Sensibles Genie oder wahnsinniger Brutalo? An ihm schieden sich stets die Geister. Eric Cantona selbst genoss die Verwirrung in vollen Zügen.
Dieser Text erschien erstmals in unserem 11FREUNDE Spezial über Rebellen im Fußball. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Später, als er seine Schuld mit Toren beglichen hatte, als die Aufregung nicht mehr ganz so hysterisch flirrte und die Sperre längst abgesessen war, sagte Eric Cantona, der Satz sei ihm erst eingefallen, als er vor all den Journalisten gesessen habe. Die ihn anstarrten. Die etwas von ihm erwarteten. Große Worte. Erklärungen. Eine Entschuldigung womöglich. Futter in jedem Fall. Futter! Er wollte sie nicht enttäuschen. Er war doch Le Roi, ihr König. When the seagulls …
Als Eric Cantona im Februar 1992 zu Leeds United wechselte, kam er offiziell von Olympique Nimes, das auch 900 000 Pfund für ihn kassierte. Eigentlich aber war er ein Rentner, der erst wenige Wochen zuvor, am 16. Dezember 1991, seinen Rücktritt vom Profifußball erklärt hatte. Im Alter von 25 Jahren.
Ihm eilte ein Ruf voraus wie Donnerhall. Dass er sich für Kunst und Poesie interessierte und in seiner Freizeit abstrakte Bilder malte, hätte an sich schon ausgereicht, um argwöhnisch zu werden. Zudem aber hatte er in Frankreich nichts als verbrannte Erde hinterlassen. Er hatte Trainern nach Auswechslungen in Freundschaftsspielen sein Trikot vor die Füße geworfen und sich mit Mitspielern geprügelt. Er hatte sich in die Nationalmannschaft gespielt und war hochkant wieder hinausgeflogen, nachdem er Frankreichs Trainer Henri Michel einen „Sack Scheiße“ genannt hatte. Er hatte in einem Ligaspiel dem Schiedsrichter den Ball an den Kopf geworfen und war für einen Monat gesperrt worden. Er hatte bei der Berufungsverhandlung jedem einzelnen Richter noch einmal ins Gesicht gesagt, was für ein Idiot er doch sei, und war für einen weiteren Monat gesperrt worden. Er konnte Fußball spielen wie ein Engel, aber er benahm sich wie ein arroganter Flegel, der nie gelernt hatte zu verlieren. Er war kein Rebell, er war ein Ärgernis. Dann trat er zurück.
Er meinte es tatsächlich ernst. Nur mit Mühe konnte ihn sein Mentor Michel Platini, ein Verwandter im Geiste, dazu überreden, seine Karriere zumindest im Ausland fortzusetzen. Schließlich vermittelte er ihn persönlich zu Leeds United, das er überkam wie eine Naturgewalt. Mit Toren und Vorlagen, vor allem aber durch seine Präsenz und sein unerschütterliches Selbstvertrauen half er, das Überraschungsteam der Saison zu stabilisieren und tatsächlich zum Gewinn der Meisterschaft zu führen. Die Fans sangen seinen Namen, und er antwortete: „Ich weiß nicht warum, aber ich liebe euch.“ Oh! Ah! Cantona!
Die Augenzeugen erzählen die Geschichte mit dem Zitat auf der berühmten Pressekonferenz ein wenig anders. Maurice Watkins, seinerzeit Anwalt von Manchester United, berichtete, er habe Cantona aufgefordert, eine Stellungnahme abzugeben. Er müsse in der jetzigen Situation einfach etwas sagen. Cantona ließ sich also Stift und Papier geben und fing an nachzudenken. Nach einer Weile begann er, Fragen zu stellen. Wie heißen die Vögel, die über das Meer fliegen? Seagulls. Und die Fischerboote? Trawler. Und diese kleinen Fische, die sie fangen? Sardines. Am Ende zeigte er Watkins den Zettel. Watkins sagte nichts. Was hatte er denn erwartet? Große Worte? Eine Erklärung? Eine Entschuldigung gar? Er bekam: ein Rätsel. When the seagulls follow the trawler …
1992 war das Jahr, das den Fußball weltweit für immer veränderte. Der Europacup der Landesmeister hieß nun Champions League, die englische First Division Premier League und das Zauberwort in den feuchten Träumen der Marketingstrategen Pay per View. 1992 war das „Jahr, in dem Sky den Fußball erfand“, wie der „Guardian“ später schrieb. Es war auch das Jahr, in dem Fans zu Kunden wurden, in England die Stehplätze verschwanden und die Preise für Eintrittskarten genauso schnell anzogen wie für Spieler. Zugleich veränderte sich auch die Berichterstattung grundlegend. Das Spiel war durch den Einzug des Bezahlfernsehens ein sündhaft teures Produkt geworden, das zur Refinanzierung nicht nur in all seinen sportlichen Facetten ausgeleuchtet wurde, sondern noch weit darüber hinaus. Jede Geste, jedes Wort und vor allem jedes noch so private Problem der Spieler wurde nun öffentlich gemacht und medial ausgeschlachtet. So entstand der Eindruck, als hätten die Medien im Auftrag der Fans Anspruch auf ihre Stars, die dafür mit astronomischen Summen entlohnt wurden. Und Stars, das waren fortan alle Fußballprofis, nicht mehr nur die herausragenden.
