Ein Besuch an der Alten Försterei ist ein einzigartiges Erlebnis. Das Stadion von Union Berlin lässt die Zuschauer noch unverfälschte Fankultur erleben – doch genau das wird schleichend zum Problem.
Nur wenige Meter vor dem Stadion Alte Försterei stehen die Fans am Grillstand Schlange. Buletten oder Bratwurst, dazu Schrippen – die Auswahl ist begrenzt, aber mehr als ausreichend. Zwischen den rotgekleideten Menschen steht ein junges Paar und diskutiert im Flüsterton. Als sie von der Verkäuferin durch ein kurzes Zucken ihres Kinns aufgefordert werden, ihre Bestellung aufzugeben, sagt die Frau selbstbewusst: „I’ll have a Hamburger!“, und kriegt anstatt ihrer Bestellung nur ein ungläubiges „Was willst du? ‘Nen Hamburger?!“. Die Verkäuferin stößt ihren Kollegen an und wiederholt die Bestellung als sei es der beste Witz, den sie seit langem gehört hat und erlöst schließlich, nach der dritten Wiederholung, das Pärchen. „Hier haste deinen Hamburger“, sagt die Frau und gibt ihr eine Bulette mit Schrippe in die Hand.
Dabei sind englische Fans inzwischen nichts Ungewöhnliches an der alten Försterei. Für einige Touristen gehört der Besuch eines Union-Berlin-Spiels zum Pflichtprogramm ihres Urlaubs. Auch sonst ist das Publikum, das sich vom S‑Bahnhof Köpenick aus auf den einen Kilometer langen Marsch in Richtung Stadion macht, sehr durchmischt. Neben Touristen gehen Studenten mit Turnbeuteln und ostdeutschem oder schwäbischem Dialekt, die sich – teils unironisch – rot-weiße Fischerhüte aufgesetzt haben. In den letzten Jahren stieg an der Alten Försterei der Anteil der Besucher, die nicht aus dem Berliner Osten, sondern aus anderen deutschen Städten oder dem Ausland kamen und in Köpenick ihre neue fußballerischen Heimat gefunden haben – oder einfach nur mal vorbeischauen wollten. Auf dem Marsch in Richtung des Stadions fallen sie noch auf, denn es dominiert noch immer das, weshalb sie gekommen sind: Berlinerisch und die Fankultur von Eisern Union.
Langfrist nach oben
Der Klub aus dem Berliner Osten überwintert aktuell auf Rang vier der 2. Bundesliga. Die gesamte Hinrunde blieb der 1. FC Union Berlin ungeschlagen, erst das 18. Spiel, offiziell der erste Spieltag der Rückrunde, ging gegen Erzgebirge Aue mit 3:0 verloren. Fünf Punkte trennen Berlin vom 1. FC Köln, und damit von einem sicheren Aufstiegsplatz. Auf den FC St. Pauli sind es drei Punkte. Dass Union trotz einer Hinrunde ohne Niederlage nicht weiter oben steht, liegt an den vielen Unentschieden. Zehn Mal spielte der Verein Remis. Vor allem auswärts taten sich die Berliner schwer: ein Sieg, sieben Unentschieden, eine Niederlage. „Die letzte Saison hat im Verein und bei den Fans Spuren hinterlassen“, sagt Daniel Roßbach vom Union-Berlin-Blog Eiserne Ketten. „Wir sind froh, dass wir uns stabilisiert haben und uns keine Sorgen mehr machen müssen.“ Es war eine turbulente Spielzeit. Jens Keller, der in der Vorsaison knapp am Aufstieg gescheitert war, wurde im Winter entlassen. Doch auch unter André Hofschreiter lief es nicht besser. Durch eine starke Schlussphase rettete sich Union und wurde am Ende Achter.
