Er passte mit der Hacke und schoss Elfmeter aus dem Stand – die Brasilianer erinnern sich an Sócrates aber vor allem wegen seiner politischen Ideen. Heute wäre der vielleicht einflussreichste Fußballer aller Zeiten 70 Jahre alt geworden.
Im Sommer 2011 schrieb Sócrates an einem neuen Buch. Er erzählte gerne davon, denn er glaubte, dass es gut werden würde. Als Protagonisten hatte er fiktive Charaktere entworfen, vornehmlich Touristen, die zur WM 2014 durch Brasilien reisen und dort sowohl landschaftliche Schönheit als auch gesellschaftliche Probleme vorfinden. Sócrates konnte das Buch nicht beenden, denn im August desselben Jahres wurde er mit Leberzirrhose und Magenblutung ins Krankenhaus „Albert Einstein“ in São Paulo eingeliefert. Chirurgen pflanzten ihm dort ein Metallrohr aus Nickel und Titan in die Leber, damit das Blut wieder zirkuliert.
Als es ihm wieder ein bisschen besser ging, beichtete er seinen Alkoholismus. „Ich bezahle für mein Problem“, sagte er. „Ich habe ein bisschen morgens getrunken, dann nachmittags. Pro Tag war es eine Flasche Wein.“ Danach schrieb er an seine Freunde und Fans: „Das Leben ist die pure Freude. Danke, danke, danke.“
„Er war vor allem ein Symbol. Er war wie Che!“
Kurze Zeit später, am 4. Dezember 2011, starb Sócrates an einem septischen Schock infolge einer Blutvergiftung. Ein ganzes Land schien den Atem anzuhalten. Ronaldo twitterte: „Ein trauriger Tag. Ruhe in Frieden, Dr. Sócrates“, und als sein alter Verein Corinthians Sao Paulo am Nachmittag gegen Palmeiras spielte, stellten sich die Spieler vor dem Anpfiff um den Mittelkreis und reckten ihre rechte Faust nach oben, so wie es Sócrates früher nach seinen Toren getan hatte. Mit einem 0:0 sicherte sich die Mannschaft die Meisterschaft, auf den Tribünen entrollten die Fans Plakate mit dem Konterfei Sócrates’. Auf einem stand: „Dieser Titel ist für dich, Doutor!“
Sócrates war in seinem Leben vieles gewesen: Regisseur, Schriftsteller, Aktivist, Kolumnist, Künstler, Musiker, Fußballer, Trinker, Hedonist, Lebemann, Revolutionär, Arzt. Sein Wegbegleiter Juca Kfouri, ein bekannter brasilianischer Journalist, sagt heute über ihn: „Er war vor allem ein Symbol. Er war wie Che!“
Es gibt hunderte Erzählungen über Sócrates. Und wie das so ist mit Revolutionären, gibt es mindestens genauso viele Mythen. Alle haben eines gemein: Sie sind auf der Suche nach dem Schlüsselmoment, nach einem Punkt, an dem sich Sócrates erstmals gegen ein bestehendes System auflehnte. Eine Geschichte, die sich beständig hielt, stammt aus Irland. Dort erzählt man sich noch heute, wie irgendwann in den frühen siebziger Jahren ein junger Brasilianer am University College in Dublin auftauchte. Er sah seltsam aus, er war groß und hatte lange dünne Beine. Er rauchte und trank, er studierte Medizin und war ein Frauenheld. Er hieß Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira, doch er stellte nur mit „Sócrates“ vor.
Sócrates entschied sich für die Zigaretten
Recht bald wurde Terry O’Neill, Trainer des College-Fußballteams, auf ihn aufmerksam, denn Sócrates konnte fantastisch Fußball spielen. Der junge Brasilianer war allerdings eigenartig, erzählte man sich, er stellte Regeln auf: Sonntags, sagte er, habe er keine Zeit, da könne er nicht spielen. Außerdem forderte er, dass jeder Spieler selbst entscheiden sollte, wie er sein Leben abseits des Platzes gestaltet, ob er rauchen oder trinken, ob er feiern oder studieren möchte. O’Neill schmiss ihn aus der Mannschaft. „Ich stellte ihn vor die Wahl: Fußball oder Zigaretten“, soll der Trainer gesagt haben. Sócrates entschied sich für die Zigaretten.
Noch Jahre später berichteten große Zeitungen wie der „Guardian“ oder der „Irish Daily Star“ über Sócrates’ Gastspiel in Irland. Beweise gab es dafür nicht, angeblich weil Sócrates mit der Reservemannschaft spielte, und diese ihre Spiele stets samstags auf einem Nebenplatz fern von Fotografen oder Journalisten ausgetragen hat. Brendan McKenna, einst Pressesprecher des irischen Verbands, fand all das so toll, dass er diese Geschichte weiterschrieb: „Natürlich spielte Sócrates in Irland. Aber das ist lange her, irgendwann in den siebziger Jahren!“ Als Sócrates eines Tages auf seine Zeit in Irland angesprochen wurde, sagte er: „Irland? Da war ich noch nie in meinem Leben!“
Eine andere Geschichte beginnt ebenfalls in den frühen siebziger Jahren, allerdings in Ribeirao Preto, im brasilianischen Bundesstaat Sao Paulo. Sócrates war gerade mit der Schule fertig geworden und überlegte, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Er konnte gut Fußball spielen und besaß eine außergewöhnliche Technik. Vielleicht weil er im Kindesalter, als er mit seinen Eltern noch im nordbrasilianischen und ärmlichen Belém lebte, nie mit einem Ball, sondern immer mit dem Kern einer Avocado gekickt hatte. Vielleicht aber auch, weil seine Füße trotz seiner Größe von 1,92 Metern erstaunlich klein waren: Er hatte Schuhgröße 41. So stakste er mit seinen langen Beinen über das Feld und sah dabei ein bisschen aus wie ein römischer Feldherr, der, je nachdem, wie es nötig war, den Ball mal mit dem Außenrist, mal mit der Hacke zu seinen Mitspielern schubste. „Er bewegte sich wie eine wandelnde Heuschrecke“, sagte der Künstler José Miguel Wisnik einmal.