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Als Tabel­len­letzter ist Heart of Mid­lothian durch den Sai­son­ab­bruch der Scot­tish Pre­mier League abge­stiegen. Weil sie die ange­wen­dete Quo­ti­en­ten­regel für unge­recht halten, erwägen sie, recht­liche Schritte ein­zu­leiten. Wie der Klub mit seinen deut­schen Trai­nern Daniel Stendel und Jörg Sie­vers ver­sucht hat, sport­lich die Klasse zu halten und dabei in Schott­land jede Menge Begeis­te­rung aus­ge­löst hat, haben wir für 11FREUNDE #220 ergründet. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhält­lich.

Hier kommt ihr nicht rein. Der kom­pakte, schot­ti­sche Sta­di­on­ordner macht mit grim­miger Miene und Alex-Fer­guson-Gemurmel deut­lich: Das große Eisentor zur Haupt­tri­büne bleibt ver­schlossen. Wir wollen mit dem Vor­sit­zenden der Fan­in­itia­tive dort ein Foto schießen, erklären, dass wir für eine Repor­tage über die Hearts und deren deut­schen Trainer Daniel Stendel hier seien. Ihr kennt Daniel?“, fragt der Ordner, wäh­rend sich sein Gesicht auf­hellt. Das reicht. Er öffnet das Tor, Stendel“ mutiert hier zum schot­ti­schen Abra­ka­dabra. Einige Meter ent­fernt im Fan­shop ver­kauft der Klub Kaf­fee­tassen mit seinem Kon­terfei und Imi­tate seiner Stepp­jacke für 60 Pfund als Stendel Jacket“. Außerdem haben die Anhänger einen Song für ihn gedichtet. Und spricht man mit ihnen, bitten sie danach noch einmal ein­dring­lich per SMS: Please make sure to let Daniel know that we love him and what he is doing. Sagt Daniel bitte, wie sehr wir ihn lieben.

Stendel arbeitet seit Anfang Dezember als Trainer bei den Hearts. Es ist einer der großen Tra­di­ti­ons­klubs des Landes, gegründet 1874, der Name ist einem Tanz­lokal ent­lehnt. Wenn lang­jäh­rige Fans über die Ver­gan­gen­heit des Klubs spre­chen, dann vorweg über den Ersten Welt­krieg. Das kom­plette Team der Hearts, damals Tabel­len­führer, mel­dete sich 1914 zusammen mit Fans für den Kriegs­dienst im foot­bal­lers bat­tailon – sieben Spieler ver­loren ihr Leben. 1960 wurden die Hearts zum letzten Mal Meister. In den sieb­ziger und acht­ziger Jahren schlugen sie im Euro­pacup Lok Leipzig und die Bayern. Doch die Erfolge sind ver­welkt. Auch Sten­dels Bilanz zwei Monate nach Amts­an­tritt regt nicht gerade zu Hymnen an: fünf Nie­der­lagen, drei Unent­schieden, zwei Siege (einer gegen einen Zweit­li­gisten). Die Hearts stehen auf dem letzten Platz. Warum also diese Ehr­erbie­tung? Und warum wirft sich der Trainer hinein in den grauen schot­ti­schen Abstiegs­kampf? Das Lie­bes­aben­teuer in Edin­burgh lässt sich erklären – mit Tequila, Colt, Dia­manten und einer ganzen Menge Risiko.

