halt ab.“
Exemplarisch dafür, wie die Karriere eines Durchschnittsprofis verlaufen kann, wenn ein Spieler den Druck nicht kompensieren kann, ist die Laufbahn von Tobias Rau. 48 Spiele für den VfL Wolfsburg reichten, um aus dem talentierten Linksverteidiger die große deutsche Defensivhoffnung zu machen. Gut 2,2 Millionen Euro ließ sich der FC Bayern München 2003 die Dienste des Jungstars kosten. Nach nur zwei Jahren Bundesliga stand Rau plötzlich auf der Sonnenseite des Lebens. Bis ihn die harte bajuwarische Realität wie eine Keule traf. In München stand er am Ende der Nahrungskette hinter Leitwölfen wie Thomas Linke oder Bixente Lizarazu. Trainer Felix Magath ließ Rau nach zwei Einsätzen zu Beginn der Saison 2003/04 auf der Bank, und der musste zunächst allein mit seiner Situation zurechtkommen. „Leistung und Erfolg sind im Fußball wichtiger als soziales Verhalten“, sagt Rau heute. „Wegen der extremen Konkurrenz ist sich jeder selbst der Nächste.“
Erst als sich Mehmet Scholl des Neulings annahm, verbesserten sich dessen Aussichten. Der Routinier zeigte Rau in aller Deutlichkeit seine Fehler und Schwächen auf und riet dem schüchternen Blondschopf zu einer frecheren Gangart im Training. Die Belohnung dafür folgte prompt: Weil ihm Scholl auch nahegelegt hatte, Gespräche mit dem Trainer zu suchen, kam Rau bald wieder zu Einsatzzeiten.
„Im Fußball ist kein Platz für Menschlichkeit“
Doch dann warf ihn eine Verletzung nach wenigen Spielen wieder aus dem Kader. „Fußball ist ein Wochengeschäft, da bleibt kein Platz für allzu viel Menschlichkeit“, sagt Rau, „Du musst funktionieren, und wer nicht funktioniert, hat Pech gehabt.“
Zeit für sich, Zeit, um abzuschalten, hatte Tobias Rau während seiner aktiven Karriere eigentlich nur in der Sommerpause. Der ständige Nominierungsdruck, die eigenen Erwartungen und die seines persönlichen Umfelds, sie spielten in jenen Wochen plötzlich keine Rolle mehr. „In der Zeit habe ich gemerkt, wie sehr ich körperlich ausgezehrt war“, berichtet Rau. „Alle Last fiel von mir ab, ich war fix und fertig.“
Nach zwei Jahren endete das Abenteuer München. Arminia Bielefeld zahlte nur noch ein Drittel der Ablösesumme, die Bayern München einst an Wolfsburg überwiesen hatte. Raus Marktwert war rapide gesunken. In Bielefeld erwartete man dennoch Wunderdinge von dem Linksfuß. „Jeder dachte, der schießt jetzt in jedem Spiel zwei Tore für uns. Ich konnte diese Erwartungen natürlich nicht erfüllen, also waren alle enttäuscht.“ Die Folge des überzogenen Erwartungsdrucks: Rau machte in vier Jahren Bielefeld nur 32 Spiele, war häufig verletzt und beendete 2009 vorzeitig seine Karriere, um ein Lehramtsstudium in Bielefeld zu beginnen. Die Bilanz des heute 29-Jährigen: „Fußball ist eine Scheinwelt. Du kannst deinen eigentlichen Charakter nicht ausleben und musst ein guter Schauspieler sein, um zu bestehen.“
Während sich Spieler in Brasilien vor dem Anstoß üblicherweise in einer langen Reihe aufstellen und gemeinsam urinieren, um Druck physisch abzubauen, ist man in Deutschland ungleich humorloser. Druck ist entweder der Motor einer Karriere. Oder ihr Garaus. Moderne Profikader sind das Abbild einer knallharten Auslese. Die distinguierte Führungsriege des deutschen Teams um Jogi Löw sucht den perfekten Fußballer über engmaschige Scoutingnetze. Krummbeinige Dribbelkönige wie Wolfram Wuttke oder Pierre Littbarski würden heute wegen ihrer „körperlichen Dysbalancen“ genauso durchfallen wie psychisch Labile. Im Profifußball kommt eine scheinbar stressresistente Elite an. Wer diesen Sprung geschafft hat, tut sich naturgemäß schwer damit, Schwächen einzugestehen. Die Profi-DNA sieht eine Fehlprogrammierung nun mal nicht vor.
