Durch den Abbruch der schottischen Premier League steht Heart of Midlothian als Absteiger fest. Noch im Februar waren wir zu Besuch in Edinburgh und haben Daniel Stendel und Jörg Sievers bei ihrem riskanten Abenteuer begleitet.
Nach dem Aus bei 96 musste er länger als gedacht auf ein neues Engagement warten. Dann riss sich plötzlich der englische Drittligist Barnsley um ihn, ein Klub mit Eigentümern aus China und den USA, die nach dem „Moneyball“-Prinzip Spieler und Trainer casten, also auf Basis von Daten und Statistiken. Stendel und Adi Hütter waren 2018 ganz oben auf der Liste bei der Fahndung nach offensiv denkenden Coaches. Er sollte die Erwartungen übererfüllen, stieg mit Barnsley direkt auf und wurde zum „besten Trainer der Liga“ gekürt. Doch bei der Auswahl neuer Spieler überwarfen sich Besitzer und Trainer, so ist es aus England zu hören. Im Oktober setzte ihn der Klub vor die Tür. Stendel will sich dazu nicht äußern, die Parteien treffen sich wegen ausstehender Zahlungen voraussichtlich noch vor Gericht.
Barnsleys Fans waren da schon lange auf seiner Seite und organisierten eine Abschiedsparty für ihn. Ein Video der Feier zeigt Stendel, wie er in einem Pulk von Leuten Tequila trinkt. Es sei der einzige an diesem Abend gewesen, meint er, aber irgendwer hielt mit dem Handy drauf. Und eigentlich spielt es auch keine Rolle, ob an diesem Abend die Bar geplündert wurde – schließlich hängt auch in einem Pub von Barnsley, den er nur zwei Mal besucht hat, ein Foto von ihm mit der Aufschrift „Stendel’s corner“. Die Leute dürsten nach Fußballern, die mal einen mittrinken. Stendel inszeniert die Nähe nicht aus Selbstzweck, er wirkt wie ein Fan vor der Absperrung, unprätentiös und unverstellt. Hearts on his sleeve. Verbringt man einige Stunden mit ihm, lässt sich kein Unterschied erkennen zwischen der Person und dem Trainer, er spricht mit Kellnern genauso wie mit Spielern oder Pressevertretern. Duzt, drückt die Schultern, ist immer in Bewegung. Man habe einen scheuen Deutschen erwartet, sagte die Hearts-Klubbesitzerin mal, und einen Italiener bekommen.
Ja, für die Geduld, da habe er schließlich Jörg, scherzt Stendel. Jörg Sievers sitzt neben ihm, er ist eigentlich „Colt“ und Kult in Hannover. Der ewige Pokalheld war 30 Jahre lang im Verein, zuletzt als Torwarttrainer, nun ist er Co-Trainer bei den Hearts. Sievers, nach der Fernsehfigur „Colt Seavers“ gerufen, strahlt die Unerschütterlichkeit und Ruhe eines Vertrauenslehrers aus. Ein Ruhepol neben dem Cheftrainer. Jahrzehnte bei Hannover 96 lehren die Menschen wohl Unverzagtheit gegenüber den Aufgeregtheiten der Welt. Noch vor zwei Monaten schien es, dass eher die Leine durch Edinburgh fließt, als dass Sievers 96 verlässt. „Für Außenstehende mag mein Wechsel schwer nachvollziehbar sein, für mich war die Entscheidung nicht schwer“, sagt Sievers. „Das lag zum einen an meinem Vertrauen zu Daniel, zum anderen habe ich mir die Frage gestellt: Nur Hannover – ist es das gewesen? Ich bin noch nicht so alt und wollte so ein Abenteuer noch mal wagen.“
Auch Stendel kann das Abenteuer ausführlich erläutern. Er hätte genauso gut auf Jobs aus der zweiten Liga, in Deutschland oder England, warten können. Schottland hingegen gilt nicht als Hotspot des europäischen Fußballs. Deswegen sagte er zunächst ab, doch der Klub ließ nicht locker. Bei seinem ersten Besuch bemerkte er in den Bars, Taxis oder Hotels, wie jeder Bewohner entweder über die Hearts oder den großen Rivalen Hibs sprach. Ins Stadion kommen regelmäßig um die 18 000 Zuschauer, Tausende reisen auswärts mit, sieben Medien berichten über jedes Spiel. „Es ist, als würdest du in Deutschland Schalke trainieren. Und am wichtigsten: Ich kann mich hier ausleben und spüre das volle Vertrauen des Klubs.“ Sievers ist direkt bei seinen ersten Besuchen rund um Weihnachten aufgefallen, wie familiär die Hearts daherkommen. Dieses Credo verfolgen viele Klubs, doch hier lässt sich ohne Pathos feststellen: Die Fans und die Community haben den Verein vor dem sicheren Tod gerettet. Zusammen mit anonymen Spendern haben sie seit 2014 für den finanziell gebeutelten Klub stattliche zehn Millionen Pfund aufgetrieben.
„Wir standen haarscharf vor dem Aus. Die Hearts wären ausgelöscht gewesen“
Alastair Bruce, ein zuvorkommender schottischer Gentleman, trinkt in der Fankneipe Orangensaft. Bruce zieht sich den dunkelrot-weißen Balkenschal sanft zurecht. Er sitzt im Vorstand der Initiative „Foundation of Hearts“, die den Verein mit letzter Kraft am Leben hielt. Bruce kann mit akkurater Erinnerung die Schritte in die Hölle nachzeichnen: Klubbesitzer Wladimir Romanow, ein russischer Unternehmer aus Litauen, führte mit seinen waghalsigen Transfers und seiner Pleite die Hearts 2014 geradewegs in die Insolvenz. Die Folge: 30 Millionen Pfund Schulden und 15 Punkte Abzug. Dann verschwand Romanow spurlos. Bis heute. „Wir standen haarscharf vor dem Aus. Die Hearts wären ausgelöscht gewesen“, sagt Bruce. Die heutige Klubbesitzerin, eine erfolgreiche IT-Unternehmerin und Dauerkarteninhaberin, sprang damals mit ihrem Geld ein. Das war die Rettung in letzter Sekunde. In diesem Frühjahr wird die letzte Rate an sie zurückgezahlt, die Anhänger übernehmen ihre Anteile. Mit über 75 Prozent hält die „Foundation of Hearts“ dann die Mehrheit und zwei Sitze im Vorstand. Die Hearts werden damit einer der größten fangeführten Vereine auf der Insel sein.
Finanziell steht der Verein heute so gesund da wie lange nicht, aber sportlich rutschte er zuletzt immer weiter ab. Der Fußball war unansehnlich, die Spieler wirkten träge und satt. Aus genau dieser Erfahrung speist sich die Faszination für Daniel Stendel und seinen Stil. Die traditionsreichen Hearts, im Selbstverständnis Nummer drei des Landes, haben ihr Ende mit letzter Kraft abgewendet. Sie wollen ein Team, das ebenso furchtlos sein Schicksal in die eigene Hand nimmt.