Er passte mit der Hacke und schoss Elfmeter aus dem Stand – die Brasilianer erinnern sich an Sócrates aber vor allem wegen seiner politischen Ideen. Heute wäre der vielleicht einflussreichste Fußballer aller Zeiten 70 Jahre alt geworden.
Sócrates unterschrieb einen Vertrag bei Botafogo São Paulo. Doch weil er wusste, dass er in seinem Leben noch mehr tun wollte, als nur Fußball zu spielen, schrieb er eine bis dahin unübliche Klausel in seinen Vertrag. Er ließ sich zusichern, nebenher studieren zu dürfen und für zukünftige Vorlesungen vom Verein freigestellt werden zu können. Ein Jahr später immatrikulierte er sich an der medizinischen Fakultät von Ribeirao Pret, wo er 1978 promovierte.
Sein Vater, ein Beamter, hatte nie studiert. Trotzdem war er ein kluger Mann. Er las am liebsten die großen griechischen Philosophen, deshalb nannte er seine ersten drei Söhne Sócrates, Sósthenes und Sóphokles. „Er hat Bücher praktisch eingeatmet und mir so einen kritischen Geist in die Wiege gelegt“, sagte Sócrates später. Er war zehn Jahre alt, als er miterlebte, wie sein Vater seine eigenen Bücher verbrannte. Es war sein Protest gegen die neue Regierung Brasiliens: eine Militärdiktatur unter General Humberto Castelo Branco.
„Was wirklich zählt, ist Glücklichsein“
Sócrates versuchte sich später an Karl Marx’ „Kapital“ – und scheiterte. Er las lieber Jorge Amado, Thomas Hobbes oder Siegmund Freud. Seine Vorbilder waren Fidel Castro, Che Guevara und John Lennon. Die ersten beiden mochte er, weil sie seiner Ansicht nach Demokratisierungsprozesse in Lateinamerika in Gang gesetzt hatten, Lennon mochte er für seine Musik und seine humanistische Weltanschauung.
Viele Jahre später – Sócrates hatte seine Fußballkarriere mittlerweile beendet – fragte ihn ein Reporter, ob er enttäuscht sei, dass er nie einen WM-Titel errungen habe. Sócrates rezitierte eine der bekanntesten Lennon-Anekdoten. Als dessen Lehrerin den jungen Briten einmal fragte, was er werden wolle, antwortete er: „Glücklich.“ Daraufhin sagte die Lehrerin: „Du hast die Frage nicht richtig verstanden“, und Lennon sagte: „Frau Lehrerin, Sie haben das Leben nicht richtig verstanden.“ Sócrates gefiel dieses Bild. Er benutzte es immer mal wieder. Einmal sagte er: „Wozu braucht man Titel? Für den Lebenslauf? Was wirklich zählt, ist Glücklichsein.“ Sein Buch „Football Philosophy“ schließt mit dem Credo: „Zuerst kommt die Schönheit, der Erfolg ist zweitrangig.“
Mit Corinthians war er überregional nie sonderlich erfolgreich. In seiner Zeit gewann der Klub zwar dreimal die Staatsmeisterschaft von Sao Paulo, aber trotz seiner 172 Tore in 297 Spielen nicht ein einziges Mal die brasilianische Meisterschaft. Sein ehemaliger Mitspieler Wladimir sagt heute noch: „Sócrates ist nicht der beste Corinthians-Spieler aller Zeiten, das war Weltmeister Roberto Rivelino.“ Den mochten die Fans für seine Triumphe und Körpertäuschungen. Sócrates lagen sie zu Füßen. Sie verehrten ihn für seine Kraft und seinen Geist.
Es begann im Jahr 1981. Damals drohten die Corinthians im Chaos zu versinken. In der Meisterschaft, die in jenem Jahr über Vor- und Zwischenrunden ausgespielt wurde, schied die Mannschaft frühzeitig aus, und auch finanziell stand es schlecht um den Klub. Der frisch gewählte Präsident Waldemar Pires versuchte die Dinge neu zu ordnen und installierte als Sportdirektor Adilson Monteiro Alves, einen Soziologen, der bis dahin noch nie etwas mit Fußball zu tun gehabt hatte.
Schluss mit dem Autoritarismus!
Zu Saisonbeginn traf sich Alves mit dem Team. Was ursprünglich als ein zehnminütiges Kennenlernen angedacht war, entwickelte sich zu einer sechsstündigen Diskussion. Alves war erstaunt, wie reflektiert die Spieler bestimmte Probleme ansprachen. Er sagte: „Ich bin ein Neuling. Aber eines weiß ich: So wie es bisher gemacht wurde, machen wir es nicht. Schluss mit dem Autoritarismus! Schluss mit dem Konservativismus!“ So hatte noch nie ein Fußballfunktionär gesprochen, denn bis dahin sollten Profis vor allem eines: funktionieren. „Bis dahin waren wir Sklaven gewesen“, sagt Wladimir.
Alves und die Spieler trafen sich wieder und wieder. Mal schliefen einige Männer ein, weil die Sitzungen zu lange dauerten, mal sprachen sie nur über Kunst, mal luden sie Musiker oder Schriftsteller ein, die mit ihnen über die politischen Verhältnisse in Brasilien diskutierten.
Sie entschieden, fortan alle Dinge, die den Verein und die Mannschaft betrafen, im Kollektiv und durch Mehrheitsbeschluss zu treffen. Die Stimme des dritten Torwarts oder des Zeugwarts hatte dabei genauso viel Gewicht wie die des Sportdirektors oder des Mannschaftskapitäns. Der Name ihrer Bewegung lautete: „Democracia Corinthiana“. Es ging in dieser Demokratie zunächst um vermeintlich banale Dinge wie die Dauer von Trainingseinheiten oder das Mittagessen, später aber auch darum, sich dem in Brasilien üblichen „concentracao“ zu widersetzen. Nach dieser Praxis wurden Spieler schon Tage vor Spielen in Hotels einkaserniert, um sie von äußerlichen Einflüssen abzuschirmen. Die Spieler, Trainer und Funktionäre der Corinthians trafen sich nun am Vorabend zum gemeinsamen Essen, danach durften die Verheirateten zu ihren Frauen zurück. Nicht selten wurden auf solchen Abenden auch Spielertransfers gemeinsam diskutiert. „Wir gingen zu Alves und sagten: Wir hätten gerne, dass dieser oder jener Spieler für Corinthians spielt. Dann fragten wir ihn: ›Was hältst du davon?‹ Danach wurde abgestimmt“, sagt Wladimir.