Durch den Abbruch der schottischen Premier League steht Heart of Midlothian als Absteiger fest. Noch im Februar waren wir zu Besuch in Edinburgh und haben Daniel Stendel und Jörg Sievers bei ihrem riskanten Abenteuer begleitet.
In der Straße direkt neben dem Stadion Tynecastle können sich Fans frisieren, tätowieren und volllaufen lassen. Im Stimmengewirr des Pubs fallen tatsächlich auch deutsche Worte. „You need legs for the gegenpressing.“ Das Wort hat im Englischen Karriere gemacht wie autobahn oder zeitgeist – und Stendels Version hat hier mittlerweile sogar eine eigene Bezeichnung: das Gorgiepressing, angelehnt an Gorgie, den hiesigen Stadtbezirk. Vor dem Pub „The Diggers“ steht Duncan Porteous, ein hagerer aber lebhafter Typ. Wie viele Schotten scheint er für dicke Kleidung im Winter noch weniger übrig zu haben als für England. So wippt er im dünnen Pulli von einem Bein aufs andere, doch erklärt mit breitestem Grinsen: „Daniel hat uns den Glauben zurückgegeben. Mit ihm geht’s irgendwann zurück nach Europa.“ Er habe alles richtig gemacht, die alten Spieler auszusortieren. Für den Spielstil brauchen sie halt Frische. „Daniel weiß, was er tut, Mann.“ Nach dem Sieg gegen die Rangers erfand Porteous unter der Dusche einen neuen Text auf die Melodie des Klassikers von Creedence Clearwater Revival „Bad Moon Rising“: We’ve got a diamond Daniel Stendel! Sein Kumpel und er stimmten es in einer Bar an, immer mehr sangen mit und dann ging ein Video davon durch die Fanszene.
Beim Spiel gegen Kilmarnock erhebt sich in der fünften Minute ein großer Teil der Haupttribüne, um ihn anzustimmen. Die Hearts erspielen sich in den ersten Minuten gleich drei Ecken. Kilmarnock verschanzt sich tatsächlich. Stendel kommandiert, wandert und wirbelt durch die Luft. Im Mittelfeld spielt der Deutsche Marcel Langer, im Winter von Schalke geholt, durchaus engagiert. Der andere ehemalige Schalker Donis Avdijaj hingegen fehlt im Kader. Der einst so Hochbegabte hat nach Stationen in ganz Europa und aufsehenerregenden Videos von Stendel eine neue Chance in Schottland bekommen. Aber sie bislang nicht genutzt. Verletzt sei er, so die Mitteilung, aber im Klub sind sie auch der Meinung, dass Selbsteinschätzung und bisherige Leistung nicht unbedingt in gesundem Verhältnis zueinander stehen. Avdijaj ist an diesem Tag auch nicht im Stadion zu finden. Seine Energie könnten die Hearts durchaus gebrauchen, die Offensive stochert relativ hilflos umher. In der Luft ziehen die Hearts immer wieder den Kürzeren, vorne und hinten: Nach einer Ecke und einem Konter liegen sie 0:2 zurück. „Hearts are falling apart again“, singen die Gästefans. Das Stadion ist gut besucht, die Atmosphäre pendelt zwischen den Extremen. Es wirkt, als würde der Betrunkenste auf einer Party an den Lautstärkereglern hantieren. Mal ist es so leise, dass man die Rufe wie bei einem Testkick hört, dann schwillt bei einer gelungenen Grätsche der Roar der Ränge an. Als der Hearts-Torwart einen einfachen Distanzschuss durchlässt, ist der lautstarke Unmut fast körperlich spürbar. Danach jedoch bekommen die Hearts einen Elfmeter, und das Publikum brüllt zur Aufholjagd. Stendel schwingt die Arme mit, nur unterbrochen von kurzen Besprechungen mit Jörg Sievers. Die Spieler drängen mit allem, was sie haben, in den Strafraum, doch niemand öffnet den Durchgang. Die Hearts verlieren den Verstand, bringen keinen durchdachten Angriff mehr zuwege. Der Schiedsrichter pfeift ab. 2:3‑Niederlage daheim. Und die Konkurrenz hat gewonnen. Es wird eng.
Eine Dreiviertelstunde später steht Daniel Stendel im schwarzen Trainingsanzug vor den Kabinen. Er ist heiser, der Blick leer. Doch die Hände schwingen weiter mit. Auf die weißen Steine in der Flurwand malt er mit den Fingern die Bewegungen der beiden Innenverteidiger vor dem 0:2 nach. Sie haben sich auseinanderziehen lassen und das Zentrum geöffnet. Es ist zum Verzweifeln. Der Trainer von Kilmarnock hatte kurz vorher gesagt, dass sein Plan aufgegangen sei: Sie hatten mit dem Vorrücken der Hearts gerechnet und auf den Raum hinter den hochstehenden Verteidigern spekuliert. Stendels Mannschaft ist ins Messer gelaufen. Ist also das Risiko zu groß?
Die Spieler zeigen die Leidenschaft und die jugendliche Hingabe, den Gegner im Rudel zu bedrängen. Jörg Sievers sagt: „Die Mannschaft hat Klasse, ich bin sicher, dass sie nicht absteigt.“ Der Sieg gegen die Rangers gibt ihm Recht. Doch für die hohe Verteidigungslinie brauchen sie auch Automatismen und Sicherheit im Passspiel, um nicht übertölpelt zu werden. Beides ließe sich in einer Vorbereitung einstudieren, doch viel Zeit haben Stendel und Sievers nicht mehr. Die bittere Erkenntnis aus Hannover schwebt wie ein Damoklesschwert über Tynecastle: Viel Lob und Liebe zählen am Ende nicht – sondern nur Ergebnisse.
Daniel Stendel wischt sich in den Katakomben mit den Händen durchs Gesicht. Klatscht kurz aufmunternd. Sie brauchen jetzt Ergebnisse. Das 2:3 war ein herber Rückschlag, klar. Doch: „Ich will nicht nur drauf hoffen, dass der Gegner kein Tor schießt. Wir wollen unser eigenes Spiel durchziehen, dazu gehört: hoch pressen, hoch verteidigen, damit der Weg zum gegnerischen Tor kürzer und der Weg zu unserem länger ist.“ Am Tabellenende heißt es jetzt ruhig Mut bewahren. Stendel fügt an: „Wir rücken von unserem Stil nicht ab.“
Drei Tage später schickt Duncan Porteous Videos vom folgenden Pokalsieg in Falkirk. In einer Sportsbar tanzen und springen Dutzende ekstatische Hearts-Fans, zwei werden auf den Schultern getragen, spritzen ihre Getränke durch die Gegend. Vor dem Spiel, wohlgemerkt. Als wären sie nicht Letzter, sondern auf dem Weg zur Meisterschaft. Sie grölen den Text, der Porteous unter der Dusche eingefallen ist. Minutenlang versichern sie sich ihrer Entdeckung des Diamanten. Beseelt und trotzig. He brought in high press attacking football. Stendel’s got us playing. Hearts are back!