Doch auch der taffste Profi ist ein Mensch. So ist sich das Gros der Bundesligaprotagonisten zwar da- rüber einig, dass es für Robert Enke das Beste gewesen wäre, mit seinen Depressionen offen umzugehen. Indes zweifelt aber niemand daran, dass ihm ein solches Bekenntnis beruflich geschadet hätte. Doch öffentlich will niemand mit dieser Aussage zitiert werden.
Jens Todt, Ex-Nationalspieler und inzwischen Leiter des Nachwuchsleistungszentrums beim VfL Wolfsburg, erklärt die Angst der Aktiven, psychische Probleme zu offenbaren: „Fußball ist eine recht kleine Branche, sehr traditionell und im Kern konservativ. Da tut man sich naturgemäß schwer mit Spielern, die Schwächen zugeben.“ Ist doch klar: Ein Trainer, der sich zwischen einem vermeintlich psychisch gefestigten Spieler entscheiden muss und einem, der bekennt, dass er mit Versagensängsten zu kämpfen hat, wird sich im Zweifelsfall immer für ersteren entscheiden. Bernhard Peters ergänzt: „Es ist ein typisches Phänomen, dass Spieler nicht mit dem Empfinden von Druck nach außen gehen und diesen für sich behalten. Viele kapseln sich ab und agieren nur als Ich-AG. Es gibt auch Extrembeispiele, wo Spieler unter Schlafstörungen und anderen psychischen Krankheiten leiden.“ Die Hochschule für Gesundheit und Sport in Berlin hat ermittelt, dass fünfzig Prozent aller Hochleistungssportler sich einmal im Monat ausgebrannt fühlen, 75 Prozent davon leiden zudem regelmäßig unter Schlafstörungen.
„Der Zweifel sitzt in der linken Gehirnhälfte“
Schon in den siebziger Jahren starteten im deutschen Fußball die ersten psychologischen Optimierungsexperimente. Auch damals war vielen klar: Ein Gedanke zur falschen Zeit kann vieles kaputtmachen. Damals stieß Professor Fritz Stemme zur Nationalmannschaft. Er hatte sich mit sowjetischen Athleten beschäftigt, denen durch kosmonautisches Training die Angst vor Verletzungen genommen wurde, etwa vor dem Genickbruch beim Abgang vom Reck. Nun sollte der Wissenschaftler von der Uni Bremen Bernd Hölzenbein den Bammel vorm Strafstoß nehmen – mit Hilfe der Visualisierungsmethode, im Volksmund: Kopfkino. „Je öfter ich mir vorstelle, dass ich einen Elfmeter verwandle, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich es in der konkreten Situation auch tatsächlich schaffe“, dozierte er. „Der Zweifel sitzt in der linken Gehirnhälfte. Je mehr ein Fußballer mit der rechten Gehirnhälfte denkt, desto besser: Dort laufen die handlungsanleitenden Filme ab, die Prozesse, die ein Spieler Tausende Male geübt hat.“ Zwar konnte auch Stemme nicht verhindern, dass Uli Hoeneß im EM-Endspiel 1976 gegen die Tschechoslowakei seinen Elfer in den Nachthimmel von Belgrad hämmerte – doch der Siegeszug der psychologischen Druckimmunisierung hatte begonnen.
