27 Jahre kämpften die Familien der Hillsborough-Opfer für die Ehre ihrer Kinder, Eltern und Partner. Nun hat ihnen ein Gericht Recht zugesprochen. Ein Rückblick auf die historische Parlamentsdebatte, die alte Wunden aufriss und den Prozeß wieder in Gang setzte.
INFO: Dieser Text erschien bereits im November 2011 in 11FREUNDE.
22 Jahre haben sie gekämpft. 8000 Tage. 200 000 Stunden. Und jetzt sind es nur noch drei bis zur Entscheidung.
Drei Stunden, bis Steve Rotheram, Abgeordneter aus Liverpool, seine Rede im britischen Unterhaus halten wird. Es ist die Rede seines Lebens. Eine Rede, die endlich, nach schier endlosem Kampf, die Wahrheit ans Licht bringen soll.
Sie eröffnet eine historische Debatte. An diesem 17. Oktober wird sich das Parlament der Tragödie stellen, vor der es so lange die Augen verschlossen hat: dem Tod von 96 Menschen bei einem Fußballspiel.
Vor dem Pokal-Halbfinale 1989 zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest im Hillsborough-Stadion von Sheffield hatte die Polizei Tausende FC-Fans in einen überfüllten Block geleitet, die Stehtribüne an der Leppings Lane. Die, die von oben hineindrängten, um den Anpfiff nicht zu verpassen, drückten, ohne es zu wissen, mit einer Tonnenlast auf die, die weiter unten standen und keinen Ausweg fanden.
Binnen Minuten wurde der Block zur Todesfalle. Väter hielten ihre bewusstlosen Kinder in die Höhe, bis sie selbst kollabierten. Andere versuchten, sie über den drei Meter hohen Zaun zu werfen. Einige Wenige wurden in die darüber liegende Tribüne gezogen, den West Stand. Wer überlebte, trug Bisswunden an den Beinen davon. Die Niedergetrampelten hatten in ihrer Verzweiflung um sich geschnappt. Den sanftesten Tod fanden noch die, die in der Menge das Bewusstsein verloren und erstickten.
Drei Stunden noch, bis Steve Rotheram all dies aufrollen und restlose Aufklärung fordern wird. Das Parlament soll die Ereignisse vom 15. April 1989 endlich als das behandeln, was sie immer gewesen sind: eine nationale Tragödie.
„Seit dem Tag der Tragödie lässt man uns im Dunkeln tappen“
Steve Kelly hielt den Kampf schon für vergeblich, aufgegeben hat er trotzdem nie. Darum ist er ins Unterhaus gekommen: Er will wissen, ob er jemals erfahren wird, warum sein Bruder Michael starb. Und ob er noch leben könnte, wenn ihm geholfen worden wäre. Michaels Schicksal liegt verborgen hinter einer Zahl im Register der Toten.
Steve selbst war nicht in Hillsborough, er ist Fan des FC Everton. „Das war der einzige Unterschied zwischen uns. Michael war ein Roter und ich ein Blauer“, sagt er. Das Bild, das er mitgebracht hat, zeigt seinen Bruder im Reds-Trikot, lebensfroh und kraftstrotzend, einen Mann von Mitte 30. Es entstand drei Wochen vor seinem Tod.
Auch Barry Devonside hat ein Foto bei sich. Darauf ist sein Sohn Christopher zu sehen, ein 18-Jähriger im Jeanshemd und mit Popperscheitel, wie es damals Mode war. „Er war das Licht unseres Lebens“, sagt Barry. Kurz danach erlosch es. Christopher starb in Hillsborough. Warum, das hat sein Vater nie erfahren. „Seit dem
Tag der Tragödie lässt man uns im Dunkeln tappen.“
Steve Kelly und Barry Devonside sind auch nach London gereist, um durch ihre Anwesenheit die Volksvertreter in die Verantwortung zu zwingen. Großbritannien ist diesen Männern und den anderen Hinterbliebenen die Wahrheit schuldig.
Es ist das erste Mal in der Geschichte der britischen Demokratie, dass eine Onlinepetition die Abgeordneten dazu gebracht hat, eine Entscheidung zu fällen: 140.000 Bürger haben sie aufgefordert, die bislang unter Verschluss gehaltenen Hillsborough-Akten – ein fast 800.000 Einzelseiten umfassendes Konvolut aus Protokollen, Gutachten und Memoranden – einer unabhängigen Kommission zu übergeben.
Diese soll unter dem Vorsitz des Bischofs von Liverpool die Dokumente sichten, katalogisieren und so den Hergang der Katastrophe transparent machen. Zunächst sollen die Betroffenen Akteneinsicht bekommen, dann die Öffentlichkeit. Auch nach 22 Jahren sind zu viele Fragen unbeantwortet: Wie konnte das geschehen? Hätte es vermieden, hätte zumindest Schlimmeres verhindert werden können? Waren wirklich alle, die nicht mehr lebend aus dem Stadion kamen, schon um 15.15 Uhr tot, wie von der Gerichtsmedizin behauptet? Oder hätte schnellere medizinische Hilfe ihr Leben noch retten können? Wer hat die Fehler der Polizei von South Yorkshire, vor allem ihres Chefs David Duckenfield, vertuscht? Warum wurde niemand zur Verantwortung gezogen? Wer hat die Medienkampagne initiiert, die die Opfer zu Tätern machte?
