Seit dieser Woche trainiert Tim Wiese bei der WWE. Sein erster Kampf erschien unserem Autor im Traum.
Wiese trat in die Arena, gehüllt in einen deutlich zu kleinen und schlecht geschnittenen Verwalter-Anzug. Im Gesicht eine rahmenlosen Beamtenbrille, in der Hand eine Aktentasche mit dem Konterfei der Kanzlerin darauf, die er theatralisch in die Höhe reckte. Dazu ballerte monotoner Bürokratentechno von „Kraftwerk“ aus der 12.000-Watt-Anlage der Halle.
Der 1,93-Meter-Hüne ging gebückt, bemüht kraftlos und unterwürfig, um den Beamten authentisch zu mimen. Er trottete zur fast unsichtbaren Markierung auf dem Boden. „MERKEL-WARRIOR? ME?“, donnerte er in die Halle. Umständlich schwenkte er den Zeigefinger und schüttelte im selben Rhythmus den Kopf. „NEVER!!“
Er warf die Aktentasche von sich, drückte den Rücken durch und zog in tiefen Zügen das wabernde Testosteron der Umgebung ein. „I ONLY SERVE ONE NATION!“ Wiese flexte Bizeps, Trizeps und alle übrigen verfügbaren Muskeln. „THE WRESTLING NATION!“ Sein Verwalter-Anzug platzte entlang der Nähte, Wiese riss sich die Fetzen vom Leib. Er stand nun in einer grün-weiß-karierten Speedo-Unterhose in der Halle. Die Zuschauer waren nicht mehr zu halten. Die Gesichter der hessischen „WWE-Brigade Eschborn“ etwa, deren Mitglieder bereits seit den frühen Morgenstunden vor der Halle campiert hatten, um nun in der ersten Reihe zu stehen, verformten sich zu grotesken Fratzen der Ekstase.
Ein Zuhause beim väterlichen Landvogt
Wiese rutschte unter den Seilen hindurch in den Ring, wo sein Mentor ihn bereits erwartete. Der Kampf war bis zur kleinsten Bewegung durchgeplant. Wiese würde verlieren, so wie es für Neulinge im Ring üblich war. Also ließ er sich in die Ringecken werfen und winselte gespielt wegen der brutalen Attacken, die er von seinem Gegner einstecken musste. Nachdem er erneut eine Salve Schläge in den Bauch simulieren musste, sackte er zusammen und krümmte sich auf dem Boden. Er beobachtete, wie der Landvogt auf einen Pfosten des Rings stieg, dort tänzelnd für das buhende Publikum posierte. Er ging in die Knie und – sprang.
Die Flugkurve konnte Wiese voraussagen, hatten der Landvogt und er diesen „Finisher“ doch dutzendfach geprobt. Dennoch überraschte ihn die schiere Wucht, mit der der Unterarm des Landvogts auf seinen Hals landete. Der Ringrichtiger klatschte zum ersten Mal auf die Matte. „ONE!“ Der Landvogt zwinkerte ihm fast väterlich zu. Das Gefühl von Anerkennung floss warm durch Wieses Körper. „TWO!“ Wiese schloss die Augen und fühlte sich, als sei er am Ende einer langen Reise, dessen Ziel er lange nicht kannte, endlich angekommen. „THREE! FIGHT’S OVER!“ Von nun an würde der Ring sein Zuhause sein.