Der Fußball lebt von seiner Unvollkommenheit. Doch haben wir uns durch die heroische Fernsehinszenierung längst an die Perfektion gewöhnt. Grund genug, wieder seinen eigenen Augen zu trauen.
„Ihr seht ein anderes Turnier als ich“, schrieb uns ein Kollege, der für 11FREUNDE in Frankreich unterwegs ist. Während wir offenbar das Ende herbeiwünschten, treffe er überwiegend Menschen, die sich nach dem ewigen Fußballsommer sehnten, ihm selbst gehe es übrigens genauso.
Nun sind die Perspektiven des Reporters vor Ort und der daheimgebliebenen Redakteure naturgemäß verschieden, aber dass sie einander derart widersprechen, stimmt doch nachdenklich. Wie mag es kommen, dass wir in Deutschland offenbar ein anderes Turnier sehen, als es in Frankreich stattfindet? Da geht wohl etwas auf dem Übertragungswege verloren. Und zwar mehr, als verloren gehen müsste.
Die Distanz zum Geschehen ist größer denn je
Mittendrin statt nur dabei: So lautete in den Neunzigern der Slogan des DSF. Kameramännern drangen so nah ans Entmüdungsbecken vor, dass die Linse beschlug. Letztlich blieb es freilich bei dem, was der Begriff Fernsehen schon sagt: Man sah von ferne zu. Und doch war eine Erwartung geweckt. Die Zeiten, in denen Heribert Faßbender in der Sportschau aus seiner gemütlichen Strickjacke heraus die Oberliga-Tabelle verlas, waren vorüber.
Ein viertel Jahrhundert später scheint die Distanz zum Geschehen allerdings größer denn je. Und das, obwohl die technischen Möglichkeiten soweit gereift sind, dass wir an der Grenze zur virtuellen Rezeption stehen. Es ist aber womöglich gar keine technische Distanz, sondern eine emotionale. Und die stellt sich paradoxerweise wiederum durch Technik ein.
Als würde eine Mondrakete starten
Der Fußball, der seit je her von seiner Unvollkommenheit lebt, von Fehlpässen, Eigentoren und Grätschen ins Leere, wird so ästhetisiert, als sei er das Vollkommenste überhaupt.
Alles, so suggeriert es die geradezu cineastische Inszenierung, sei heroisch, und die Hoffnung, dass in jedem Moment etwas nie Dagewesenes geschieht, wird dermaßen geschürt, dass sie nur noch enttäuscht werden kann.
Bestes Beispiel: Dem Anstoß ist neuerdings ein Countdown vorgeschaltet, als starte sogleich eine Mondrakete, es erfolgt aber eben doch nur: ein Anstoß.
Mit einem Versprechen, das sie selbst gar nicht einlösen können und mit dem die Fußballer heillos überfordert sind, haben die Fernsehsender uns zu verwöhnten Kindern erzogen. Wir wollen immer größere Siege, immer schönere Tore, Niederlagen ertragen wir nicht. Es ist die Cristianoronaldoisierung des Fußballguckens.
Vielleicht sollten die Regisseure sich an der isländischen Mannschaft orientieren, an der sich gerade die Sehnsucht der Fans nach archaischer Unvollkommenheit kristallisiert – und einfach mal nur das rohe Spiel zeigen, mit zwei Kameras, wie früher. Vielleicht sollten wir auch einfach mal wieder selbst ins Stadion gehen, wie der Kollege. Es schadet ja nie, etwas mit eigenen Augen gesehen zu haben, zumal wenn man sich Journalist nennt.