Natürlich gab es auch Widerstand gegen diese Entwicklungen. Nicht wenige Fans fürchteten angesichts der plötzlich überall auftauchenden Investoren, die Anteile an den börsennotierten Klubs übernahmen und dafür Rendite erwarteten, um die Seele des Spiels. Manchester United war besonders eifrig dabei, sämtliche Türen zur Kommerzialisierung des Fußballs zu öffnen. Die Ticketpreise stiegen unaufhörlich, Ermäßigungen verschwanden, plötzlich musste man sein Billett Wochen im Voraus bestellen und brauchte eine Kreditkarte, um es zu bezahlen. Dabei war der Klub in der Meisterschaft nicht einmal erfolgreich. Seit 1967 hatte er den Titel nicht mehr gewinnen können, Alex Ferguson war bei großen Teilen der Anhängerschaft äußerst umstritten. Doch dann kam Cantona.
Sein Transfer zu Manchester United war eigentlich nur ein Witz. Präsident Martin Edwards war gerade in einer Besprechung mit Ferguson, als sein Kollege Bill Fotherby von Leeds United anrief und sich erkundigte, ob Denis Irwin, ein Einwechselspieler, zum Verkauf stehe. Ferguson und Edwards verneinten (und dabei blieb es auch), sagten aber noch im Scherz, sie könnten ihn ja gegen Eric Cantona tauschen, diese neue Riesenattraktion der Liga, dem die Fans in Leeds zu Füßen lagen. „Und dann war da diese Stille in der Leitung“, erinnerte sich Ferguson später. Es stellte sich heraus, dass das Verhältnis zwischen Cantona und Meistertrainer Howard Wilkinson zum Zerreißen gespannt war. Zwei Tage später war der Deal perfekt. Cantona wechselte im November 1992 für 1,2 Millionen Pfund zu Manchester United. Und plötzlich ging alles sehr schnell.
In den viereinhalb Jahren, die er für Manchester United spielte, gewann der Verein vier Mal die Meisterschaft und zwei Mal den FA-Cup. Auf dem Platz zeigte Cantona mit seinen atemberaubenden Toren, den riskanten Dribblings und seiner steten Bereitschaft, unkonventionelle Spielzüge zu kreieren, dass er genau der war, auf den sie bei United schon so lange gewartet hatten, ohne es zu wissen. Peter Schmeichel im Tor und Eric Cantona im Sturm, das waren die Fixpunkte im Spiel, dazwischen konnten die jungen Roy Keane, David Beckham, Ryan Giggs, Gary Neville, Paul Scholes und Nicky Butt in ihre Rollen hineinwachsen. Die Mitspieler spürten, wie Cantona sie auf ein anderes Level hob, und nahmen dafür die Freiheiten, die der Menschenkenner Alex Ferguson seinem Freigeist stillschweigend gewährte, hin, ohne zu murren.
Für die Fans auf den Rängen war Cantona jemand, an dem sie sich festhalten konnten. Ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht war der Fußball ja doch nicht verloren, solange es Typen wie ihn gab. Denn wenn er dem Fußball sein Leben vermachte, dann musste er mehr sein als nur ein Geschäft. Bei ihm war er mehr. Er war alles: eine Kunst, Schönheit, Liebe, Politik, Kampf, Krieg und Frieden – und wieder Krieg. Kurz: das ganze Leben. Cantona wollte Pässe spielen, so schön wie die Gedichte von Rimbaud, Tore schießen, so aufregend wie Gemälde von Picasso. Es gab Tage, da gelang es ihm.