Psychologische Begriffe wie „Motivation“, „mental“ und „Krise“ gingen in den Sprachschatz des Fußballs über – auch wenn alte Trainerzampanos sich dagegen wehrten. „Krisen“, so Otto Rehhagel gallig, „gibt es auf der Intensivstation, aber nicht im Fußball.“ Zuletzt rieb der konservative Rudi Assauer sich auf Schalke in Rückzugsgefechten gegen den Modernisierer Ralf Rangnick auf. Da bewirkte die physiologische Trainingswissenschaft schon längst keine bedeutenden Leistungsvorsprünge mehr – das Momentum lag in der Psychologie.
Heute beschäftigt nahezu jeder Spitzenverein einen Sportpsychologen, doch 40 Jahre nach Prof. Stemmes Pionierarbeit zeigt sich ein paradoxes Bild: So wie ein hochkomplizierter Computer störungsanfälliger ist als ein Rechenschieber, sind die modernen Spieler offenbar empfänglicher für Druckszenarien als die alten. Profis, die scheinbar perfekt auf Extremsituationen vorbereitet sind, kriegen die Flatter, wenn diese tatsächlich eintreten. Psychologen haben ein Auge darauf, ob ein Spieler besonders oft über Zipperlein klagt, die seinen Einsatz gefährden, oder ob sich ein Kicker jeden noch so unbedeutenden Infekt einfängt, der gerade im Umlauf ist. All das können Symptome der übergroßen Anspannung sein. Die Ursache solcher Erscheinungen sind Versagensängste. Zumeist lassen sich solche Symptome noch glimpflich nach dem Medizinmann-Prinzip kompensieren. Ein letztes Handauflegen des Masseurs oder die jüngst in Mode gekommenen Tapestreifen, die sich Spieler an verschiedenste Stellen des Körpers kleben, sind eher Rituale und Placebos als tatsächliche medizinische Maßnahmen. Wenn die nicht mehr helfen, hilft nur noch der Gang zum Seelenklempner.
Junge Fußballer leiden unter eindimensionalem Druck
Ex-Profi Uwe Harttgen ist einer aus dieser Riege der Bundesliga-Psychologen. Seit seinem Karriereende arbeitet er im Nachwuchsleistungszentrum von Werder Bremen. Das Phänomen des „Wollens aber nicht Könnens“ unter den Aktiven ist sein täglich Brot. Er weiß aus seiner Zeit als Spieler: Der Profisport glaubt, dass Leistung ständig optimiert werden kann. Darin erkennt Harttgen den Kern des Problems. Seinen Respekt zollt er deshalb denjenigen, die in der Lage sind, übertriebenen Erwartungen auch mal eine lange Nase zu zeigen: „Johan Micoud konnte mit einem herrlichen Selbstverständnis auch schlecht spielen. Leistung kann nicht immer gesteigert werden. Wir müssen endlich mal verstehen und akzeptieren, dass Leistungsschwankungen normal sind. Auf hohem sportlichem Niveau ist der Umgang mit Leistungsschwankungen die zentrale Frage, nicht die der Leistungssteigerung.“
Rückrufaktionen sind bei Fußballern nun mal nicht möglich. Also bleibt den Klubs lediglich die sorgsame Prophylaxe. Längst gehört es für sie dazu, jungen Talenten auch eine andere Perspektive zu eröffnen. Denn gerade Jugendliche leiden oft unter dem eindimensionalen Druck, es um jeden Preis in den Profifußball schaffen zu müssen. Eine reine Orientierung auf die Bundesliga aber wirkt sich in den meisten Fällen stark leistungsmindernd aus. Profiklubs sind sich inzwischen ihrer Verantwortung für den Nachwuchs bewusst, von dem nur ein Bruchteil den Sprung in das Lizenzteam schafft. Junge Spieler werden deshalb dazu angehalten, neben der fußballerischen auch weitere Identitäten sowohl über die schulische Bildung als auch über soziale Kompetenz zu entwickeln. Beides soll ihnen in den Eliteschulen der Erstligisten beigebracht werden, um die Voraussetzungen für positives Leben und Denken zu gewährleisten. Jens Todt sagt: „Junge Spieler werden in ihrem Umfeld oft schon wie kleine Stars behandelt. Wenn Eltern, Freunde und Klassenkameraden suggerieren, dass alles andere als eine Profikarriere als Scheitern zu sehen wäre, können Versagensängste aufkommen. Deshalb sage ich auch: Wer am Ende in der dritten Liga spielt und sich damit sein Studium finanziert, ist keineswegs gescheitert, sondern auch ein erfolgreicher Kicker.“
In Übungseinheiten werden Spielern mentale Techniken beigebracht, die helfen sollen, subjektive Bedrohungssituationen als Herausforderungssituationen zu begreifen. So ist die Medizin zu der Erkenntnis gelangt, dass beispielsweise positive Selbstgespräche dazu führen, dass ein Spieler ganz im Hier und Jetzt agiert und sich besser auf seine Aufgaben fokussieren kann.
