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250

Dieses State­ment stammt aus 11FREUNDE #250, unserer neuen Aus­gabe. Schon heute bei unseren Abon­nen­tinnen und Abon­nenten im Brief­kasten und hier bei uns in Shop, ab morgen am Kiosk eures Ver­trauens.

Am Sonntag, dem 20. November wird um fünf Uhr nach­mit­tags deut­scher Zeit das erste Spiel der WM in Katar ange­pfiffen, der Gast­geber trifft auf Ecuador. Und bis dahin wird jeder Fan, jeder Spieler, jeder Jour­na­list und jeder Funk­tionär eine Hal­tung zu diesem Tur­nier ent­wi­ckelt haben müssen. Manche haben das bereits getan. Die nie­der­län­di­sche Gärt­nerei Hen­driks Gras­zoden hätte eigent­lich den Rasen für die kata­ri­schen Sta­dien lie­fern sollen und lehnte den Auf­trag ab, der tau­senden gestor­benen Arbeits­mi­granten wegen. Und meh­rere Mit­glieder des wali­si­schen Natio­nal­teams werden trotz gelun­gener Qua­li­fi­ka­tion nicht nach Katar reisen, als Pro­test gegen die omni­prä­sente Dis­kri­mi­nie­rung der LGBTQ-Com­mu­nity im Emirat. Andere hin­gegen haben beschlossen, sich von unschönen gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lungen ganz gene­rell nicht die Laune ver­derben zu lassen, wie etwa der Alt­in­ter­na­tio­nale Thomas Helmer, der unge­fragt ver­kün­dete, er werde sich an poli­ti­schen Dis­kus­sionen zur Welt­meis­ter­schaft nicht betei­ligen“, was ihn wie­derum auf kon­ge­niale Weise mit Rekord­na­tio­nal­spieler Lothar Mat­thäus ver­bindet, der sich schon vor län­gerer Zeit als PR-Bot­schafter der Kataris ein­kaufen ließ.

Alle anderen jedoch, die um eine Hal­tung zur WM ringen, müssen sich nun zu den viel­fäl­tigen For­de­rungen nach einem Boy­kott des Tur­niers ver­halten. Nicht nach Katar zu fahren, nicht den Fern­seher anzu­ma­chen, das scheint näm­lich auf den ersten Blick die ein­zige Mög­lich­keit, nicht Teil dieses großen Schur­ken­stücks zu sein, das am 2. Dezember 2010 mit der Ver­gabe der WM an das Emirat am Per­si­schen Golf seinen Anfang nahm. Seither bün­delt dieses Tur­nier zahl­reiche Miss­stände des inter­na­tio­nalen Pro­fi­fuß­balls, von der dreisten Bestechung diverser FIFA-Funk­tio­näre vor der Ver­gabe über die Aus­beu­tung zahl­loser aus­län­di­scher Arbeiter auf den WM-Bau­stellen bis hin zu staat­lich geför­derten Men­schen­rechts­ver­let­zungen in der kata­ri­schen Mon­ar­chie. Kann all das eine andere Kon­se­quenz haben als einen Boy­kott?

Nicht nach Katar zu fahren, den Fern­seher aus­zu­lassen, erscheint zunächst als ein­zige Option!

Nun ist das Instru­ment des Fern­blei­bens von sport­li­chen Groß­ereig­nissen nicht neu. Nach dem sowje­ti­schen Ein­marsch in Afgha­ni­stan 1979 boy­kot­tierten die USA und einige Ver­bün­dete die Olym­pi­schen Spiele ein Jahr später in Moskau, die UdSSR revan­chierte sich 1984 mit der Absage für die Som­mer­spiele in Los Angeles. Sport­his­to­risch gelten die Kam­pa­gnen heute als Fehl­schlag, nicht nur, weil sie halb­herzig umge­setzt und vom Publikum weit­ge­hend igno­riert wurden, son­dern auch weil sie der poli­ti­schen Instru­men­ta­li­sie­rung Olym­pias noch einmal gehö­rigen Schwung gaben.

