Der US-amerikanische Frauenfußball steckt in seiner größten Krisen. Nach Recherchen von TheAthletic sollen Trainer ihre Spielerinnen ungehindert bedrängt und sexuell genötigt haben. Wie konnte das geschehen?
Gotham, die verlorene Stadt in den Comics des DC-Universums, war an diesem Mittwochabend nur Nebenschauplatz einer noch größeren, einer noch dunkleren Geschichte. Gotham FC, so heißt die Frauenfußballmannschaft aus New Jersey, und Washington Spirit standen sich gegenüber, als ihr Spiel nach sechs Minuten unterbrochen wurde. Nicht aufgrund einer Rangelei, nicht aufgrund von Ausschreitungen, sondern aufgrund eines Skandals. Die Spielerinnen liefen ruhig, geordnet, aber auch zielstrebig zum Mittelkreis, bildeten einen Kreis und blieben dort für eine Minute stehen. Die Fans auf den Rängen applaudierten, sie hielten Schilder hoch mit Botschaften wie „No more silence!“. Die Spielerinnenvereinigung in den USA schrieb in einem Statement: „Heute Abend haben wir uns unseren Platz auf dem Feld zurückgeholt, weil wir uns die Freude nicht nehmen lassen.“
Den US-Frauenfußball erschüttert in dieser Woche eine Reihe von Missbrauchsvorwürfen, in deren Zentrum der englische Profitrainer Paul Riley steht, der seit mehr als zehn Jahren in den USA als Coach für verschiedene Teams arbeitet. Nach Recherchen von TheAthletic soll der Coach von North Carolina Courage über ein Jahrzehnt Spielerinnen sexuell genötigt, seine Macht missbraucht und seine Opfer systematisch und teilweise vor der Mannschaft erniedrigt haben. Der Trainer bestreitet die meisten Vorwürfe. Doch die sind so zahlreich, die Details so abscheulich und mittlerweile erklären weitere Spielerinnen, dass sie ähnliche Erfahrungen in ihren Karrieren gemacht haben, dass US-Nationalspielerin Megan Rapinoe forderte: „Brennt alles nieder. Lasst all ihre Köpfe rollen.“
„Als Mensch und als Spielerin war ich nie mehr dieselbe“
Für Sinead Farrelly begann alles in einer Bar. Die junge Mittelfeldspielerin von Philadelphia Independence hatte sich über das College-System und die Juniorenauswahlmannschaften der USA in die Profifußball gespielt. Sie machte sich Hoffnungen, in die Nationalmannschaft berufen zu werden. Neben ihr am Tresen saß ihr Trainer Paul Riley. Sie sagt, er habe ihr Aufmerksamkeit geschenkt, Geld gegeben, um ein paar Shots zu kaufen, er habe ihr gesagt, dass sie wunderschön sei und gefragt, wie es ihr in früheren Beziehungen ergangen sei. Gespräche, Fragen, Antworten, „was mir das Gefühl gab, wirklich selten und besonders zu sein“, wie Farrelly gegenüber TheAthletic sagt.
Farrelly berichtet von Grenzüberschreitungen, die mit der Zeit unter Coach Paul Riley zugenommen hätten. Nicht nur auf persönlicher Ebene. Nachdem der Verband auf die Leistungen Farrellys aufmerksam wurde, wechselte Riley seine Spielerin gezielt aus, um eine Nominierung für die Nationalmannschaft zu verhindern. Ein Trainingslager zur WM 2011 sagte Farrelly schließlich überraschend ab, weil sie, wie sie damals erklärte, sich auf die Aufgaben mit ihrem Team in Philadelphia konzentrieren wollte. Wenige Zeit später, nach einer besonders bitteren Niederlage, kam es zu einem frustrierten Gelage im Teamhotel. In der Nacht seien Farrelly und Riley in ein Zimmer gegangen. Sie habe das Gefühl, dass ihr Trainer sie gezwungen habe, Sex mit ihm zu haben. Am nächsten Morgen habe er gesagt, sie sei ihm in das Zimmer gefolgt, sie sollten das Geschehene „mit ins Grab nehmen“. Doch stattdessen habe Riley die Nacht in der Folge ihr gegenüber immer wieder zur Sprache gebracht. „Dieser Moment hat mein ganzes Leben verändert“, sagte Sinead Farrelly gegenüber TheAthletic. „Als Mensch und als Spielerin war ich nie mehr dieselbe.“
Die Vorwürfe gegenüber dem Trainer der North Carolina Courage gehen aber weiter: Er habe Farrelly und Mitspielerinnen unter Druck gesetzt, zu sexuellen Handlungen aufgefordert, wie die Farrelly, aber auch ihre ehemalige Teamkollegin Meleana Shim sagt. Riley habe sich um gewisse Spielerinnen bemüht, um sie später auch bei anderen Teams unter Vertrag zu nehmen oder nicht zu transferieren. Ein Abhängigkeitsverhältnis entstand. So habe er im privaten Rahmen beide Spielerinnen aufgefordert, sich zu küssen. Er als Cheftrainer würde im Gegenzug auf eine besonders harte Einheit im nächsten Training verzichten. Er habe Fotos verschickt, auf denen er allein Funktionsunterwäsche trug. Er habe sie im Flugzeug gebeten, die Plätze mit anderen zu tauschen, damit sie neben ihm sitzen würde. „Er war einfach eklig“, sagt Shim gegenüber TheAthletic. Bereits 2015 hatte Shim das Verhalten ihres Trainer den Portland Thorns, dem damaligen Team, gemeldet. Doch Verein und Verband gingen den Vorwürfen nicht entschieden genug hinterher.
