Er passte mit der Hacke und schoss Elfmeter aus dem Stand – die Brasilianer erinnern sich an Sócrates aber vor allem wegen seiner politischen Ideen. Heute vor zehn Jahren ist der vielleicht einflussreichste Fußballer aller Zeiten gestorben.
Am 04. Dezember 2011, heute vor zehn Jahren, starb Sócrates in São Paolo.
Im Sommer 2011 schrieb Sócrates an einem neuen Buch. Er erzählte gerne davon, denn er glaubte, dass es gut werden würde. Als Protagonisten hatte er fiktive Charaktere entworfen, vornehmlich Touristen, die zur WM 2014 durch Brasilien reisen und dort sowohl landschaftliche Schönheit als auch gesellschaftliche Probleme vorfinden. Sócrates konnte das Buch nicht beenden, denn im August desselben Jahres wurde er mit Leberzirrhose und Magenblutung ins Krankenhaus „Albert Einstein“ in São Paulo eingeliefert. Chirurgen pflanzten ihm dort ein Metallrohr aus Nickel und Titan in die Leber, damit das Blut wieder zirkuliert.
Als es ihm wieder ein bisschen besser ging, beichtete er seinen Alkoholismus. „Ich bezahle für mein Problem“, sagte er. „Ich habe ein bisschen morgens getrunken, dann nachmittags. Pro Tag war es eine Flasche Wein.“ Danach schrieb er an seine Freunde und Fans: „Das Leben ist die pure Freude. Danke, danke, danke.“
„Er war vor allem ein Symbol. Er war wie Che!“
Kurze Zeit später, am 4. Dezember 2011, starb Sócrates an einem septischen Schock infolge einer Blutvergiftung. Ein ganzes Land schien den Atem anzuhalten. Ronaldo twitterte: „Ein trauriger Tag. Ruhe in Frieden, Dr. Sócrates“, und als sein alter Verein Corinthians Sao Paulo am Nachmittag gegen Palmeiras spielte, stellten sich die Spieler vor dem Anpfiff um den Mittelkreis und reckten ihre rechte Faust nach oben, so wie es Sócrates früher nach seinen Toren getan hatte. Mit einem 0:0 sicherte sich die Mannschaft die Meisterschaft, auf den Tribünen entrollten die Fans Plakate mit dem Konterfei Sócrates’. Auf einem stand: „Dieser Titel ist für dich, Doutor!“
Sócrates war in seinem Leben vieles gewesen: Regisseur, Schriftsteller, Aktivist, Kolumnist, Künstler, Musiker, Fußballer, Trinker, Hedonist, Lebemann, Revolutionär, Arzt. Sein Wegbegleiter Juca Kfouri, ein bekannter brasilianischer Journalist, sagt heute über ihn: „Er war vor allem ein Symbol. Er war wie Che!“
Es gibt hunderte Erzählungen über Sócrates. Und wie das so ist mit Revolutionären, gibt es mindestens genauso viele Mythen. Alle haben eines gemein: Sie sind auf der Suche nach dem Schlüsselmoment, nach einem Punkt, an dem sich Sócrates erstmals gegen ein bestehendes System auflehnte. Eine Geschichte, die sich beständig hielt, stammt aus Irland. Dort erzählt man sich noch heute, wie irgendwann in den frühen siebziger Jahren ein junger Brasilianer am University College in Dublin auftauchte. Er sah seltsam aus, er war groß und hatte lange dünne Beine. Er rauchte und trank, er studierte Medizin und war ein Frauenheld. Er hieß Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira, doch er stellte nur mit „Sócrates“ vor.
Sócrates entschied sich für die Zigaretten
Recht bald wurde Terry O’Neill, Trainer des College-Fußballteams, auf ihn aufmerksam, denn Sócrates konnte fantastisch Fußball spielen. Der junge Brasilianer war allerdings eigenartig, erzählte man sich, er stellte Regeln auf: Sonntags, sagte er, habe er keine Zeit, da könne er nicht spielen. Außerdem forderte er, dass jeder Spieler selbst entscheiden sollte, wie er sein Leben abseits des Platzes gestaltet, ob er rauchen oder trinken, ob er feiern oder studieren möchte. O’Neill schmiss ihn aus der Mannschaft. „Ich stellte ihn vor die Wahl: Fußball oder Zigaretten“, soll der Trainer gesagt haben. Sócrates entschied sich für die Zigaretten.