Attacke am Abgrund

Am Morgen vor dem Liga­spiel gegen Kil­mar­nock Anfang Februar schwirrt Stendel über den Trai­nings­platz am Oriam Sports Per­for­mance Centre, es ist so etwas wie Edin­burghs Sport­eli­te­zen­trum. Die Sonne scheint tat­säch­lich in Schott­land, trotzdem wird es manchmal dunkel, denn die Schränke der schot­ti­schen Rugby-Natio­nal­mann­schaft trai­nieren nebenan. Der Rasen ist noch feucht, der Ball titscht, die Rufe hallen über die große Grün­fläche. All in move, guys, all in move“, weist Stendel seine Angreifer an, dann wendet er sich den Ver­tei­di­gern zu: Stay not too deep.“ Die Hearts proben das Angriffs­spiel von der Innen­ver­tei­di­gung aus, die Offen­sive soll Kom­mandos geben, mit wel­chen Lauf­wegen sie Lücken reißen. Ein Stürmer kommt kurz, lässt den Ball klat­schen, der Ball geht nach außen und hop­pelt dann in die Mitte, wo ein Angreifer ohne jede Gegen­wehr ver­zieht. Stendel fragt ab: Which move was it?“ Sie spielen gegen den Abstieg, und doch proben sie, wie sie eine Abwehr­kette aus­ein­an­der­ziehen. Der Gegner morgen, Siebter in der Tabelle, wird sich gegen die Hearts hinten rein­stellen. So erwartet es Stendel. Attacke am Abgrund. Die Spieler nicken angetan, sie keu­chen den Anwei­sungen hin­terher, doch viele Tore schaffen sie nicht. Toco­tronic würden anmerken: Die Idee ist gut, doch die Hearts noch nicht bereit.

Nach dem Trai­ning stellen sich einige Jüng­linge mit dünnem Kreuz und hohen Rücken­num­mern vor ein Wasch­be­cken. Sie putzen mit der Bürste die Schuhe und könnten als Jugend­spieler durch­gehen, doch zwei von ihnen werden morgen von Anfang an spielen. Der 19-jäh­rige Andy Irving soll das Mit­tel­feld sor­tieren. Daniel Stendel setzt auf den Nach­wuchs, er scherzt mit den Jungs nach dem Trai­ning. Große Namen wie der lang­jäh­rige Kapitän Chris­tophe Berra oder der iri­sche Natio­nal­spieler Glenn Whelan spielen hin­gegen keine Rolle mehr. Sie beklagten sich laut­stark in der schot­ti­schen Presse über ihr Aus. Ich wurde unter den Bus geworfen“ oder Das war ama­teur­haft“, zischten sie.

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Wir putzen euch alle! Die jungen Spieler im Kader rei­nigen nach dem Trai­ning die Schuhe der gesamten Mann­schaft.

Robert Ormerod

Daniel Stendel seufzt, als er auf die Vor­würfe ange­spro­chen wird. Er wirft sich kurz zurück in die Polster des Steak­re­stau­rants, in dem er am Abend sitzt. Sein Vor­gänger hat das Lokal emp­fohlen, als er Stendel vor dem Amts­an­tritt durch die Stadt führte. Wir hatten relativ viele ältere Spieler und brauchten einen Cut. Der Umgang mit den Spie­lern war ganz normal, wurde aber später medial auf­ge­bauscht“, sagt er. Er kann von seinem Platz aus auf das Edin­burgh Castle bli­cken, unten vor dem Ein­gang stehen dem Kli­schee getreu eine Kuh und eine Wil­liam-Wal­lace-Figur. Es ist hier schwer, sich von Ikonen zu trennen.

Mitten in seinen Aus­füh­rungen spricht ihn der Kellner von der Seite auf die guten Ergeb­nisse an. Stendel ent­gegnet, dass nur letzte Woche ein gutes Ergebnis her­aus­ge­sprungen sei, da hatten die Hearts end­lich in der Liga gewonnen – und das aus­ge­rechnet gegen die großen Ran­gers. Es war der Höhe­punkt der großen Euphorie um ihn und den Klub, doch Stendel blickt fast skep­tisch auf die Prei­sungen. Schon einmal, im Jahr 2016, hatte er einen Klub wie­der­be­lebt: Han­nover 96. Hatte die Fans wieder mit ins Boot geholt, junge Spieler ins Team gebracht, die Ver­bin­dungen zum Nach­wuchs ver­bes­sert und die Öffent­lich­keit mit Offen­siv­fuß­ball ver­zückt. Nach nicht einmal einem Jahr wurde er ent­lassen, weil im auf­ge­regten Han­nover gut nicht mehr gut genug war. Am Ende dankt dir das alles keiner, da geht es nur um die Ergeb­nisse“, sagt er.