North Carolina Courage hat sich in einer ersten Reaktion auf die Berichte von TheAthletic von Coach Paul Riley getrennt. Der US-amerikanische Fußballverband hat ihm die Trainerlizenz entzogen. Die Franchise erklärte: „Während seiner Anstellung bei Courage hatten wir keine Kenntnis von Vorwürfen wegen sexueller Belästigung oder Nötigung. Als wir in der Berichterstattung der letzten Woche von den schrecklichen Vorwürfen erfahren haben, haben wir diese ernst genommen und Herrn Riley sofort gekündigt.“
Bereits jetzt deutet sich an, dass Paul Riley im US-amerikanischen Frauenfußball kein Einzelfall sein dürfte. Vielmehr stehen aktuell die Strukturen in der US-amerikanischen Profiliga NSWL im Fokus. In einer ersten Pressemitteilung hatte NSWL-Boss Lisa Baird erklärt, „geschockt und angeekelt“ von den Berichten zu sein. Nur eine Stunde später veröffentlichte Nationalspielerin und Superstar Alex Morgan einen Mailverkehr aus dem April, der beweisen soll, dass die Liga von den Anschuldigungen wusste, sich aber mehrfach geweigert haben soll, die Vorwürfe zu untersuchen. „Die Liga muss die Verantwortung für einen Vorgang übernehmen, der die eigenen Spieler nicht vor diesem Missbrauch schützt.“ Baird traf daraufhin von ihren Ämtern zurück.
Weitere Spielerinnen wie Nationalspielerin Sam Mewis positionierten sich ebenso klar. Sie, die ebenfalls unter Riley gespielt hat, schrieb: „Ich unterstütze Sinead und Mana.“ Das 21-jährige Top-Talent Sophia Smith schrieb bei Twitter: „Was in dieser Liga passiert, ist ekelhaft. Als junge Spielerin ist es ein beängstigendes und einschüchterndes Gefühl, nie zu wissen, wer auf einen aufpasst oder wem man vertrauen kann. Von der Liga wird das absolute Minimum verlangt, um ihre Spieler zu schützen, und sie können nicht einmal das tun.“
„Was in dieser Liga passiert, ist ekelhaft“
Wie sehr der Frauenfußball unter strukturellen Problemen leidet, wird auch mit Blick auf die finanzielle Situation vieler Spielerinnen klar. Die NWSL ist bereits die dritte professionelle Frauenfußballliga in den USA, nachdem zwei andere Ligensysteme in der Vergangenheit scheiterten. Im neunten Liga-Jahr verdienen 75 Prozent aller Spielerinnen weniger als 31.000 Dollar im Jahr, wie TheAthletic berichtet. Viele Spielerinnen würden sich austauschbar fühlen. Eine Situation, die die Kultur von Unterdrückung, Nötigung und Schweigen nur fördere. Alex Morgan sagte: „Es gab definitiv diese gemeinsame Idee, dass die NWSL irgendwie die letzte Hoffnung auf eine Frauenfußballliga ist. Aus diesem Grund habe ich das Gefühl, dass es diese Meinung gibt, dass wir für das, was wir haben, dankbar sein und keine wichtigen Fragen aufwerfen sollten.“ TheAthletic hatte mit mehr als einem Dutzend Spielerinnen gesprochen, nur Shim und Farrelly ließen sich namentlich nennen.
In einer ersten Reaktion hatte die NSWL vor einer Woche mehrere Spiele ausgesetzt, beim Neustart zwischen Gotham und Washington Spirit unterbrachen die Mannschaften nun das Spiel nach sechs Minuten. Dabei war in Washington erst vor wenigen Tagen der Trainer Richie Burke nach Vorwürfen zu verbalem Missbrauch und rassistischer Bemerkungen entlassen worden. Seine Spielerinnen hatten bereits im vergangenen Jahr intern Bedenken geäußert, Burke blieb vorerst Trainer. Es gibt weitere Beispiele aus den letzten Jahren mit ähnlich drastischen Geschichten und Trainern, die zulange keine Konsequenzen fürchten mussten. Nun standen die Spielerinnen schweigend, sich umarmend, in der Mitte des Spielfelds. „Heute Abend haben wir uns unseren Platz zurückgeholt.“ Sechs Minuten, sechs Jahre. Solange hat es gedauert, ehe Paul Riley nach den ersten Vorwürfen 2015 nun aus dem Amt geworfen wurde.
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