Noch Jahre später berichteten große Zeitungen wie der „Guardian“ oder der „Irish Daily Star“ über Sócrates’ Gastspiel in Irland. Beweise gab es dafür nicht, angeblich weil Sócrates mit der Reservemannschaft spielte, und diese ihre Spiele stets samstags auf einem Nebenplatz fern von Fotografen oder Journalisten ausgetragen hat. Brendan McKenna, einst Pressesprecher des irischen Verbands, fand all das so toll, dass er diese Geschichte weiterschrieb: „Natürlich spielte Sócrates in Irland. Aber das ist lange her, irgendwann in den siebziger Jahren!“ Als Sócrates eines Tages auf seine Zeit in Irland angesprochen wurde, sagte er: „Irland? Da war ich noch nie in meinem Leben!“
Eine andere Geschichte beginnt ebenfalls in den frühen siebziger Jahren, allerdings in Ribeirao Preto, im brasilianischen Bundesstaat Sao Paulo. Sócrates war gerade mit der Schule fertig geworden und überlegte, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Er konnte gut Fußball spielen und besaß eine außergewöhnliche Technik. Vielleicht weil er im Kindesalter, als er mit seinen Eltern noch im nordbrasilianischen und ärmlichen Belém lebte, nie mit einem Ball, sondern immer mit dem Kern einer Avocado gekickt hatte. Vielleicht aber auch, weil seine Füße trotz seiner Größe von 1,92 Metern erstaunlich klein waren: Er hatte Schuhgröße 41. So stakste er mit seinen langen Beinen über das Feld und sah dabei ein bisschen aus wie ein römischer Feldherr, der, je nachdem, wie es nötig war, den Ball mal mit dem Außenrist, mal mit der Hacke zu seinen Mitspielern schubste. „Er bewegte sich wie eine wandelnde Heuschrecke“, sagte der Künstler José Miguel Wisnik einmal.
Sócrates unterschrieb einen Vertrag bei Botafogo São Paulo. Doch weil er wusste, dass er in seinem Leben noch mehr tun wollte, als nur Fußball zu spielen, schrieb er eine bis dahin unübliche Klausel in seinen Vertrag. Er ließ sich zusichern, nebenher studieren zu dürfen und für zukünftige Vorlesungen vom Verein freigestellt werden zu können. Ein Jahr später immatrikulierte er sich an der medizinischen Fakultät von Ribeirao Pret, wo er 1978 promovierte.
Sein Vater, ein Beamter, hatte nie studiert. Trotzdem war er ein kluger Mann. Er las am liebsten die großen griechischen Philosophen, deshalb nannte er seine ersten drei Söhne Sócrates, Sósthenes und Sóphokles. „Er hat Bücher praktisch eingeatmet und mir so einen kritischen Geist in die Wiege gelegt“, sagte Sócrates später. Er war zehn Jahre alt, als er miterlebte, wie sein Vater seine eigenen Bücher verbrannte. Es war sein Protest gegen die neue Regierung Brasiliens: eine Militärdiktatur unter General Humberto Castelo Branco.
„Was wirklich zählt, ist Glücklichsein“
Sócrates versuchte sich später an Karl Marx’ „Kapital“ – und scheiterte. Er las lieber Jorge Amado, Thomas Hobbes oder Siegmund Freud. Seine Vorbilder waren Fidel Castro, Che Guevara und John Lennon. Die ersten beiden mochte er, weil sie seiner Ansicht nach Demokratisierungsprozesse in Lateinamerika in Gang gesetzt hatten, Lennon mochte er für seine Musik und seine humanistische Weltanschauung.
Viele Jahre später – Sócrates hatte seine Fußballkarriere mittlerweile beendet – fragte ihn ein Reporter, ob er enttäuscht sei, dass er nie einen WM-Titel errungen habe. Sócrates rezitierte eine der bekanntesten Lennon-Anekdoten. Als dessen Lehrerin den jungen Briten einmal fragte, was er werden wolle, antwortete er: „Glücklich.“ Daraufhin sagte die Lehrerin: „Du hast die Frage nicht richtig verstanden“, und Lennon sagte: „Frau Lehrerin, Sie haben das Leben nicht richtig verstanden.“ Sócrates gefiel dieses Bild. Er benutzte es immer mal wieder. Einmal sagte er: „Wozu braucht man Titel? Für den Lebenslauf? Was wirklich zählt, ist Glücklichsein.“ Sein Buch „Football Philosophy“ schließt mit dem Credo: „Zuerst kommt die Schönheit, der Erfolg ist zweitrangig.“
Mit Corinthians war er überregional nie sonderlich erfolgreich. In seiner Zeit gewann der Klub zwar dreimal die Staatsmeisterschaft von Sao Paulo, aber trotz seiner 172 Tore in 297 Spielen nicht ein einziges Mal die brasilianische Meisterschaft. Sein ehemaliger Mitspieler Wladimir sagt heute noch: „Sócrates ist nicht der beste Corinthians-Spieler aller Zeiten, das war Weltmeister Roberto Rivelino.“ Den mochten die Fans für seine Triumphe und Körpertäuschungen. Sócrates lagen sie zu Füßen. Sie verehrten ihn für seine Kraft und seinen Geist.