Im Idealfall gehen aus diesen Schulungen psychisch konstante Typen wie Sebastian Kehl oder Manuel Friedrich hervor. Letzterer macht sich dem Vernehmen nach so wenig Gedanken um Fußball, dass er mitunter erst bei der Teambesprechung erfährt, gegen wen sein Klub tags drauf antritt. Als er von Mainz nach Leverkusen wechselte, tat er dies auch in der Überzeugung, dort ruhiger und unbehelligter arbeiten zu können als in großen Medienstädten. Seine Rationalität ist sein Erfolgsgeheimnis: „Fußball ist auch Glücksache. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Das einzusehen, kann dem Einzelnen den Druck nehmen.“
Sebastian Kehl hat in bislang zwölf Profijahren mehr Rückschläge hinnehmen müssen als viele seiner Kollegen. Medienschelten, langwierige Verletzungen, Formtiefs – der Dortmunder hat alles mitgemacht. Das, sagt er, gehöre nun mal zum Geschäft. Für ihn heißt das Schlüsselwort für die erfolgreiche Gratwanderung zwischen sportlichem Erfolg und seelischer Gesundheit: Authentizität. Fußball sei ein Spiegel der Gesellschaft: „Du hast harte Hunde und Sensibelchen. Wer den harten Mann spielt, ohne es wirklich zu sein, der wird auf Dauer keinen Erfolg haben und vermutlich daran zerbrechen. Was nicht authentisch ist, macht dich kaputt.“ Kehl kommt zu dem Schluss, dass keine Schwäche zu zeigen auf Dauer keine Lösung ist. Sein Appell: „Auch im Fußball kann und muss man sich Sensibilität erlauben können. Das ist auch in diesem Beruf kein Schimpfwort.“
Burn-Out und Depression sind in der Liga angekommen
Leichter gesagt als getan, denn in der Männerdomäne regiert am Ende doch der Mob. Die menschenverachtenden Schmähungen, die Sebastian Deisler bei seiner kurzen Rückkehr allein bei Spielen für die Amateure des FC Bayern ertragen musste, haben bewiesen, dass diese Gesellschaft noch nicht bereit ist, Fußballikonen auch als Anti-Helden zu akzeptieren. Und doch muss auch der dumpfeste Stadionbesucher angesichts Deislers Bekenntnis akzeptieren, dass der Burn-Out und die Depression in den Profiligen angekommen ist. Wie auf dem freien Arbeitsmarkt gibt es auch im Fußball keine längerfristigen Stellen, sprich Stammplätze, mehr. So wie kaum ein Mensch noch bis zur Rente in derselben Firma arbeitet, zählen auch unter Kickern die Verdienste von gestern nichts mehr. Thomas Hitzl sperger, der über Jahre beim VfB Stuttgart den Leitwolf gab, verlor nach einem Formtief in der laufenden Spielzeit den Anschluss an die Stammformation. Um überhaupt noch zum Einsatz zu kommen, ließ er sich daraufhin kurzerhand zu Lazio Rom transferieren.