Nach dem Aus bei 96 musste er länger als gedacht auf ein neues Enga­ge­ment warten. Dann riss sich plötz­lich der eng­li­sche Dritt­li­gist Barn­sley um ihn, ein Klub mit Eigen­tü­mern aus China und den USA, die nach dem Moneyball“-Prinzip Spieler und Trainer casten, also auf Basis von Daten und Sta­tis­tiken. Stendel und Adi Hütter waren 2018 ganz oben auf der Liste bei der Fahn­dung nach offensiv den­kenden Coa­ches. Er sollte die Erwar­tungen über­erfüllen, stieg mit Barn­sley direkt auf und wurde zum besten Trainer der Liga“ gekürt. Doch bei der Aus­wahl neuer Spieler über­warfen sich Besitzer und Trainer, so ist es aus Eng­land zu hören. Im Oktober setzte ihn der Klub vor die Tür. Stendel will sich dazu nicht äußern, die Par­teien treffen sich wegen aus­ste­hender Zah­lungen vor­aus­sicht­lich noch vor Gericht.

Barn­s­leys Fans waren da schon lange auf seiner Seite und orga­ni­sierten eine Abschieds­party für ihn. Ein Video der Feier zeigt Stendel, wie er in einem Pulk von Leuten Tequila trinkt. Es sei der ein­zige an diesem Abend gewesen, meint er, aber irgendwer hielt mit dem Handy drauf. Und eigent­lich spielt es auch keine Rolle, ob an diesem Abend die Bar geplün­dert wurde – schließ­lich hängt auch in einem Pub von Barn­sley, den er nur zwei Mal besucht hat, ein Foto von ihm mit der Auf­schrift Stendel’s corner“. Die Leute dürsten nach Fuß­bal­lern, die mal einen mittrinken. Stendel insze­niert die Nähe nicht aus Selbst­zweck, er wirkt wie ein Fan vor der Absper­rung, unprä­ten­tiös und unver­stellt. Hearts on his sleeve. Ver­bringt man einige Stunden mit ihm, lässt sich kein Unter­schied erkennen zwi­schen der Person und dem Trainer, er spricht mit Kell­nern genauso wie mit Spie­lern oder Pres­se­ver­tre­tern. Duzt, drückt die Schul­tern, ist immer in Bewe­gung. Man habe einen scheuen Deut­schen erwartet, sagte die Hearts-Klub­be­sit­zerin mal, und einen Ita­liener bekommen. 

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Han­nover liegt nun in Edin­burgh. Daniel Stendel und Jörg Sie­vers sei Dank.

Robert Ormerod

Ja, für die Geduld, da habe er schließ­lich Jörg, scherzt Stendel. Jörg Sie­vers sitzt neben ihm, er ist eigent­lich Colt“ und Kult in Han­nover. Der ewige Pokal­held war 30 Jahre lang im Verein, zuletzt als Tor­wart­trainer, nun ist er Co-Trainer bei den Hearts. Sie­vers, nach der Fern­seh­figur Colt Sea­vers“ gerufen, strahlt die Uner­schüt­ter­lich­keit und Ruhe eines Ver­trau­ens­leh­rers aus. Ein Ruhepol neben dem Chef­trainer. Jahr­zehnte bei Han­nover 96 lehren die Men­schen wohl Unver­zagt­heit gegen­über den Auf­ge­regt­heiten der Welt. Noch vor zwei Monaten schien es, dass eher die Leine durch Edin­burgh fließt, als dass Sie­vers 96 ver­lässt. Für Außen­ste­hende mag mein Wechsel schwer nach­voll­ziehbar sein, für mich war die Ent­schei­dung nicht schwer“, sagt Sie­vers. Das lag zum einen an meinem Ver­trauen zu Daniel, zum anderen habe ich mir die Frage gestellt: Nur Han­nover – ist es das gewesen? Ich bin noch nicht so alt und wollte so ein Aben­teuer noch mal wagen.“