Es begann im Jahr 1981. Damals drohten die Corinthians im Chaos zu versinken. In der Meisterschaft, die in jenem Jahr über Vor- und Zwischenrunden ausgespielt wurde, schied die Mannschaft frühzeitig aus, und auch finanziell stand es schlecht um den Klub. Der frisch gewählte Präsident Waldemar Pires versuchte die Dinge neu zu ordnen und installierte als Sportdirektor Adilson Monteiro Alves, einen Soziologen, der bis dahin noch nie etwas mit Fußball zu tun gehabt hatte.
Schluss mit dem Autoritarismus!
Zu Saisonbeginn traf sich Alves mit dem Team. Was ursprünglich als ein zehnminütiges Kennenlernen angedacht war, entwickelte sich zu einer sechsstündigen Diskussion. Alves war erstaunt, wie reflektiert die Spieler bestimmte Probleme ansprachen. Er sagte: „Ich bin ein Neuling. Aber eines weiß ich: So wie es bisher gemacht wurde, machen wir es nicht. Schluss mit dem Autoritarismus! Schluss mit dem Konservativismus!“ So hatte noch nie ein Fußballfunktionär gesprochen, denn bis dahin sollten Profis vor allem eines: funktionieren. „Bis dahin waren wir Sklaven gewesen“, sagt Wladimir.
Alves und die Spieler trafen sich wieder und wieder. Mal schliefen einige Männer ein, weil die Sitzungen zu lange dauerten, mal sprachen sie nur über Kunst, mal luden sie Musiker oder Schriftsteller ein, die mit ihnen über die politischen Verhältnisse in Brasilien diskutierten.
Sie entschieden, fortan alle Dinge, die den Verein und die Mannschaft betrafen, im Kollektiv und durch Mehrheitsbeschluss zu treffen. Die Stimme des dritten Torwarts oder des Zeugwarts hatte dabei genauso viel Gewicht wie die des Sportdirektors oder des Mannschaftskapitäns. Der Name ihrer Bewegung lautete: „Democracia Corinthiana“. Es ging in dieser Demokratie zunächst um vermeintlich banale Dinge wie die Dauer von Trainingseinheiten oder das Mittagessen, später aber auch darum, sich dem in Brasilien üblichen „concentracao“ zu widersetzen. Nach dieser Praxis wurden Spieler schon Tage vor Spielen in Hotels einkaserniert, um sie von äußerlichen Einflüssen abzuschirmen. Die Spieler, Trainer und Funktionäre der Corinthians trafen sich nun am Vorabend zum gemeinsamen Essen, danach durften die Verheirateten zu ihren Frauen zurück. Nicht selten wurden auf solchen Abenden auch Spielertransfers gemeinsam diskutiert. „Wir gingen zu Alves und sagten: Wir hätten gerne, dass dieser oder jener Spieler für Corinthians spielt. Dann fragten wir ihn: ›Was hältst du davon?‹ Danach wurde abgestimmt“, sagt Wladimir.
Zahlreiche Spieler kamen, weil sie Gefallen an Corinthians demokratischen Strukturen fanden. Dennoch waren einige Neue von den Diskussionsexzessen auch irritiert. „Sie fragten: ›Warum spricht hier niemand über Fußball?‹“, sagte Sócrates. Die Fans standen von Anfang an hinter der Bewegung, insbesondere die Gruppe der „Gavioes da Fiel Torcida“ (“Die treuen Habichte“), die schon seit 1969 durch Parolen gegen die Militärdiktatur aufgefallen war. Ein Grund dafür mag der Erfolg sein, der sich in den kommenden Jahren einstellte. Zunächst konnte der Klub sämtliche Schulden tilgen und hatte für die kommende Spielzeit sogar noch Rücklagen übrig. In der Meisterschaft erreichte er 1982 immerhin das Halbfinale, 1983 gewann er erneut die Staatsmeisterschaft von São Paulo.