In den Redaktionen waren sie begeistert, aber sie verstanden ihn nicht. Wer war dieser Froggy mit dem grauenhaften Akzent, der immer so rätselhaft sprach und regelmäßig vom Platz flog? Der angab, die Fans von Leeds verstehen zu können, die ihn nach seinem Wechsel verachteten, und dann einen von ihnen bei seiner Rückkehr an die Elland Road anspuckte, weil er ihn beleidigt hatte? Der mit 28 eine Autobiografie veröffentlichte, bei der man sich auf jeder Seite fragen musste, was erfunden war und was echt? Er passte nicht in ihre Schubladen. Wenn er ihnen von Rimbaud erzählte, verstanden sie nur „Rambo“ und bildeten ihn mit nacktem Oberkörper ab. Also hörte er auf, mit ihnen zu sprechen. Was interessierten ihn ihre Schubladen?
Auf den Rängen von Old Trafford, dem „Theatre of Dreams“, verstanden sie ihn intuitiv, auch dann, wenn ihm nichts gelang, wenn er sich vergaß, vom Platz flog, wenn er zuschlug. Sie riefen seinen Namen in immer neuen Gesängen, sie machten ihn zu ihrem König und ihrem Erlöser. Oh! Ah! Cantona! Sie verstanden ihn, weil sie wussten, dass er sie verstand. Dass er, auch wenn sie ihm zujubelten, doch noch einer von ihnen war. Er verdiente Millionen und lebte in einer kleinen Doppelhaushälfte am Stadtrand. Er scherte sich einen Dreck darum, was andere von ihm erwarteten. Was er tat, tat er einzig und allein deshalb, weil er es für richtig hielt. „Viele erfolgreiche Leute wollen zeigen, dass sie anders sind. Sie wohnen in riesigen Häusern und versuchen, in einer anderen Welt zu leben“, sagte er Jahre später in einem Interview. „Ich wollte immer in derselben Welt leben.“ Dann kam der Abend des 25. Januar 1995, und diese Welt geriet ins Wanken.
Der Satz wurde so oft zitiert, dass man gerne ohne ihn auskommen würde. Wann immer von Cantona gesprochen wird, ist auch von diesem Zitat die Rede. Man kann es auf T‑Shirts gedruckt kaufen. Man kann es eigentlich nicht mehr hören. Aber es geht nicht ohne. Der Satz ist sein Vermächtnis, ein vorweggenommener Abschiedsgruß, eine Reminiszenz an eine andere Zeit. When the seagulls follow the trawler, it is because they think sardines will be thrown into the sea.
Die Attacke war schockierend und faszinierend zugleich, brutal und anmutig, hässlich und schön, ein Akt der Körperverletzung und gleichzeitig der Rebellion. Sie war wie Eric Cantona: alles auf einmal. Er war beim Spiel gegen Crystal Palace im Selhurst Park gerade wieder mal vom Platz geflogen und auf dem Weg in die Kabine, als aus der Vielzahl der Beschimpfungen ein Ruf sein Ohr erreichte, der mit seiner Nationalität zu tun hatte und mit seiner Mutter. Er machte den Schreihals in der Menge aus, fixierte ihn und rannte los. Er erwischte Matthew Simmons, einen vorbestraften 20-jährigen Hilfsarbeiter mit einer Tendenz zu rechtsextremen Ansichten, mit einem formvollendeten Kung-Fu-Kick an der Brust, fiel, wenig anmutig, auf das Geländer, das die Zuschauerränge vom Spielfeld trennte, rappelte sich in Sekundenschnelle auf und schickte noch ein paar Faustschläge hinterher. Dann war Peter Schmeichel endlich bei ihm und zerrte ihn in die Kabine.
Der Aufschrei war gewaltig. Manchester United sperrte Cantona umgehend (und wohl auch zu seinem eigenen Schutz) bis zum Saisonende. Doch vielen war das nicht genug, Stimmen, die eine lebenslange Sperre, ein nie dagewesenes Urteil forderten, wurden laut. Doch so brutal Cantonas Attacke auch gewesen war, so hatte sie doch auch eine verruchte Faszination, weil in ihr ein so raues Aufbegehren steckte, der Kampf eines Einzelnen gegen ein System. Denn der Tritt gegen Simmons hatte ja vor allem deshalb so schockiert, weil Cantona mit ihm ein einzelnes Individuum aus einer anonymen Masse herausgebrochen und somit erst angreifbar gemacht hatte. Er hatte, indem er eine Grenze überschritt, klargemacht: Es gab noch Grenzen. Egal wie aufgeblasen das Geschäft auch geworden sein mochte, egal wie viel die Spieler verdienten und egal wie viel jemand bezahlen musste, um sie zu sehen.
