Sensibles Genie oder wahnsinniger Brutalo? An ihm schieden sich stets die Geister. Eric Cantona selbst genoss die Verwirrung in vollen Zügen.
1992 war das Jahr, das den Fußball weltweit für immer veränderte. Der Europacup der Landesmeister hieß nun Champions League, die englische First Division Premier League und das Zauberwort in den feuchten Träumen der Marketingstrategen Pay per View. 1992 war das „Jahr, in dem Sky den Fußball erfand“, wie der „Guardian“ später schrieb. Es war auch das Jahr, in dem Fans zu Kunden wurden, in England die Stehplätze verschwanden und die Preise für Eintrittskarten genauso schnell anzogen wie für Spieler. Zugleich veränderte sich auch die Berichterstattung grundlegend. Das Spiel war durch den Einzug des Bezahlfernsehens ein sündhaft teures Produkt geworden, das zur Refinanzierung nicht nur in all seinen sportlichen Facetten ausgeleuchtet wurde, sondern noch weit darüber hinaus. Jede Geste, jedes Wort und vor allem jedes noch so private Problem der Spieler wurde nun öffentlich gemacht und medial ausgeschlachtet. So entstand der Eindruck, als hätten die Medien im Auftrag der Fans Anspruch auf ihre Stars, die dafür mit astronomischen Summen entlohnt wurden. Und Stars, das waren fortan alle Fußballprofis, nicht mehr nur die herausragenden.
Natürlich gab es auch Widerstand gegen diese Entwicklungen. Nicht wenige Fans fürchteten angesichts der plötzlich überall auftauchenden Investoren, die Anteile an den börsennotierten Klubs übernahmen und dafür Rendite erwarteten, um die Seele des Spiels. Manchester United war besonders eifrig dabei, sämtliche Türen zur Kommerzialisierung des Fußballs zu öffnen. Die Ticketpreise stiegen unaufhörlich, Ermäßigungen verschwanden, plötzlich musste man sein Billett Wochen im Voraus bestellen und brauchte eine Kreditkarte, um es zu bezahlen. Dabei war der Klub in der Meisterschaft nicht einmal erfolgreich. Seit 1967 hatte er den Titel nicht mehr gewinnen können, Alex Ferguson war bei großen Teilen der Anhängerschaft äußerst umstritten. Doch dann kam Cantona.
Sein Transfer zu Manchester United war eigentlich nur ein Witz. Präsident Martin Edwards war gerade in einer Besprechung mit Ferguson, als sein Kollege Bill Fotherby von Leeds United anrief und sich erkundigte, ob Denis Irwin, ein Einwechselspieler, zum Verkauf stehe. Ferguson und Edwards verneinten (und dabei blieb es auch), sagten aber noch im Scherz, sie könnten ihn ja gegen Eric Cantona tauschen, diese neue Riesenattraktion der Liga, dem die Fans in Leeds zu Füßen lagen. „Und dann war da diese Stille in der Leitung“, erinnerte sich Ferguson später. Es stellte sich heraus, dass das Verhältnis zwischen Cantona und Meistertrainer Howard Wilkinson zum Zerreißen gespannt war. Zwei Tage später war der Deal perfekt. Cantona wechselte im November 1992 für 1,2 Millionen Pfund zu Manchester United. Und plötzlich ging alles sehr schnell.
In den viereinhalb Jahren, die er für Manchester United spielte, gewann der Verein vier Mal die Meisterschaft und zwei Mal den FA-Cup. Auf dem Platz zeigte Cantona mit seinen atemberaubenden Toren, den riskanten Dribblings und seiner steten Bereitschaft, unkonventionelle Spielzüge zu kreieren, dass er genau der war, auf den sie bei United schon so lange gewartet hatten, ohne es zu wissen. Peter Schmeichel im Tor und Eric Cantona im Sturm, das waren die Fixpunkte im Spiel, dazwischen konnten die jungen Roy Keane, David Beckham, Ryan Giggs, Gary Neville, Paul Scholes und Nicky Butt in ihre Rollen hineinwachsen. Die Mitspieler spürten, wie Cantona sie auf ein anderes Level hob, und nahmen dafür die Freiheiten, die der Menschenkenner Alex Ferguson seinem Freigeist stillschweigend gewährte, hin, ohne zu murren.
Für die Fans auf den Rängen war Cantona jemand, an dem sie sich festhalten konnten. Ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht war der Fußball ja doch nicht verloren, solange es Typen wie ihn gab. Denn wenn er dem Fußball sein Leben vermachte, dann musste er mehr sein als nur ein Geschäft. Bei ihm war er mehr. Er war alles: eine Kunst, Schönheit, Liebe, Politik, Kampf, Krieg und Frieden – und wieder Krieg. Kurz: das ganze Leben. Cantona wollte Pässe spielen, so schön wie die Gedichte von Rimbaud, Tore schießen, so aufregend wie Gemälde von Picasso. Es gab Tage, da gelang es ihm.