Er passte mit der Hacke und schoss Elfmeter aus dem Stand – die Brasilianer erinnern sich an Sócrates aber vor allem wegen seiner politischen Ideen. Heute vor zehn Jahren ist der vielleicht einflussreichste Fußballer aller Zeiten gestorben.
Zahlreiche Spieler kamen, weil sie Gefallen an Corinthians demokratischen Strukturen fanden. Dennoch waren einige Neue von den Diskussionsexzessen auch irritiert. „Sie fragten: ›Warum spricht hier niemand über Fußball?‹“, sagte Sócrates. Die Fans standen von Anfang an hinter der Bewegung, insbesondere die Gruppe der „Gavioes da Fiel Torcida“ (“Die treuen Habichte“), die schon seit 1969 durch Parolen gegen die Militärdiktatur aufgefallen war. Ein Grund dafür mag der Erfolg sein, der sich in den kommenden Jahren einstellte. Zunächst konnte der Klub sämtliche Schulden tilgen und hatte für die kommende Spielzeit sogar noch Rücklagen übrig. In der Meisterschaft erreichte er 1982 immerhin das Halbfinale, 1983 gewann er erneut die Staatsmeisterschaft von São Paulo.
Die Corinthians hatten in einem Mikrokosmos die Utopie der Gleichheit aller Menschen verwirklicht. Doch ließ sich das Modell auch auf ganz Brasilien übertragen? Dort, wo mit Joao Figueiredo immer noch ein Diktator regierte? Sie wollten es versuchen, denn sie spürten, wie ihre eigene Bekanntheit der politischen Aufklärung zugutekommen könnte.
„Wir waren Revolutionäre, romantisch und naiv“
Anfang der Achtziger herrschte Aufbruchstimmung, die Menschen gingen auf die Straßen, um gegen das Regime zu demonstrieren, und sie suchten Gesichter, Ikonen, Anführer. Die Spieler der Corinthians trugen in dieser Zeit Trikots mit dem Aufdruck „Geht wählen!“, später hielten sie Plakate hoch, auf denen stand: „Siegen oder verlieren – aber immer demokratisch“. Die Regierung verhielt sich gegenüber der populären „Democracia Corinthiana“ anfangs zurückhaltend. Später, als die Diktatur bröckelte, machte sie Stimmung gegen die Bewegung. Sie verbot Schriftzüge, nannte Sócrates einen „bärtigen Kommunisten“ und hängte einem anderen Wortführer, Walter Casagrande, ein Drogendelikt an. „Wir waren Revolutionäre, romantisch und naiv“, sagt Alves in der Dokumentation „Rebellen am Ball“. „Wir stellten uns mit nackter Brust gegen die Kugeln.“
Welche Breitenwirkung das Auftreten der Spieler in der Bevölkerung hatte, zeigte sich an einem Tag im April 1984. Sócrates hatte just seinen Wechsel nach Florenz bekanntgegeben. Nun verkündete er auf dem Platz der Kathedrale in Sao Paulo, dass er bliebe, wenn die direkten Präsidentschaftswahlen anerkannt würden. Zwei Millionen Menschen jubelten ihm zu. Zwar ging die Abstimmung über die Direktwahlen verloren und Sócrates wechselte nach Italien, doch noch heute hängen die Worte Sócrates‘ an der Kathedrale: „Dann bleibe ich!“
Als Sócrates 1985 nach Brasilien zurückkehrte und einen Vertrag bei Flamengo unterschrieb, hatten im Land demokratische Strukturen Einzug gehalten. Bei den Corinthians herrschte allerdings wieder eine Hierarchie. Ohne die treibenden Kräfte wie Wladimir, Sócrates oder Casagrande, der zwischenzeitlich zum FC São Paulo gewechselt war, blieb das Modell der herrschaftsfreien Fußballteams ein Traum. „In Wirklichkeit war die ›Democracia Corinthiana‹ eine kleine Insel. Eine Insel, die eine gewisse Zeit überlebt hat“, sagt Wladimir heute.
Doch was bedeutet schon Erfolg?
Sócrates äußerte sich danach trotzdem noch häufig zu gesellschaftspolitischen Themen. Er radikalisierte seine Sicht bisweilen sogar. Während der WM 1986 sagte er: „Wenn es, um soziale Probleme zu lösen, nötig wäre, würde ich auch zum Gewehr greifen.“ Er behauptete außerdem, dass Spiele zugunsten Brasiliens und Mexikos aus politischen Gründen verschoben worden seien. Nabi Chedid, Vizepräsident des brasilianischen Fußballverbands, tobte. Kein Spieler sollte sich mehr zu politischen Dingen äußern. Sócrates trug seine Botschaften danach vornehmlich auf Stirnbändern.
Brasilien erreichte bei jener WM das Viertelfinale gegen Frankreich. Eines der dramatischsten WM-Spiele aller Zeiten ging ins Elfmeterschießen, Sócrates schoss aus dem Stand, so wie hunderte Male zuvor, Frankreichs Torwart Joël Bats hielt, und die Selecao war wieder einmal in Schönheit gestorben. Wie 1978, wie 1982. Die Jahrhundertelf war ohne Titel geblieben.
Doch was bedeutet schon Erfolg? Auch 2014 wird Brasilien verlieren. Im Endspiel gegen Argentinien. Da schießt Lionel Messi zwei Tore. So sollte es in Sócrates’ neuem Buch stehen.