Auch Stendel kann das Aben­teuer aus­führ­lich erläu­tern. Er hätte genauso gut auf Jobs aus der zweiten Liga, in Deutsch­land oder Eng­land, warten können. Schott­land hin­gegen gilt nicht als Hot­spot des euro­päi­schen Fuß­balls. Des­wegen sagte er zunächst ab, doch der Klub ließ nicht locker. Bei seinem ersten Besuch bemerkte er in den Bars, Taxis oder Hotels, wie jeder Bewohner ent­weder über die Hearts oder den großen Rivalen Hibs sprach. Ins Sta­dion kommen regel­mäßig um die 18 000 Zuschauer, Tau­sende reisen aus­wärts mit, sieben Medien berichten über jedes Spiel. Es ist, als wür­dest du in Deutsch­land Schalke trai­nieren. Und am wich­tigsten: Ich kann mich hier aus­leben und spüre das volle Ver­trauen des Klubs.“ Sie­vers ist direkt bei seinen ersten Besu­chen rund um Weih­nachten auf­ge­fallen, wie fami­liär die Hearts daher­kommen. Dieses Credo ver­folgen viele Klubs, doch hier lässt sich ohne Pathos fest­stellen: Die Fans und die Com­mu­nity haben den Verein vor dem sicheren Tod gerettet. Zusammen mit anonymen Spen­dern haben sie seit 2014 für den finan­ziell gebeu­telten Klub statt­liche zehn Mil­lionen Pfund auf­ge­trieben.

Wir standen haar­scharf vor dem Aus. Die Hearts wären aus­ge­löscht gewesen“

Alastair Bruce

Alas­tair Bruce, ein zuvor­kom­mender schot­ti­scher Gen­tleman, trinkt in der Fan­kneipe Oran­gen­saft. Bruce zieht sich den dun­kelrot-weißen Bal­ken­schal sanft zurecht. Er sitzt im Vor­stand der Initia­tive Foun­da­tion of Hearts“, die den Verein mit letzter Kraft am Leben hielt. Bruce kann mit akku­rater Erin­ne­rung die Schritte in die Hölle nach­zeichnen: Klub­be­sitzer Wla­dimir Romanow, ein rus­si­scher Unter­nehmer aus Litauen, führte mit seinen wag­hal­sigen Trans­fers und seiner Pleite die Hearts 2014 gera­de­wegs in die Insol­venz. Die Folge: 30 Mil­lionen Pfund Schulden und 15 Punkte Abzug. Dann ver­schwand Romanow spurlos. Bis heute. Wir standen haar­scharf vor dem Aus. Die Hearts wären aus­ge­löscht gewesen“, sagt Bruce. Die heu­tige Klub­be­sit­zerin, eine erfolg­reiche IT-Unter­neh­merin und Dau­er­kar­ten­in­ha­berin, sprang damals mit ihrem Geld ein. Das war die Ret­tung in letzter Sekunde. In diesem Früh­jahr wird die letzte Rate an sie zurück­ge­zahlt, die Anhänger über­nehmen ihre Anteile. Mit über 75 Pro­zent hält die Foun­da­tion of Hearts“ dann die Mehr­heit und zwei Sitze im Vor­stand. Die Hearts werden damit einer der größten fan­ge­führten Ver­eine auf der Insel sein.

Finan­ziell steht der Verein heute so gesund da wie lange nicht, aber sport­lich rutschte er zuletzt immer weiter ab. Der Fuß­ball war unan­sehn­lich, die Spieler wirkten träge und satt. Aus genau dieser Erfah­rung speist sich die Fas­zi­na­tion für Daniel Stendel und seinen Stil. Die tra­di­ti­ons­rei­chen Hearts, im Selbst­ver­ständnis Nummer drei des Landes, haben ihr Ende mit letzter Kraft abge­wendet. Sie wollen ein Team, das ebenso furchtlos sein Schicksal in die eigene Hand nimmt.