Gleich­wohl finden Boy­kott­for­de­rungen in der Bevöl­ke­rung großen Wider­hall. Fast die Hälfte der Deut­schen hält den Ver­zicht der Natio­nalelf auf eine WM-Teil­nahme für geboten, nur 24 Pro­zent wün­schen sich dezi­diert die deut­sche Teil­nahme. So wenig Vor­freude auf das größte Sport­er­eignis der Welt gab es selten, was viele Akteure vor argu­men­ta­tive Pro­bleme stellt. Den Deut­schen Fuß­ball-Bund etwa, der ein Jahr­zehnt lang das Thema gekonnt aus­ge­sessen und klein­ge­redet hat und diese Untä­tig­keit nun durch hek­ti­sche Akti­vi­täten und Kon­sul­ta­tionen diverser Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen zu kaschieren sucht.

Aber auch die Medien müssen sich fragen, welche Rolle sie spielen wollen, bevor und vor allem wäh­rend der Ball in Katar rollt. Ist jede Bericht­erstat­tung über sport­liche Aspekte der WM am Ende kos­ten­lose PR für die Ver­an­stalter, weil sie die skan­da­lösen Begleit­um­stände bana­li­siert? Und braucht es nicht drin­gend Men­schen und Orga­ni­sa­tionen, die sich diesem bizarren Theater kom­plett ver­wei­gern? Ja, es braucht sie. Des­halb ist es gut, dass es Initia­tiven wie Boy­cott Qatar“ gibt, dass Kneipen hier­zu­lande die Spiele nicht zeigen wollen, dass Philipp Lahm, OK-Chef der EM 2024, auf die Reise an den Per­si­schen Golf ver­zichtet.

Wir bei 11 FREUNDE sehen unsere Rolle jedoch anders. Nicht, dass wir uns der Illu­sion hin­gäben, das Tur­nier werde zum Motor gesell­schaft­li­cher Ver­än­de­rungen in Katar. Die Chance auf wirk­liche Reformen wurde schon vor Jahren ver­spielt; weder die Fuß­ball­ver­bände noch die großen Wer­be­partner haben dies­be­züg­lich nen­nens­wert Druck gemacht. Und viele der ver­meint­li­chen Fort­schritte gerade bei den Arbeits­be­din­gungen befinden sich längst schon wieder im Rückbau. Wir sind aber der festen Über­zeu­gung, dass es wichtig ist, Öffent­lich­keit her­zu­stellen. Das bedeutet, zu beschreiben, was im Winter in Katar pas­siert, auf den Fuß­ball­plätzen und daneben. Wie wird dieses Tur­nier insze­niert, wie ver­hält sich die Natio­nalelf, wie emp­finden die Anhänger diese WM? All das auf­zu­schreiben, ist wichtig. Nicht hin­zu­fahren, würde hin­gegen bedeuten, den Büch­sen­span­nern und Mar­ke­ting-Stra­tegen der FIFA das Feld zu über­lassen, die schon heute täg­lich PR-Mit­tei­lungen her­aus­feuern, welch groß­ar­tiges Sport­er­eignis auf uns alle im Winter wartet. Wir wollen wach und kri­tisch berichten, so wie wir das in den ver­gan­genen Jahren auch gemacht haben, zuletzt durch unsere Aktion Cards of Qatar“, bei der wir Schick­sale von Wan­der­ar­bei­tern in Sam­mel­karten-Optik dar­ge­stellt haben. Und wir richten unseren Blick schon auf die kom­menden Welt­meis­ter­schaften, deren Ver­gabe end­lich auch an ethi­sche Kri­te­rien geknüpft sein muss. Solche neuen Richt­li­nien gehören längst zum For­de­rungs­kanon der Funk­tio­näre, ernst­hafte Bemü­hungen sind bisher aller­dings Fehl­an­zeige. Und des­halb braucht es auch hier öffent­li­chen Druck, durch Bericht­erstat­tung und Recherche.

Uns ist klar, dass das keine Hal­tung ohne inneren Wider­haken ist. Am Ende ver­dienen wir, wenn wir ein Son­der­heft über die WM in Katar machen, Geld mit diesem Tur­nier, wie viele andere auch. Und natür­lich sorgen klas­si­sche Berichte über das sport­liche Treiben in Katar immer auch für eine Nor­ma­li­sie­rung unnor­maler Zustände. Aber auch hier schließt das eine das andere nicht aus. Wir trauen uns zu, auch über die sport­li­chen Aspekte dieses Tur­niers zu berichten, ohne die Augen vor den gesell­schaft­li­chen und sozialen Umständen zu ver­schließen, klar und poin­tiert und hof­fent­lich mit dem nötigen Humor, der oft eine schär­fere Waffe sein kann als pla­ka­tive For­de­rungen.