„Die Möwen folgen dem Fischkutter, weil sie denken, dass Sardinen ins Meer geworfen werden. Vielen Dank.“ Dann stand er auf und ging. Das war alles. Gerade war in der Berufungskammer seine zweiwöchige Gefängnisstrafe in 120 Stunden Sozialarbeit umgewandelt worden, der Verband hatte ihm eine achtmonatige Sperre aufgebrummt, und das war alles. Es war ein genialer Coup. Bis die Journalisten begriffen hatten, dass wohl sie die Möwen waren und Cantona ihnen gerade Sardinen in Dosen hingeworfen hatte, die sie erst einmal aufbekommen mussten, war er längst wieder über alle Berge. Hatten sie wirklich eine Erklärung erwartet, eine Entschuldigung gar? Was sie bekommen hatten, war Futter. Akkurat verpackt. Eines der bekanntesten Zitate der Fußballgeschichte.
Cantona hat in der Öffentlichkeit nie ein Wort des Bedauerns über die Attacke verloren, im Gegenteil, er bezeichnete sie später sogar als Höhepunkt seiner Karriere. Wenn man dem damaligen Verbandsvorsitzenden David Davies glaubt, der später in seinen Memoiren „FA Confidential“ davon berichtete, entschuldigte sich Cantona während der Verhandlung vor dem Sportgericht „bei Manchester United, Alex Ferguson, Maurice Watkins, meinen Mannschaftskameraden, dem Verband – und der Prostituierten, die letzte Nacht mein Bett mit mir geteilt hat“, was nur deswegen nicht zu einer höheren Sperre führte, weil zwei der drei Richter Cantonas französisches Englisch nicht verstanden. Bei Matthew Simmons, den er immer nur als „den Hooligan“ bezeichnete, entschuldigte er sich nicht.
„Ich entschuldige mich bei Manchester United, Alex Ferguson, Maurice Watkins, meinen Mannschaftskameraden, dem Verband – und der Prostituierten, die letzte Nacht mein Bett mit mir geteilt hat“
Es ging nicht anders. Sich öffentlich zu entschuldigen, hätte bedeutet, den Medien zu geben, was sie von ihm erwarteten. Was sie von jedem anderen erwartet hätten. Das konnte er nicht. Er mochte Gegenstand der Berichterstattung sein, ihr Spielball würde er nicht werden. Er ließ sich nicht vereinnahmen, von niemandem. Und er rechtfertigte sich nicht. Niemals. Das ist es, was Eric Cantona bis heute aus der Masse der sogenannten Rebellen heraushebt. Er ist nie an den Punkt gelangt, an dem er sich eingestehen musste, dass das System größer ist als er selbst.
Nach seiner Sperre kam er noch einmal zurück und führte Manchester United zu zwei weiteren Meisterschaften. Dann erklärte er, auf dem Zenit seines Schaffens, mit nicht einmal 31 Jahren, seinen Rücktritt. Endgültig. Wie immer hatte er sich bis zuletzt die Möglichkeit offengehalten, am Ende mit aller Konsequenz das zu tun, was niemand erwartete. Dieser Maxime ist er immer treu geblieben, und ob er sich damit in Widersprüche verstrickte oder jemanden vor den Kopf stieß, spielte für ihn keine Rolle. Er rief in Internetvideos zum Sturz des Bankensystems auf und warb gleichzeitig für internationale Großkonzerne. Er kündigte an, bei den französischen Präsidentschaftswahlen kandidieren zu wollen, und amüsierte sich königlich über die Aufregung der Medien, ehe er das Ganze als PR-Kampagne für eine Obdachlosenstiftung entlarvte.
Er arbeitet heute abwechselnd als Sportdirektor für den wiederbelebten Operettenklub New York Cosmos und als ernstzunehmender Schauspieler in Frankreich. Er ist noch immer ein Mann der Gegensätze. Er ist noch immer Eric Cantona, Erlöser von Manchester United, König der Möwen.