In der Straße direkt neben dem Sta­dion Tynecastle können sich Fans fri­sieren, täto­wieren und voll­laufen lassen. Im Stim­men­ge­wirr des Pubs fallen tat­säch­lich auch deut­sche Worte. You need legs for the gegen­pres­sing.“ Das Wort hat im Eng­li­schen Kar­riere gemacht wie auto­bahn oder zeit­geist – und Sten­dels Ver­sion hat hier mitt­ler­weile sogar eine eigene Bezeich­nung: das Gor­gie­pres­sing, ange­lehnt an Gorgie, den hie­sigen Stadt­be­zirk. Vor dem Pub The Dig­gers“ steht Duncan Por­teous, ein hagerer aber leb­hafter Typ. Wie viele Schotten scheint er für dicke Klei­dung im Winter noch weniger übrig zu haben als für Eng­land. So wippt er im dünnen Pulli von einem Bein aufs andere, doch erklärt mit brei­testem Grinsen: Daniel hat uns den Glauben zurück­ge­geben. Mit ihm geht’s irgend­wann zurück nach Europa.“ Er habe alles richtig gemacht, die alten Spieler aus­zu­sor­tieren. Für den Spiel­stil brau­chen sie halt Fri­sche. Daniel weiß, was er tut, Mann.“ Nach dem Sieg gegen die Ran­gers erfand Por­teous unter der Dusche einen neuen Text auf die Melodie des Klas­si­kers von Cree­dence Cle­ar­water Revival Bad Moon Rising“: We’ve got a dia­mond Daniel Stendel! Sein Kumpel und er stimmten es in einer Bar an, immer mehr sangen mit und dann ging ein Video davon durch die Fan­szene.

Beim Spiel gegen Kil­mar­nock erhebt sich in der fünften Minute ein großer Teil der Haupt­tri­büne, um ihn anzu­stimmen. Die Hearts erspielen sich in den ersten Minuten gleich drei Ecken. Kil­mar­nock ver­schanzt sich tat­säch­lich. Stendel kom­man­diert, wan­dert und wir­belt durch die Luft. Im Mit­tel­feld spielt der Deut­sche Marcel Langer, im Winter von Schalke geholt, durchaus enga­giert. Der andere ehe­ma­lige Schalker Donis Avdijaj hin­gegen fehlt im Kader. Der einst so Hoch­be­gabte hat nach Sta­tionen in ganz Europa und auf­se­hen­er­re­genden Videos von Stendel eine neue Chance in Schott­land bekommen. Aber sie bis­lang nicht genutzt. Ver­letzt sei er, so die Mit­tei­lung, aber im Klub sind sie auch der Mei­nung, dass Selbst­ein­schät­zung und bis­he­rige Leis­tung nicht unbe­dingt in gesundem Ver­hältnis zuein­ander stehen. Avdijaj ist an diesem Tag auch nicht im Sta­dion zu finden. Seine Energie könnten die Hearts durchaus gebrau­chen, die Offen­sive sto­chert relativ hilflos umher. In der Luft ziehen die Hearts immer wieder den Kür­zeren, vorne und hinten: Nach einer Ecke und einem Konter liegen sie 0:2 zurück. Hearts are fal­ling apart again“, singen die Gäs­te­fans. Das Sta­dion ist gut besucht, die Atmo­sphäre pen­delt zwi­schen den Extremen. Es wirkt, als würde der Betrun­kenste auf einer Party an den Laut­stär­ke­reg­lern han­tieren. Mal ist es so leise, dass man die Rufe wie bei einem Test­kick hört, dann schwillt bei einer gelun­genen Grät­sche der Roar der Ränge an. Als der Hearts-Tor­wart einen ein­fa­chen Distanz­schuss durch­lässt, ist der laut­starke Unmut fast kör­per­lich spürbar. Danach jedoch bekommen die Hearts einen Elf­meter, und das Publikum brüllt zur Auf­hol­jagd. Stendel schwingt die Arme mit, nur unter­bro­chen von kurzen Bespre­chungen mit Jörg Sie­vers. Die Spieler drängen mit allem, was sie haben, in den Straf­raum, doch nie­mand öffnet den Durch­gang. Die Hearts ver­lieren den Ver­stand, bringen keinen durch­dachten Angriff mehr zuwege. Der Schieds­richter pfeift ab. 2:3‑Niederlage daheim. Und die Kon­kur­renz hat gewonnen. Es wird eng.

