Beim Drittliga-Auftakt zwischen dem VfB Lübeck und dem 1. FC Saarbrücken sind keine Gästefans zugelassen. FCS-Fan Carlos hat sich dennoch reingeschmuggelt. Alleine gegen alle.
Carlos realisiert es erst, als die Saarbrücker Mannschaft jubelt: Der Ball war über der Linie. Das Tor zählt! Innen: Ektase. Außen: Gelassenheit. Eine Übung für seine „Innere Ausgeglichenheit”. Eine, die er nicht wiederholen möchte. Carlos ist heute der einzige Fan der Gastmannschaft – im Fanblock des VfB Lübeck. Sekunden zuvor hatte Saarbrückens Tobias Jänicke den Ball am planlos herausgestürmten VfB-Keeper vorbei gespitzelt und mit dem Kopf auf die Lübecker Torlinie gedrückt. Ein VfB-Spieler grätschte den Ball zurück ins Feld und Carlos wandte seinen Blick im Irrglauben, der FCS habe eine weitere Chance vergeben, ab.
Bereits vor Monaten hatte er den Ostseeurlaub mit seiner Freundin geplant. Als dann der Spielplan veröffentlich wurde, sei er „wahnsinnig geworden. Das erste Spiel will ich immer unbedingt sehen. Egal wo!” Der Gedanke, das Spiel vor der Ferienhaus-Tür zu haben, aber nicht hin zu dürfen, war für Carlos unerträglich. Wie und wer ins Stadion gelassen werden würde, war auch lange unklar.
Erst hieß es 500 Fans, dann 2700, dann standen 4000 im Raum und schließlich 1860. Aber nur für Käufer mit Wohnsitz im Postleitzahlenbereich von 18 bis 25. Erst am Tag vor dem Spiel startete der freie Verkauf von wenigen Restkarten. Um acht Uhr morgens.
Mit Angabe der temporären Adresse kam Carlos an sein Ticket. In der Eile blöderweise im VfB-Fanblock.
Knapp zwei Stunden vor Spielbeginn spaziert Carlos zum Stadion. Carlos ist 55 Jahre alt, hat einen dunklen Teint, große Ohren und tiefe Lachfalten. Zum „FC” gehen, ist für ihnselbstverständlich geworden „Es ist ein Ritual, auch dieser ganze Quatsch, dieses Dummgebrabbel… Herrlich!” findet Carlos und lacht. Ein schepperndes Hehehe. Es zwingt zum Mitlachen. Seit August 1972 „geht er gugge”, wie man im Saarland sagt. Er sagt: „Um Fan von diesem Verein zu sein, braucht man Humor und Geduld.“
Er hatte sich immer geschworen, alles bis zur vierten Liga mitzumachen. Nicht weiter runter. Als der „FC” 2008 in die Oberliga abstieg, ging er aber trotzdem „gugge”. Da habe er realisiert, dass er infiziert sei.
Für heute hat Carlos sich Unauffälligkeit verordnet. „Ich werd keinen Mucks von mir geben und mich komplett ruhig verhalten.“
Normalerweise trägt Carlos eine Maske in den FC-Farben, schwarz-blau. Heute ist es eine weiße. Und bei einem Tor für den FC? „Ich habe mir vorgenommen, gegen eine Bande zu treten oder auf den Sitz zu schlagen, das können die nicht deuten.“ Garantieren könne er nichts.
Wenige 100 Meter vom Stadion entfernt erzählt Carlos von seiner Arbeit bei einer Saarbrücker Brauerei. „Da!”, unterbricht sich Carlos plötzlich selbst. Seine Hand streckt er freudig in Richtung des Saarbrücker Mannschaftsbusses aus, der gerade durch den Kreisverkehr manövriert. „Da ist der Bus mit dem schönsten Wappen der Welt”. 172 Zentimeter kindliche Freude. Und das scheppernde Lachen.
Im Stadion läuft Oasis, „Dont Look back in Anger“. Ein Titel, der angesichts der Historien viel von den Anhängern der beiden Vereine verlangt.
Die alte Hauptribüne auf der anderen Seite des Spielfeldes sieht nach Vorkriegsfußball aus. Die, heute wegen Corona verwaisten, Stehtraversen hinter den Torauslinien geben den Blick auf Pappeln frei. In grün gesprayten Lettern prangt „Stadion an der Lohmühle” auf der Beton-Mauer über der Tribüne. Fußballromantik, die Carlos begeistert.