Heute Abend empfängt der FC St. Pauli den HSV zum Derby, zum Duell zweier eigentlich unvereinbarer Vereine. Eigentlich, denn in unserem aktuellen 11FREUNDE SPEZIAL „Liebe & Hass“ beschreibt unser Autor, wie es ist, Fan von beiden Mannschaften zu sein.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Artikel „Die Braunweiße Raute“ aus unserem 11FREUNDE SPEZIAL „Liebe & Hass“. Darin findet ihr nicht nur den gesamten Text, sondern auch viele weitere Reportagen, Interviews, Porträts und Fotostrecken zur dunklen und hellen Seite des Fußballs. Das Heft gibt es am Kiosk und hier im Shop.
Mitte der Achtziger brüllten sie in meiner live erlebten, jugendbedingt noch unreflektierten Erinnerung schließlich vieltausendfach „Judensau“ durchs Stadion, sobald ein Spieler eines verfeindeten Teams – und das waren bis auf (Borussenfront) Dortmund praktisch alle – gefoult hatte. Später verschwanden die rechten Bomberjacken zwar aus dem Rampenlicht des HSV, stattdessen tauchte dort aber ein Logistikmilliardär auf, der seinen Verein so lange nach Gutsherrenart kapitalisierte, bis Hunderte Hardcorefans ersatzweise den HFC Falke gründeten – eine Flucht in Zeiten, als Fußball noch Sport, kein Geschäft war.
HSV und St. Pauli – bis tief in die Gegenwart waren das folglich nicht nur Antipoden soziokultureller Randlagen (meist) zweierlei Ligen, sondern verschiedene Aggregatszustände. Und im Grunde ist das bis heute so. Abgesehen von Misserfolg und Mangel an Identifikationsfiguren, und auch weit mehr als bloß die Liga, eint beide ganz besonders: Leidensfähigkeit.
Billige Referenzgröße
Seit nunmehr 32 Jahren ohne nennenswerten Titel, dafür mit mehr Trainern als Nationalspielern, ist der HSV zur bevorzugten Zielscheibe aller Branchenzyniker geschrumpft. Wann immer in Funk und Fernsehen, Presse oder Netz von Größenwahn und Selbstverzwergung die Rede ist, dient der Europapokalsieger des Jahres 1983 verlässlich als billige Referenzgröße. Wer die Lacher auf seiner Seite haben will, muss also nur mal die Begriffspaare „Relegation“ plus „Dusel“, „Bernd“ plus „Hollerbach“ oder „Papier“ plus „Kugel“ durch den Dunst einer Sky-Kneipe husten – republikweit tobt der Tresen.
Dabei ist die Ausdauer, mit der zahllose Opfer des Spotts seit zehn Jahren Tiefschläge einstecken wie Bayern-Fans Titel, aller Ehren wert. Im Schnitt rund 50 000 Besucher überbrücken den stetig wachsenden Riss zwischen Anspruch und Realität Jahr für Jahr, Spiel für Spiel, Pleite für Pleite in einer rappelvollen Arena, nur um dort weitere Klatschen zu ertragen. Nach dem Abstieg verwandelten radikale Ultras diese zwar in ein pyroglühendes Inferno, aber Pfiffe waren kaum zu hören. In einem Stadion, das nicht nur wieder „Volkspark“ statt eines Markennamens als Präfix hat, sondern trotz Ausgliederung der Profiabteilung wie kaum ein anderes von streitbaren Fans mitgestaltet wird. Bei nüchterner Betrachtung müsste das den ähnlich masochistischen, strukturell interaktiven, bis zur Selbstverleugnung loyalen Fans der Fahrstuhlmannschaft des FC St. Pauli also höchsten Respekt abringen. Aber wer ist im Fußball außer Kindern und Schwangeren schon nüchtern? Ach ja: ich.
Unterhaltsam, spannend, richtig so
Schon weil mir das Hamburger Stadionbier ähnliches Kopfweh bereitet wie bekömmliches Pils in Raucherbars, und Kiffen ja eher so Nuller ist, bewahre ich relativ kühlen Kopf und betrachte den sogenannten Klassenfeind mit mehr Wohlwollen als die meisten der prinzipientreuen Supporter meines Leibvereins vom Millerntor, wo schon die Nennung der drei Großbuchstaben Schnappatmung bis hin zur Gewaltphantasie auslösen kann.
So ist das halt in einer routinierten Sportrivalität, und irgendwie ist es auch persönlichkeitsbildend, unterhaltsam, spannend, ergo: richtig so.