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Daniel hat uns den Glauben zurück­ge­geben. Mit ihm geht’s nach Europa“ – Duncan Por­teous

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Eine Drei­vier­tel­stunde später steht Daniel Stendel im schwarzen Trai­nings­anzug vor den Kabinen. Er ist heiser, der Blick leer. Doch die Hände schwingen weiter mit. Auf die weißen Steine in der Flur­wand malt er mit den Fin­gern die Bewe­gungen der beiden Innen­ver­tei­diger vor dem 0:2 nach. Sie haben sich aus­ein­an­der­ziehen lassen und das Zen­trum geöffnet. Es ist zum Ver­zwei­feln. Der Trainer von Kil­mar­nock hatte kurz vorher gesagt, dass sein Plan auf­ge­gangen sei: Sie hatten mit dem Vor­rü­cken der Hearts gerechnet und auf den Raum hinter den hoch­ste­henden Ver­tei­di­gern spe­ku­liert. Sten­dels Mann­schaft ist ins Messer gelaufen. Ist also das Risiko zu groß?

Die Spieler zeigen die Lei­den­schaft und die jugend­liche Hin­gabe, den Gegner im Rudel zu bedrängen. Jörg Sie­vers sagt: Die Mann­schaft hat Klasse, ich bin sicher, dass sie nicht absteigt.“ Der Sieg gegen die Ran­gers gibt ihm Recht. Doch für die hohe Ver­tei­di­gungs­linie brau­chen sie auch Auto­ma­tismen und Sicher­heit im Pass­spiel, um nicht über­töl­pelt zu werden. Beides ließe sich in einer Vor­be­rei­tung ein­stu­dieren, doch viel Zeit haben Stendel und Sie­vers nicht mehr. Die bit­tere Erkenntnis aus Han­nover schwebt wie ein Damo­kles­schwert über Tynecastle: Viel Lob und Liebe zählen am Ende nicht – son­dern nur Ergeb­nisse.

Gefühlt auf dem Weg zu Meis­ter­schaft

Daniel Stendel wischt sich in den Kata­komben mit den Händen durchs Gesicht. Klatscht kurz auf­mun­ternd. Sie brau­chen jetzt Ergeb­nisse. Das 2:3 war ein herber Rück­schlag, klar. Doch: Ich will nicht nur drauf hoffen, dass der Gegner kein Tor schießt. Wir wollen unser eigenes Spiel durch­ziehen, dazu gehört: hoch pressen, hoch ver­tei­digen, damit der Weg zum geg­ne­ri­schen Tor kürzer und der Weg zu unserem länger ist.“ Am Tabel­len­ende heißt es jetzt ruhig Mut bewahren. Stendel fügt an: Wir rücken von unserem Stil nicht ab.“

Drei Tage später schickt Duncan Por­teous Videos vom fol­genden Pokal­sieg in Fal­kirk. In einer Sportsbar tanzen und springen Dut­zende eksta­ti­sche Hearts-Fans, zwei werden auf den Schul­tern getragen, spritzen ihre Getränke durch die Gegend. Vor dem Spiel, wohl­ge­merkt. Als wären sie nicht Letzter, son­dern auf dem Weg zur Meis­ter­schaft. Sie grölen den Text, der Por­teous unter der Dusche ein­ge­fallen ist. Minu­ten­lang ver­si­chern sie sich ihrer Ent­de­ckung des Dia­manten. Beseelt und trotzig. He brought in high press attacking foot­ball. Stendel’s got us playing. Hearts are back!