Im Sommer korrigierte Union Berlin die Entscheidung und verpflichtete einen neuen Trainer: den Schweizer Urs Fischer. Fischers Ziel war es zunächst die Defensive zu stärken. „Wir sind vor allen Dingen hinten stabil, vorne ist das alles noch wenig spektakulär“, kommentiert Daniel Roßbach. Im Winter soll sich das ändern. Im Trainingslager im spanischen Jeréz de la Frontera legt Fischer aktuell vor allen Dingen wert auf die Arbeit mit Ball. „Das Ziel ist es langfristig, aufzusteigen“, sagt Roßbach. „Urs Fischer hat einen Zwei-Jahres-Vertrag unterschrieben, in der Zeit soll es dann auch nach oben gehen, aber ob das in diesem Jahr der Fall ist…?“ Die Konkurrenz scheint in diesem Jahr übermächtig. Durch die Präsenz von Köln und des Hamburger SV sind die zwei Aufstiegsplätze theoretisch schon vergeben, seit die Abstiege der zwei großen Vereine feststanden.
Die Rolle des Underdogs kennt Union Berlin gut. Eigentlich kennt sie keine andere Rolle. Schon zu DDR-Zeiten waren die Eisernen die hässlichen Entlein in der Berliner Fußballszene neben dem Berliner FC Dynamo. Der größte Erfolg der Vereinsgeschichte: Der Sieg im FDGB-Pokal 1968
Nach der Wende fand Union Berlin seinen Platz im Schatten von Hertha BSC. „Hart sind die Zeiten und hart ist das Team. Darum siegen wir mit Eisern Union“, heißt es in der Vereinshymne von Nina Hagen. Und hart waren die Zeiten oft. So wie 2008, als der Umbau der Alten Försterei so viel Geld zu kosten drohte, dass der Verein ihn sich nicht hätte leisten können. Also packten die Fans mit an, spendeten Geld und bauten mit über 2.000 freiwilligen Helfern einen Teil des Stadions selbst um.
Fankultur mit LED-Beleuchtung
Zum Glück. Es wäre ein Verlust für die deutsche Fußballszene gewesen. Die Stimmung in der Alten Försterei ist einzigartig. Es ist eines der wenigen Stehplatz-Stadien, ein Ort, an dem der Fußball nur wenig Eventcharakter hat, wo das gesamte Stadion aufsteht, singt und schreit. Ein Ort, wo Fankultur zelebriert wird, wie beim Weihnachtssingen, das 2003 von 89 Fans eher halblegal ins Leben gerufen wurde. Doch genau hier zeigt sich auch, wie sich der Verein verändert hat. In diesem Jahr kamen knapp 23.000 Menschen am 23. Dezember in die Alte Försterei. In der Mitte des Stadions war eine große Bühne aufgestellt, neben Kerzen leuchtete kaltes LED-Licht, die Hymne aus den Lautsprechern übertönte den Gesang der Fans, unter die sich nicht wenige gemischt hatten, die das Lied anscheinend zum ersten Mal überhaupt hörten und stumm das Spektakel verfolgten.
22.000 Menschen passen derzeit in das Stadion in Köpenick. Der Verein plant seit gut einem Jahr einen Ausbau auf 37.000 Plätze. Fast 80 Prozent sollen weiterhin Stehplätze bleiben. Das Ziel sei es, das Stadion bundesligatauglich zu machen. 1920 spielte Union Berlin zum ersten Mal an dem Ort, der damals noch Sportpark Sadowa hieß. 2020 soll der Ausbau fertig sein, pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum. Es wäre ein Fußballmärchen, wenn Union genau dann zum ersten Mal in die Bundesliga aufsteigen würde, viel zu kitschig für den ewigen Underdog. Nicht wenige Fans befürchten, dass mit dem ausgebauten Stadion die einzigartige Atmosphäre an der Alten Försterei verloren gehen könnte. Dass Eventcharakter und Stadiontourismus zunimmt und der Grillstand irgendwann Hamburger statt Buletten verkauft.