Keine Fanfreundschaft ist so traditionsreich, so unverbrüchlich und so weltumspannend wie der Bund zwischen dem FC Turin und River Plate. Und jedes Jahr kurz vor Weihnachten lebt sie wieder auf.
Es sind kleine, meist unscheinbare Pakete. Wer sie öffnet, atmet den Duft von Weihnachten. Wie jedes Jahr um diese Zeit wurde auch 2020 zentnerweise Crescenzin von Turin nach Buenos Aires verfrachtet. Das süße Schwarzbrot mit Butter, Puderzucker, Rosinen, Nüssen und Äpfeln ist eine Spezialität der Region Piemont und ein traditioneller Gruß der Tifosi des FC Turin an ihre „Brüder“ und „Schwestern“ in Argentinien – an die „Hinchas“ von River Plate. Die revanchieren sich, indem sie Alfajores nach Norditalien schicken: selbst gebackene Weihnachtsplätzchen aus Maismehl, gefüllt mit einer klebrig-süßen Nougatcreme.
Es gibt viele Fan-Freundschaften. Manche sind noch jung, andere längst wieder verschwunden. Nur wenige sind für die Ewigkeit bestimmt. Und wohl kein Bündnis ist so innig wie das des FC Turin (bis zur Insolvenz 2005: AC Turin) und des Club Atlético River Plate aus Buenos Aires. Schon seit über 70 Jahren sind die Vereine und ihr jeweiliges Gefolge untrennbar miteinander verschworen – und das auf sämtlichen Ebenen: Neben engen Bruderschaften verschiedener Ultra- und Barra-Brava-Gruppen gibt es langjährige Brieffreunde unter den Tribünen-Eminenzen und zahllose Chats, in denen der Fan-Nachwuchs beider Lager kommuniziert. Selbst in New York und in Miami halten emigrierte River-Fans und italienisch-stämmige „Toro“-Anhänger zusammen wie Pech und Schwefel.
Wie eng das Verhältnis ist, verdeutlicht auch diese Episode: Als der argentinische Wandervogel Maxi Lopez im Januar 2015 beim FC Turin landete (seine zehnte von bislang 14 Profistationen), erlebte der Mittelstürmer eine beinahe hysterische Verehrung. Das lag zum einen daran, dass Lopez in den ersten 16 Ligaspielen für seinen neuen Arbeitgeber stolze acht Treffer markierte. Vor allem aber hatte der 1,92 Meter große Blondschopf seine Karriere einst bei River Plate begonnen, und sich mehrfach als Fan des argentinischen Rekordmeisters (aktuell 36 Titel) geoutet. Die Tifosi im tiefroten Teil Turins nannten ihn ehrfürchtig „Maximus“.
„Die Torino-Fans sind noch immer dankbar für River Plates Beitrag zum Heilungsprozess nach der Katastrophe“, schrieb der englischsprachige „Torino Blogger“ vor einigen Jahren. Die „Katastrophe“ brach am 4. Mai 1949 über den Klub herein: „Il Grande Torino“, Italiens Topteam der 1940er-Jahre, befand sich gerade auf dem Heimweg von einem Freundschaftsspiel bei Benfica Lissabon. Während des Landeanfluges im dichten Nebel kollidierte die kleine Maschine mit einer über 200 Jahre alten Kirche, der Basilica della Natività di Maria Vergine, die bis heute auf einem Berg außerhalb Turins thront. „Il Grande Torino“ aber wurde auf ewig zerstört. Alle 31 Flugzeuginsassen, darunter 18 Spieler, kamen ums Leben. Die gesamte Fußballwelt trug Trauer.
Einer aber wollte mehr tun, als nur brav zu kondolieren: Antonio Vespucio Liberti, der damalige Präsident von River Plate, war wie seine italienisch-stämmigen Vorfahren glühender Anhänger des AC Turin und organisierte ein bombastisches Benefizspiel zugunsten der Opferfamilien: Am 26. Mai 1949, ganze 22 Tage nach dem Crash, kickte River Plate in Turin gegen eine italienische Liga-Auswahl, die in stierblutfarbenen Trikots antrat – eine Reminiszenz an „Il Grande Torino“. Die Partie endete 2:2 und war zugleich der Beginn einer unverbrüchlichen Freundschaft, die über zwei Weltmeere und fast 72 Jahre reicht.
Als River Plate im November 2019 im Endspiel der südamerikanischen Copa Libertadores stand, platzten die einschlägigen Bars der Torino-Fans aus allen Nähten. Und als ein gewisser Gabriel Barbosa in der 5. Minute der Nachspielzeit den 2:1‑Siegtreffer für den brasilianischen Erzrivalen Flamengo erzielt hatte, stand den Turinern echte Anteilnahme in den Gesichtern geschrieben. Einige weinten sogar. Manche zückten ihre Smartphones und schrieben Worte der Solidarität an ihre argentinischen „Brüder“ und „Schwestern“, die im fernen Lima in der Kurve standen oder in irgendeiner Bar in Buenos Aires hockten. Echte Freundschaft verbindet auch jene, zwischen denen Tausende von Kilometern liegen.
Das rote Band der Freundschaft zwischen dem FC Turin und River Plate ist auch im Alltag kaum zu übersehen: Rund um das „Stadio Olimpico Grande Torino“, die 87 Jahre alte Heimstätte des italienischen Klubs, kleben Tausende von Freundschaftsstickern auf Ampelmasten, Leitplanken und Zeitungskiosken. Mal auf Spanisch, mal auf Italienisch künden sie von „Eterna Amistad“ oder „Eterna Amiciaza“ – ewiger Freundschaft. In der „Curva Maratona“ zählen gemeinsame Schals und Transparente ebenso zum gängigen (Vor-Corona-)Szenario wie größere Besuchergruppen aus Argentinien. Die Gäste übernachten meist bei langjährigen Freunden oder lernen neue kennen, bei denen sie sich dann spontan einquartieren.
Das Museum des FC Turin im beschaulichen Vorort Grugliasco hat der einzigartigen Freundschaft zum Klub aus Buenos Aires sogar eine eigene kleine Sonderausstellung gewidmet. Das vielleicht schönste Exponat ist ein tiefrotes Trikot – von River Plate: An jedem 4. Mai, dem Jahrestag der „Katastrophe“, spielen die Argentinier in „Granata“. So nennt man die charakteristische Trikotfarbe des FC Turin. Im Gegenzug zählt der siebenmalige italienische Meister schon seit 1953 schneeweiße Ausweichtrikots mit roter Brustschärpe zu seinem Equipment – eine Hommage an die Farben der südamerikanischen Freunde.
Schon bald, so hofft man im Piemont wie auch in Buenos Aires, werden die Flugzeuge zwischen Italien und Argentinien nicht mehr nur Päckchen befördern, sondern wieder Menschen. Fans. Freunde. Fürs Leben.