Parallel zur verringerten Arbeitsplatzsicherheit hat im Fußball der kurzfristige Ergebnisdruck zugenommen. Diese Situation muss ein junger Mensch erst einmal kompensieren können. Psychiater Nickel bringt es auf den Punkt: „Vorstände von Dax-Konzernen haben schon x‑mal gezeigt, dass sie sich durchsetzen und Druck aushalten können, bevor sie derart in der Öffentlichkeit stehen, wie es Profis tun. Aber bei jungen Fußballern kann diese Wahrnehmung fast über Nacht entstehen. Einige sind dem nicht gewachsen.“ Sportphilosoph Dr. Reinhard K. Sprenger geht noch einen Schritt weiter, wenn er die Situation, in der sich ein erfolgreicher Fußballer befindet, zwangsläufig mit einer Persönlichkeitsverformung gleichsetzt. Aus seiner Perspektive ist es zumindest entwicklungspsychologisch überaus fragwürdig, einen jungen Menschen einzig wegen seiner fußballerischen Fertigkeiten aus der Umgebung und Familie heraus zu ziehen, um dessen singuläres Talent alternativlos auszubeuten. „Fast jeder Nationalspieler ist heute durch diese nicht kindgemäße Früh-Entbettung deformiert, weil fast alle aus ihrem natürlichen Umfeld herausgehoben worden sind. Ihre Entwicklung ist bruchhaft, steil aufsteigend und außengesteuert. Im Fußball zeigt es sich, wer über die Kompetenz verfügt, mit dieser Situation umzugehen und wer nicht.“
Zunächst sah es so aus, als fehle Martin Meichelbeck die Fähigkeit, sich in diesem System durchzusetzen. In der Saison 1998/99 feierte er sein Profi-Debüt bei Greuther Fürth unter Trainer Benno Möhlmann, der den Neuling aber nur eine Handvoll Spiele machen ließ. Zu wenig für Meichelbeck, der schon bald überlegte, die Karriere dranzugeben, weil ihm Bankdrückerei den ständigen Konkurrenzdruck nicht wert schien. Ein glückliche Fügung des Schicksals, wie sich im Nachhinein herausstellte. Denn der Profi begann nebenher ein Studium der Verhaltenswissenschaft. Nach dem Umweg über den VfL Bochum spielt er inzwischen wieder in Fürth und blickt mit 33 auf eine solide Karriere zurück. Druck ist für ihn zum Lebensthema geworden: Er praktiziert parallel zum Profitum als sportpsychologischer Coach bei seinem Verein. Mehrmals in der Woche sitzt er mit Mitspielern zusammen und spricht mit ihnen über Stress, Anspannung und Versagensängste. Er sagt: „Ängste hat jeder Mensch. Und Fußballer sind nun einmal Menschen.“ Er kennt die situationsbedingte Furcht der Spieler aus eigener Erfahrung, vor dem Fehlpass, vor der vergebenen Chance, und er weiß, was die Spieler umtreibt: „Die Angst vor den Konsequenzen.“
Dass sich moderne Spieler mehr mit den möglichen Folgen ihres Handelns beschäftigen als die Kicker früherer Jahre, hängt auch mit dem soziologischen Phänomen des Nominalismus zusammen. Sich intensiv mit den inneren Befindlichkeiten auseinanderzusetzen, ist eine Erscheinung unserer Zeit. Nominalismus beschreibt den Vorgang, dass Begriffe eine ganz bestimmte Realität erst erzeugen, die die Menschen sensibilisiert und möglicherweise auch pathologisiert. Wo war Stress vor dem Wort „Stress“? Wo war der Burn-Out? Auch diese Entwicklung ist eine Analogie zur gesamtgesellschaftlichen Veränderung: Während es früher „Ärger im Büro“ gab, seziert inzwischen eine ganze Mobbingindustrie unzumutbare Zustände am Arbeitsplatz. Die Knochenprellung, die einst vom Trainer mit einem harschen „Stell dich nicht so an!“ quittiert wurde, trägt heute so futuristische Namen wie „Bone Bruise“ und erfordert bei manchen Spielern einen Heilungsprozess von bis zu vier Wochen.
