Best of 2022: Drei Monate vor der Weltmeisterschaft brauchte es eine Haltung zum Turnier in Katar. Von den Fußballern, von den Funktionären, von den Fans. Und von 11 FREUNDE.
Dieses Statement stammt aus 11FREUNDE #250, unserer neuen Ausgabe. Schon heute bei unseren Abonnentinnen und Abonnenten im Briefkasten und hier bei uns in Shop, ab morgen am Kiosk eures Vertrauens.
Am Sonntag, dem 20. November wird um fünf Uhr nachmittags deutscher Zeit das erste Spiel der WM in Katar angepfiffen, der Gastgeber trifft auf Ecuador. Und bis dahin wird jeder Fan, jeder Spieler, jeder Journalist und jeder Funktionär eine Haltung zu diesem Turnier entwickelt haben müssen. Manche haben das bereits getan. Die niederländische Gärtnerei Hendriks Graszoden hätte eigentlich den Rasen für die katarischen Stadien liefern sollen und lehnte den Auftrag ab, der tausenden gestorbenen Arbeitsmigranten wegen. Und mehrere Mitglieder des walisischen Nationalteams werden trotz gelungener Qualifikation nicht nach Katar reisen, als Protest gegen die omnipräsente Diskriminierung der LGBTQ-Community im Emirat. Andere hingegen haben beschlossen, sich von unschönen gesellschaftlichen Entwicklungen ganz generell nicht die Laune verderben zu lassen, wie etwa der Altinternationale Thomas Helmer, der ungefragt verkündete, er werde sich „an politischen Diskussionen zur Weltmeisterschaft nicht beteiligen“, was ihn wiederum auf kongeniale Weise mit Rekordnationalspieler Lothar Matthäus verbindet, der sich schon vor längerer Zeit als PR-Botschafter der Kataris einkaufen ließ.
Alle anderen jedoch, die um eine Haltung zur WM ringen, müssen sich nun zu den vielfältigen Forderungen nach einem Boykott des Turniers verhalten. Nicht nach Katar zu fahren, nicht den Fernseher anzumachen, das scheint nämlich auf den ersten Blick die einzige Möglichkeit, nicht Teil dieses großen Schurkenstücks zu sein, das am 2. Dezember 2010 mit der Vergabe der WM an das Emirat am Persischen Golf seinen Anfang nahm. Seither bündelt dieses Turnier zahlreiche Missstände des internationalen Profifußballs, von der dreisten Bestechung diverser FIFA-Funktionäre vor der Vergabe über die Ausbeutung zahlloser ausländischer Arbeiter auf den WM-Baustellen bis hin zu staatlich geförderten Menschenrechtsverletzungen in der katarischen Monarchie. Kann all das eine andere Konsequenz haben als einen Boykott?
Nicht nach Katar zu fahren, den Fernseher auszulassen, erscheint zunächst als einzige Option!
Nun ist das Instrument des Fernbleibens von sportlichen Großereignissen nicht neu. Nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 boykottierten die USA und einige Verbündete die Olympischen Spiele ein Jahr später in Moskau, die UdSSR revanchierte sich 1984 mit der Absage für die Sommerspiele in Los Angeles. Sporthistorisch gelten die Kampagnen heute als Fehlschlag, nicht nur, weil sie halbherzig umgesetzt und vom Publikum weitgehend ignoriert wurden, sondern auch weil sie der politischen Instrumentalisierung Olympias noch einmal gehörigen Schwung gaben.
Gleichwohl finden Boykottforderungen in der Bevölkerung großen Widerhall. Fast die Hälfte der Deutschen hält den Verzicht der Nationalelf auf eine WM-Teilnahme für geboten, nur 24 Prozent wünschen sich dezidiert die deutsche Teilnahme. So wenig Vorfreude auf das größte Sportereignis der Welt gab es selten, was viele Akteure vor argumentative Probleme stellt. Den Deutschen Fußball-Bund etwa, der ein Jahrzehnt lang das Thema gekonnt ausgesessen und kleingeredet hat und diese Untätigkeit nun durch hektische Aktivitäten und Konsultationen diverser Menschenrechtsorganisationen zu kaschieren sucht.
Aber auch die Medien müssen sich fragen, welche Rolle sie spielen wollen, bevor und vor allem während der Ball in Katar rollt. Ist jede Berichterstattung über sportliche Aspekte der WM am Ende kostenlose PR für die Veranstalter, weil sie die skandalösen Begleitumstände banalisiert? Und braucht es nicht dringend Menschen und Organisationen, die sich diesem bizarren Theater komplett verweigern? Ja, es braucht sie. Deshalb ist es gut, dass es Initiativen wie „Boycott Qatar“ gibt, dass Kneipen hierzulande die Spiele nicht zeigen wollen, dass Philipp Lahm, OK-Chef der EM 2024, auf die Reise an den Persischen Golf verzichtet.
