Im November 2016 sterben bei einem Flugzeugabsturz 71 Menschen, darunter fast alle Profis der AF Chapecoense. Nun, vier Jahre nach der Tragödie, ist der Verein, dessen Schicksal die ganze Welt bewegte, wieder in Brasiliens erste Liga aufgestiegen.
In der ersten Serie-A-Saison wird Chapecoense 15., in der zweiten schafft es das Team auf Rang 14. Keine herausragenden Platzierungen, in Brasilien aber reichen sie aus, um sich für die Copa Sudamericana zu qualifizieren, den zweitwichtigsten Kontinentalwettbewerb Südamerikas. Und dort wächst die Mannschaft über sich hinaus. 2015 scheitert das Team knapp im Viertelfinale am ruhmreichen River Plate. In diesem Jahr erreicht Chapecoense das Endspiel. Eine Sensation, ein Wunder. „Ein Abenteuer, das einen ganzen Kontinent staunen lässt“, schreibt der südamerikanische Fußballverband Conmebol auf seiner Homepage. Es ist so, als würde Darmstadt 98 das Finale der Europa League erreichen.
Was wäre gewesen, wenn…
Dabei ist Chapecoense seinen Gegnern spielerisch oft unterlegen, aber man kennt ja die Geschichte vom Pokal und seinen eigenen Gesetzen. Im Achtelfinale kämpft sich die Mannschaft durch zwei 0:0‑Unentschieden gegen den ehemaligen Weltpokalsieger CA Independiente aus Argentinien ins Elfmeterschießen. Dort gewinnen die Brasilianer 5:4. Im Halbfinale wartet der CA San Lorenzo, zwölffacher Meister CA San Lorenzo, zwölffacher Meister Argentiniens und Copa-Libertadores-Gewinner von 2014. Wieder: großes Drama, große Gefühle. Nach einem 1:1 reicht Chapecoense ein 0:0 im Rückspiel – und genau dieses Ergebnis zeigt die Anzeigetafel in der heimischen Conda Arena kurz vor Spielende an. Aber dann! Eine Flanke segelt in Chapes Strafraum. San Lorenzos Marco Angeleri kommt an den Ball. Alleine. Einschussbereit. Fünf Meter vor dem Tor. War es das? Nein. Danilo, der Torhüter, der Teufelskerl, zuckt und wehrt den Ball mit einem Fußreflex ab. ESPN schreibt danach von dem größten „Herzstillstand-Moment“, den die Zuschauer je in der Arena erlebt haben.
Oft fragen sich Fans nach Jahren noch, wie ihr Verein heute dastehen würde, wenn dieser oder jener Stürmer damals in Bochum, Hamburg oder Barcelona den Ball in der letzten Minute nicht an den Pfosten gesetzt hätte. Im Fall von Chapecoense wiegt diese Frage heute tonnenschwer. Wie hätte sich die Geschichte verändert, wenn Angeleri nur ein paar Zentimeter weiter nach links oder rechts geschossen hätte? Seine Mutter sagt später: „Wenn Danilo den Ball nicht gehalten hätte, wäre seine Karriere vorbei gewesen. Aber die Karriere war sein Leben. Er hat mit der Parade seine Karriere verteidigt.“
„Wir alle zusammen werden unser Leben geben für das Finale“
Nach dem Abpfiff besingen die Fans Danilo als Heiligen. Dann tritt der Torhüter vor die Mikrofone und sagt: „Wir alle zusammen werden unser Leben geben für das Finale.“ Und Trainer Caio Junior ergänzt: „Wenn ich heute sterben würde, wäre ich ein glücklicher Mensch.“
In Südamerika haben die meisten Menschen keine Scheu vor großem Pathos und bedeutungsschwangeren Metaphern. Gott, Liebe, Krieg, Tod – nichts scheint zu gewaltig, um eine Sache zu beschreiben, auch wenn es nur um ein Fußballspiel geht. Das sollte man wissen, wenn man die Sätze von Caio Junior oder Danilo zitiert. Und dennoch bleiben sie aus heutiger Sicht im Hals stecken. Dabei ging es den beiden vor allem darum, den Zusammenhalt im Team zu verbildlichen, dieses alte Elf-Freunde- und Alle-für-einen-Romantik zu beschwören. Wer wissen möchte, wie diese Gemeinschaft aussah, kann sich im Internet etwa alte Videos aus der Chapecoense-Kabine anschauen. Die Spieler nach dem Halbfinale gegen San Lorenzo, singend, tanzend, minutenlang trommeln sie auf die Spinde. Da ist wieder Danilo, der Heilige.