„Dinge wie Burn-Out scheinen plötzlich in zu sein“
Auch HSV-Keeper Frank Rost, einer der letzten Vertreter der Generation Karohemd in einer sich zusehends verjüngenden Bundesliga, erkennt bei Nachwuchsspielern die Ausformungen des Nominalismus. Er sagt: „Dinge wie Burn-Out scheinen plötzlich in zu sein. Viele horchen in sich hinein und finden irgendwo ein Körnchen Zweifel.“ Ein Grund für diese Entwicklung könnte auch der Terminplan eines deutschen Profis sein, der immer noch viele Leerzeiten zwischen Vor- und Nachmittagstraining beinhaltet. Jürgen Klinsmann plante als Coach des FC Bayern nicht zuletzt deshalb, den Acht-Stunden-Tag einzuführen, weil er die Spieler davor bewahren wollte, zu viel zu reflektieren und dabei auf falsche Gedanken zu kommen. Denn klar ist doch: Wer zu viel Zeit hat, fängt automatisch an, um sich selbst zu kreisen. Sportphilosoph Reinhard K. Sprenger bringt es auf eine simple Gleichung: „Ein Mensch muss sich nur dreimal fragen, ob er glücklich ist, dann findet er schon irgendwann einen guten Grund, warum er es gerade nicht ist. Das ist die Not der Notlosigkeit.“ Stress ist eine Wohlstandskrankheit. Eine These, die auch Ewald Lienen bestätigen kann. Er ging als Spieler in die Annalen der Bundesliga ein, als ein Bremer Abwehrspieler ihm mit den Alu-Stollen den Oberschenkel aufriss. Das Foto machte ihn zur Symbolfigur des leidenden Profis. 1987 gehörte er zu den Gründern der Vereinigung der Vertragsfußballspieler, die sich für die Rechte von Kickern einsetzt. Als Trainer arbeitete er in Spanien und Griechenland, was ihn zu der Erkenntnis gebracht hat, gerade den Profis hierzulande mangele es mitunter an Stressresistenz. „Es ist eine typisch deutsche Krankheit, zu sehr auf die Meinung anderer zu hören. Viele Spieler nehmen viel zu ernst, wenn man ihnen in jungen Jahren sagt, sie seien die Größten beziehungsweise das Letzte. Auf meinen Auslandsstationen habe ich junge Spieler kennengelernt, die sich davon nicht so leicht beeinflussen lassen.“
Doch Zeitgeist hin, Zeitgeist her, Versagensangst hier, Sozialdarwinismus dort – das Geschäft nimmt keine Rücksicht auf die Zweifel eines Profis. Das Leistungsprinzip greift in der globalisierten Fußballwelt. Druck war, ist und bleibt ein systemimmanentes Phänomen, das jeder Profi, der erfolgreich sein will, auf seine Weise kompensieren muss. Wer seine Versagensängste nicht in den Griff bekommt – mit oder ohne medizinische Hilfe – fällt früher oder später dem Ausleseprozess zum Opfer. Und spätestens, wenn das Karriereende naht, beschleicht auch den robustesten Kicker eine ganz besondere Form der Angst: dass das Adrenalin nicht mehr kommt. Wenn dieser Augenblick, bevor man das Feld betritt und im Spielertunnel der Bauch zu kribbeln beginnt, unwiederbringlich vorbei ist. Spätestens wenn der Applaus ausbleibt, gerät fast jeder Fußballer in eine Identitätskrise. Da geht es dem Kicker nicht anders als dem einstigen Tennisidol Boris Becker, der nach seiner aktiven Karriere vieles ausprobierte, um im Fokus der Öffentlichkeit zu bleiben. Doch so gut wie auf dem Centre Court wurde er nirgends sonst. Game, Set and Match – das ist Geschichte. „Wenn alle dem Druck standhalten würden“, sagte Becker als Aktiver mal, „gäbe es tausend Wimbledonsieger.“