Wer nicht hin­fährt, über­lässt den gewieften PR-Stra­tegen aus den Ver­bänden kampflos das Feld!

Vor allem aber ist Vor­sicht bei zu simplen Schwarz-Weiß-Sche­mata geboten. Die welt­po­li­ti­sche Situa­tion ist derart kom­plex, dass ganz Deutsch­land froh ist, wenn Robert Habeck beim Emir von Katar für fri­sches Erdgas sorgt, die Natio­nalelf soll aber lieber nicht hin­fahren. Der Wirt­schafts­mi­nister beklagte nach seiner Visite nicht zu Unrecht die hier­zu­lande weit­ver­brei­tete situa­tive Empö­rung. Soll heißen: Wir wähnen uns durch die Ableh­nung einer WM in Katar plötz­lich auf der rich­tigen mora­li­schen Seite, igno­rieren aber geflis­sent­lich, dass seit Jahr­zehnten nahezu jedes große Tur­nier durch Bestechung ver­geben wurde, auch das viel­ge­rühmte Som­mer­mär­chen. Und so genau will heute nie­mand mehr wissen, dass vor vier Jahren in Russ­land eine Welt­meis­ter­schaft statt­fand, ohne dass der Gast­geber über­mäßig mit Fragen zu unde­mo­kra­ti­schen Zuständen in seinem Land beläs­tigt wurde.

Der inter­na­tio­nale Spit­zen­fuß­ball hat in den letzten Jahren immer wieder aufs Neue bewiesen, dass Moral und Ethik nur dann hoch im Kurs stehen, wenn sie das Geschäft nicht behin­dern. Wenn es hin­gegen darum geht, dass sich die sau­di­sche Mon­ar­chie bei New­castle United ein­kaufen kann, findet die Pre­mier League schon das nötige recht­liche Schlupf­loch. Und wie oft ist in den letzten Monaten der Vor­schlag for­mu­liert worden, einen Fonds für die Nach­kommen der zu Tode gekom­menen Arbeits­mi­granten ein­zu­richten? Der erste Ein­zahler in diesen Topf will dann aber trotzdem nie­mand sein.

Eine absurde Kli­ma­sauerei

Umso wich­tiger ist des­halb, dass die Gesell­schaft Druck auf den Sport ausübt und For­de­rungen stellt. Den großen Klubs und Ver­bänden gerade in Europa muss klar­ge­macht werden, dass mafiöse Struk­turen in den Gre­mien keinen Tag länger öffent­lich geför­dert werden, dass die Gemein­nüt­zig­keit streng über­prüft wird und ver­güns­tigte Steu­er­sätze zur Dis­kus­sion stehen, wenn künftig nicht gänz­lich andere und durch­ge­hend trans­pa­rente Ver­ga­be­struk­turen großer Events instal­liert werden. Nicht minder wichtig werden künftig Kri­te­rien der Nach­hal­tig­keit sein. Das Tur­nier in Katar muss defi­nitiv das letzte sein, bei dem über­hitzte Sta­dien mit großem Ener­gie­auf­wand her­un­ter­ge­kühlt werden und jeden Tag eine drei­stel­lige Zahl von Char­ter­flügen aus­wär­tige Fans von Dubai zu den Spiel­orten und retour beför­dert. Eine absurde Kli­ma­sauerei, an der sich übri­gens auch der DFB mit seinem offi­zi­ellen Fan-Camp betei­ligt. Das darf sich nicht wie­der­holen, schon 2026 nicht, wenn das Tur­nier auf dem gesamten nord­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent aus­ge­tragen wird.

Eine solche Dis­kus­sion kann jedoch nicht theo­re­tisch geführt werden, son­dern muss begleitet werden. Durch Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen, durch die Politik, durch die Bürger – und eben auch durch die Medien. Und des­halb werden wir nach Katar fahren und berichten. Über die Spiele, vor allem aber dar­über, wie sich die FIFA selbst her­un­ter­ge­wirt­schaftet hat und was pas­sieren muss, damit sich Anhänger end­lich wieder auf ein Tur­nier freuen können.