Die Corinthians hatten in einem Mikrokosmos die Utopie der Gleichheit aller Menschen verwirklicht. Doch ließ sich das Modell auch auf ganz Brasilien übertragen? Dort, wo mit Joao Figueiredo immer noch ein Diktator regierte? Sie wollten es versuchen, denn sie spürten, wie ihre eigene Bekanntheit der politischen Aufklärung zugutekommen könnte.
„Wir waren Revolutionäre, romantisch und naiv“
Anfang der Achtziger herrschte Aufbruchstimmung, die Menschen gingen auf die Straßen, um gegen das Regime zu demonstrieren, und sie suchten Gesichter, Ikonen, Anführer. Die Spieler der Corinthians trugen in dieser Zeit Trikots mit dem Aufdruck „Geht wählen!“, später hielten sie Plakate hoch, auf denen stand: „Siegen oder verlieren – aber immer demokratisch“. Die Regierung verhielt sich gegenüber der populären „Democracia Corinthiana“ anfangs zurückhaltend. Später, als die Diktatur bröckelte, machte sie Stimmung gegen die Bewegung. Sie verbot Schriftzüge, nannte Sócrates einen „bärtigen Kommunisten“ und hängte einem anderen Wortführer, Walter Casagrande, ein Drogendelikt an. „Wir waren Revolutionäre, romantisch und naiv“, sagt Alves in der Dokumentation „Rebellen am Ball“. „Wir stellten uns mit nackter Brust gegen die Kugeln.“
Welche Breitenwirkung das Auftreten der Spieler in der Bevölkerung hatte, zeigte sich an einem Tag im April 1984. Sócrates hatte just seinen Wechsel nach Florenz bekanntgegeben. Nun verkündete er auf dem Platz der Kathedrale in Sao Paulo, dass er bliebe, wenn die direkten Präsidentschaftswahlen anerkannt würden. Zwei Millionen Menschen jubelten ihm zu. Zwar ging die Abstimmung über die Direktwahlen verloren und Sócrates wechselte nach Italien, doch noch heute hängen die Worte Sócrates‘ an der Kathedrale: „Dann bleibe ich!“
Als Sócrates 1985 nach Brasilien zurückkehrte und einen Vertrag bei Flamengo unterschrieb, hatten im Land demokratische Strukturen Einzug gehalten. Bei den Corinthians herrschte allerdings wieder eine Hierarchie. Ohne die treibenden Kräfte wie Wladimir, Sócrates oder Casagrande, der zwischenzeitlich zum FC São Paulo gewechselt war, blieb das Modell der herrschaftsfreien Fußballteams ein Traum. „In Wirklichkeit war die ›Democracia Corinthiana‹ eine kleine Insel. Eine Insel, die eine gewisse Zeit überlebt hat“, sagt Wladimir heute.
Doch was bedeutet schon Erfolg?
Sócrates äußerte sich danach trotzdem noch häufig zu gesellschaftspolitischen Themen. Er radikalisierte seine Sicht bisweilen sogar. Während der WM 1986 sagte er: „Wenn es, um soziale Probleme zu lösen, nötig wäre, würde ich auch zum Gewehr greifen.“ Er behauptete außerdem, dass Spiele zugunsten Brasiliens und Mexikos aus politischen Gründen verschoben worden seien. Nabi Chedid, Vizepräsident des brasilianischen Fußballverbands, tobte. Kein Spieler sollte sich mehr zu politischen Dingen äußern. Sócrates trug seine Botschaften danach vornehmlich auf Stirnbändern.
Brasilien erreichte bei jener WM das Viertelfinale gegen Frankreich. Eines der dramatischsten WM-Spiele aller Zeiten ging ins Elfmeterschießen, Sócrates schoss aus dem Stand, so wie hunderte Male zuvor, Frankreichs Torwart Joël Bats hielt, und die Selecao war wieder einmal in Schönheit gestorben. Wie 1978, wie 1982. Die Jahrhundertelf war ohne Titel geblieben.
Doch was bedeutet schon Erfolg? Auch 2014 wird Brasilien verlieren. Im Endspiel gegen Argentinien. Da schießt Lionel Messi zwei Tore. So sollte es in Sócrates’ neuem Buch stehen.