Wir bei 11 FREUNDE sehen unsere Rolle jedoch anders. Nicht, dass wir uns der Illusion hingäben, das Turnier werde zum Motor gesellschaftlicher Veränderungen in Katar. Die Chance auf wirkliche Reformen wurde schon vor Jahren verspielt; weder die Fußballverbände noch die großen Werbepartner haben diesbezüglich nennenswert Druck gemacht. Und viele der vermeintlichen Fortschritte gerade bei den Arbeitsbedingungen befinden sich längst schon wieder im Rückbau. Wir sind aber der festen Überzeugung, dass es wichtig ist, Öffentlichkeit herzustellen. Das bedeutet, zu beschreiben, was im Winter in Katar passiert, auf den Fußballplätzen und daneben. Wie wird dieses Turnier inszeniert, wie verhält sich die Nationalelf, wie empfinden die Anhänger diese WM? All das aufzuschreiben, ist wichtig. Nicht hinzufahren, würde hingegen bedeuten, den Büchsenspannern und Marketing-Strategen der FIFA das Feld zu überlassen, die schon heute täglich PR-Mitteilungen herausfeuern, welch großartiges Sportereignis auf uns alle im Winter wartet. Wir wollen wach und kritisch berichten, so wie wir das in den vergangenen Jahren auch gemacht haben, zuletzt durch unsere Aktion „Cards of Qatar“, bei der wir Schicksale von Wanderarbeitern in Sammelkarten-Optik dargestellt haben. Und wir richten unseren Blick schon auf die kommenden Weltmeisterschaften, deren Vergabe endlich auch an ethische Kriterien geknüpft sein muss. Solche neuen Richtlinien gehören längst zum Forderungskanon der Funktionäre, ernsthafte Bemühungen sind bisher allerdings Fehlanzeige. Und deshalb braucht es auch hier öffentlichen Druck, durch Berichterstattung und Recherche.
Uns ist klar, dass das keine Haltung ohne inneren Widerhaken ist. Am Ende verdienen wir, wenn wir ein Sonderheft über die WM in Katar machen, Geld mit diesem Turnier, wie viele andere auch. Und natürlich sorgen klassische Berichte über das sportliche Treiben in Katar immer auch für eine Normalisierung unnormaler Zustände. Aber auch hier schließt das eine das andere nicht aus. Wir trauen uns zu, auch über die sportlichen Aspekte dieses Turniers zu berichten, ohne die Augen vor den gesellschaftlichen und sozialen Umständen zu verschließen, klar und pointiert und hoffentlich mit dem nötigen Humor, der oft eine schärfere Waffe sein kann als plakative Forderungen.
Wer nicht hinfährt, überlässt den gewieften PR-Strategen aus den Verbänden kampflos das Feld!
Vor allem aber ist Vorsicht bei zu simplen Schwarz-Weiß-Schemata geboten. Die weltpolitische Situation ist derart komplex, dass ganz Deutschland froh ist, wenn Robert Habeck beim Emir von Katar für frisches Erdgas sorgt, die Nationalelf soll aber lieber nicht hinfahren. Der Wirtschaftsminister beklagte nach seiner Visite nicht zu Unrecht die hierzulande weitverbreitete situative Empörung. Soll heißen: Wir wähnen uns durch die Ablehnung einer WM in Katar plötzlich auf der richtigen moralischen Seite, ignorieren aber geflissentlich, dass seit Jahrzehnten nahezu jedes große Turnier durch Bestechung vergeben wurde, auch das vielgerühmte Sommermärchen. Und so genau will heute niemand mehr wissen, dass vor vier Jahren in Russland eine Weltmeisterschaft stattfand, ohne dass der Gastgeber übermäßig mit Fragen zu undemokratischen Zuständen in seinem Land belästigt wurde.
Der internationale Spitzenfußball hat in den letzten Jahren immer wieder aufs Neue bewiesen, dass Moral und Ethik nur dann hoch im Kurs stehen, wenn sie das Geschäft nicht behindern. Wenn es hingegen darum geht, dass sich die saudische Monarchie bei Newcastle United einkaufen kann, findet die Premier League schon das nötige rechtliche Schlupfloch. Und wie oft ist in den letzten Monaten der Vorschlag formuliert worden, einen Fonds für die Nachkommen der zu Tode gekommenen Arbeitsmigranten einzurichten? Der erste Einzahler in diesen Topf will dann aber trotzdem niemand sein.
Umso wichtiger ist deshalb, dass die Gesellschaft Druck auf den Sport ausübt und Forderungen stellt. Den großen Klubs und Verbänden gerade in Europa muss klargemacht werden, dass mafiöse Strukturen in den Gremien keinen Tag länger öffentlich gefördert werden, dass die Gemeinnützigkeit streng überprüft wird und vergünstigte Steuersätze zur Diskussion stehen, wenn künftig nicht gänzlich andere und durchgehend transparente Vergabestrukturen großer Events installiert werden. Nicht minder wichtig werden künftig Kriterien der Nachhaltigkeit sein. Das Turnier in Katar muss definitiv das letzte sein, bei dem überhitzte Stadien mit großem Energieaufwand heruntergekühlt werden und jeden Tag eine dreistellige Zahl von Charterflügen auswärtige Fans von Dubai zu den Spielorten und retour befördert. Eine absurde Klimasauerei, an der sich übrigens auch der DFB mit seinem offiziellen Fan-Camp beteiligt. Das darf sich nicht wiederholen, schon 2026 nicht, wenn das Turnier auf dem gesamten nordamerikanischen Kontinent ausgetragen wird.
Eine solche Diskussion kann jedoch nicht theoretisch geführt werden, sondern muss begleitet werden. Durch Menschenrechtsorganisationen, durch die Politik, durch die Bürger – und eben auch durch die Medien. Und deshalb werden wir nach Katar fahren und berichten. Über die Spiele, vor allem aber darüber, wie sich die FIFA selbst heruntergewirtschaftet hat und was passieren muss, damit sich Anhänger endlich wieder auf ein Turnier freuen können.