Eigentlich hätte das Vereinigte Königreich die Europäische Union inzwischen verlassen sollen. Im Fußball probten die Briten in der Vergangenheit schon öfter den Austritt. Und: Boris Johnson kann noch kläglicher aussehen als bei den Brexit-Verhandlungen.
1.
Der englische Fußballverband FA sieht den erneut verschobenen Brexit als Chance für den einheimischen Nachwuchs. Bisher müssen in den 25er Kadern der Premier-League-Klubs acht in England ausgebildete Spieler stehen. In Zukunft solle diese Zahl auf mindestens zwölf erhöht werden, schlägt Geschäftsführer Martin Glenn vor. Würde Sinn ergeben, denn schließlich könnten ausländische Spieler je nach Abkommen nach dem EU-Austritt nur noch dreijährige Arbeitsvisa bekommen.
2.
Dass die Brexit-Gräben im Vereinigten Königreich ziemlich tief sind, steht außer Frage. Ebenfalls, dass sie entlang der Landesteile verlaufen. Gerade das EU-freundliche Schottland liebäugelte seit der Volksabstimmung mehrfach mit einer Abspaltung aus der britischen Union. In Nordirland spielte man fußballerisch schon 2006 mit dem Gedanken an eine Abspaltung von England. Lawrie Sanchez, ehemaliger Trainer der Nordiren, schlug damals die Einführung eines keltischen Nationenturniers vor. Die angedachten Teilnehmer: Schottland, Wales, Nordirland und die Republik Irland – ein unfreiwilliger Engxit sozusagen. Der wurde 2011 Realität, als das „Nations Cup“ benannte Turnier erst- und letztmalig ausgetragen wurde.
3.
Das fußballerische Äquivalent zum No-Deal-Brexit testete das Vereinigte Königreich bereits von 1884 bis 1984 einigermaßen erfolgreich: Bei der British Home Championship traten jeweils die vier Nationalmannschaften von Nordirland, England, Schottland und Wales gegeneinander an. Eingestellt wurde der Wettbewerb nach der Ankündigung von England und Schottland, nicht mehr daran teilnehmen zu wollen. Vielleicht waren die Verbände auch nur eingeschnappt, weil in diesem Jahr Nordirland und Wales die Plätze eins beziehungsweise zwei belegten.
4.
Apropos eingeschnappt: Das war 2006 vermutlich auch der damalige Premier Gordon Brown, als er ein Revival der Home Championship forderte. Zufälligerweise hatten sich vorher weder England, noch Nordirland, Wales oder Schottland für die EM 2008 qualifiziert. Unfair befand Brown, und wollte einfach sein eigenes Ding durchziehen. Scheinbar die bis heute gängige Herangehensweise auf der Insel.
5.
Wir hätten nicht gedacht, dass Boris Johnson irgendwo eine noch kläglichere Figur abgeben könnte als bei den Brexit-Verhandlungen. Doch Johnson wäre nicht Johnson, würde er das Unmögliche nicht möglich machen – und zwar im Zweikampf mit Maurizio Gaudino.
6.
In Sachen Backstop, also vorerst offener Grenzübergänge an der irisch-nordirischen Grenze, zeigen sich die Fußballverbände einigermaßen störrisch. Tatsächlich heißt der nordirische nach wie vor „Irish Football Association“ und wurde bei den Home Championships auch bis 1976 als „Irland“ geführt. Im Rugby zeigt man sich da schon fortschrittlicher: Die Irish Rugby Football Union vertritt seit jeher beide irischen Ländern, den Norden und die Republik gemeinsam. Der permanente Backstop ist möglich!
7.
Das sogenannte Norwegen-Modell bleibt nach wie vor eine präferierte Option vieler Brexiteers. Dabei bliebe England, nach dem Vorbild Norwegens, Liechtensteins und Islands, im Europäischen Wirtschaftsraum und würde weiterhin von den Vorteilen des Binnenmarktes profitieren. Eine Art Norwegen-Modell hätte sich die FA wohl auch zur WM 1994 gewünscht: England wurde dritter in der Qualifikationsgruppe, hinter den Niederlanden auf Platz zwei und Norwegen als Gruppensieger.
8.
Auch die WM 2018 stand im Zeichen des Brexit. Als England und Belgien in der Gruppe G aufeinandertrafen, standen sich zeitgleich die Regierungschefs der EU-Mitglieder in Brüssel gegenüber. Prompt wurde das Gruppenspiel zum „Brexit-Derby“ erhoben. England verlor 0:1. Auch das zweite Referendum im Spiel um Platz drei ging an Belgien. Nachverhandlungen wurden keine aufgenommen. 2016 hatten englische Fans bei der EM in Frankreich bereits ihr Abstimmungsverhalten mit eindeutigen Gesängen belegt: „Fuck off Europe“, hieß es damals, „we all voted out.“
9.
Übrigens hält auch Ex-Nationalspieler Sol Campbell, der zwischenzeitlich Boris Johnson als Bürgermeister von London nachfolgen wollte, den Brexit für eine Hilfe für den englischen Fußball. „Die nötigen Veränderungen zu machen, bedeutet, die Kontrolle zurückzuerlangen über das Spiel, dass wir lieben“, schrieb er in der Mail on Sunday. Seine Liebe zum Spiel bewies er schließlich spätestens mit dem Wechsel von Tottenham nach Arsenal.
10.
Eigentlich mögen wir unsere britischen Quasi-Nachbarn ja sehr gern, nicht zuletzt weil sie in den vergangenen Jahrzehnten so zuverlässig bemitleidenswerte Verlierer waren. Aber wenn wir uns das hier ansehen, kann der Brexit gar nicht schnell genug kommen.