Und Bruno Rangel, der Fan-Liebling, der Stürmer, der in 144 Spielen für Chapecoense 77 Tore schoss. Und natürlich Cleber Santana, 35, Kapitän der Mannschaft, der zwischen 2007 und 2010 sogar für Atletico Madrid und RCD Mallorca spielte. Das Finale sollte das letzte große Spiel seiner Karriere sein.
Warum macht der Pilot keine Zwischenlandung in Bogota?
Normalerweise dauert die Auswertung eines Flugzeugunglücks Wochen, manchmal sogar Monate oder Jahre. Im Fall des Fluges 2933 ist die Sache schon nach wenigen Tagen klar. Alles beginnt damit, dass die Vereinsführung von Chapecoense einen Charterflug bei der bolivianischen Fluggesellschaft LaMia bucht. Die Maschine soll Spieler, Trainer, Funktionäre und Journalisten aus Santa Cruz ins 2940 Kilometer entfernte Medellin bringen, wo das Final-Hinspiel der Copa Sudamerica gegen die Kolumbianer von Atletico Nacional angesetzt ist. Vollgetankt kann der Flieger von LaMia eine Strecke von 2963 Kilometern zurücklegen. Unter besten Wettervoraussetzungen, mit idealer Fluglinie und ohne Warteschleifen hätte das Flugzeug sein Ziel also erreicht – und sogar 23 weitere Kilometer Puffer gehabt. Aber wer rechnet so? Südamerikanische Behörden fordern einen Reservetank, der für 45 weitere Minuten ausreicht. Das heißt: Eine Zwischenlandung wäre dringend notwendig gewesen, und sie soll im bolivianischen Cobija auch eingeplant gewesen sein. Weil der Flieger aber verspätet in Santa Cruz startet und der Flughafen von Cobija nachts geschlossen ist, muss der Tankstopp dort ausfallen. Bleibt die Frage, warum die Maschine nicht, wie empfohlen, in Bogota zwischenlandet.
Eine Antwort darauf könnte der 36-jährige Quiroga liefern. Der ehemalige Offizier der bolivianischen Luftwaffe ist nicht nur Pilot der Maschine, sondern auch einer der Eigentümer von LaMia, was unüblich ist, aber offenbar niemanden stört. Die simple und erschreckende Erklärung lautet also: Quiroga versucht, Medellin im Direktflug zu erreichen. Er will Geld sparen und riskiert damit sein Leben und das von anderen.
Nach dem Unglück kommen aber noch weitere brisante Details über die Fluggesellschaft LaMia ans Licht. Auf ihrer Homepage wirbt die Firma etwa mit drei Flugzeugen, von denen zwei aber seit Monaten gewartet werden. Außerdem soll sie bekannt dafür gewesen sein, südamerikanische Fußballmannschaften zu transportieren und dabei mit spitzem Bleistift zu kalkulieren. 18 Tage zuvor fliegt die argentinische Nationalelf um Lionel Messi mit exakt derselben LaMia-Maschine nach Kolumbien. Es geht zwar alles glatt, aus den Daten von FlightRadar 24h geht allerdings hervor, dass die Maschine nach der Landung für gerade mal 18 weitere Flugminuten Treibstoff gehabt hätte. Mittlerweile hat die bolivianische Regierung der Airline die Lizenz entzogen und den Chef der Firma verhaftet.