Und nicht zuletzt: Wie tief ist die politische Klasse selbst in diesen Skandal verwickelt? Warum hat sie den Hergang der Katastrophe mehr als zwei Jahrzehnte lang gehütet wie ein Staatsgeheimnis? Wollte sie Schaden von der Exekutive abwenden oder Schmerzensgeldforderungen unterbinden? Wie zynisch kann ein System sein?
Er tauschte kurz vor dem Anpfiff sein Karte – und warf sich vor den Zug
Der Abgeordnete Steve Rotheram wird die Regierung heute mit ihrer Schuld konfrontieren. Er wird sie auffordern, sich zu entschuldigen. Er hat selbst erlebt, was vier Kabinette seit Margaret Thatcher systematisch ignoriert haben: Rotheram war am 15. April 1989 in Hillsborough. Eine Viertelstunde vor dem Anpfiff tauschte er seine Karte für die Leppings Lane gegen ein Sitzplatzticket ein. Glück nennt er das nicht. Wie könnte er? Glück, das war für den Liverpooler Maurer Steve Rotheram, mit seinen Kumpels zu einem Fußballspiel zu gehen. Zu siegen. Wieder nach Hause zu kommen.
Hillsborough war ein grausames Roulette, und wer dabei nicht verlor, hatte ebenso wenig gewonnen. Im Januar 2011 warf sich Stephen Wittle, ein Bekannter Rotherams, nahe Bolton vor den Zug. Auch er hatte damals seine Karte getauscht. Der Mann, der statt seiner in die Leppings Lane gegangen war, starb unter einem Berg aus Fleisch. Wittle, seither von Depressionen gepeinigt, hat sein Überleben nicht überlebt.
Steve Rotheram hat seines dem Kampf um die Wahrheit gewidmet. Hillsborough war seine politische Initiation. Aus dem einfachen Maurer ist der parlamentarische Sprecher der Hinterbliebenen geworden. Und der 96, die keine Stimme mehr haben.
Anfangs kämpften die Familien noch nicht gemeinsam. Sie hatten unterschiedliche Vorstellungen davon, mit welchen Mitteln die Wahrheit zutage gefördert werden könnte, und auch von dem Grad, zu dem sie sie überhaupt ertragen würden. Nicht alle wollten alles wissen. Manche wollten nicht einmal kämpfen. Doch je härter sich das Kartell der Ignoranz präsentierte, desto besser organisierten sie sich. Heute treten in der Hauptsache zwei Verbände auf: die „Hillsborough Family Support Group“ und die „Hillsborough Justice Campaign“ unter dem Vorsitz von Sheila Coleman. Die Juristin hat den staatlichen Umgang mit Stadionkatastrophen erforscht, bevor sie sich 1998 der Organisation anschloss. „Ich werde oft gefragt, warum wir seit so vielen Jahren an den Türen der Macht rütteln“, sagt sie. „Viele meinen, wir sollten endlich wieder zur Normalität übergehen. Aber es gibt keine Normalität, solange die Wahrheit unter Verschluss bleibt.“
Nicht alle Abgeordneten sind daran interessiert, dass ihr Volk diese Wahrheit erfährt. Noch am Morgen des 17. Oktober will der Konservative Christopher Chope, einst Staatssekretär in Thatchers Innenministerium, die Abstimmung absagen lassen – zugunsten einer Debatte über die Diätenerhöhung. Erst am Nachmittag erfährt Steve Rotheram, dass er um 17 Uhr sprechen kann. Mit seiner Rede will er dem Unterhaus den entscheidenden Impuls geben. Wird er genug Kraft aufbringen?
Noch zwei Stunden. Rotheram muss vorsichtig mit dem Kaffee sein, seine Hände zittern bereits. Er sitzt erst seit einem knappen Jahr im Unterhaus und ist noch kein Champion – diesen inoffiziellen Titel bekommt man erst, wenn man hier eine große Sache durchgeboxt hat. Heute kann er einer werden, aber darum geht es ihm nicht. An seinem Revers sitzt die kleine stilisierte Flamme mit der Inschrift „Justice for the 96“, „Gerechtigkeit für die 96“. Mit den Namen der Toten wird er, so ist es geplant, seine heutige Rede beenden. „Und was“, fragt er seinen Pressesprecher Gavin Callaghan, „wenn ich weinen muss?“ Callaghan antwortet: „Dann weinst du eben, Steve.“
Barry Devonside hat längst keine Tränen mehr. Sein Gesicht ist eine Maske, hinter dicken Brillengläsern richten sich die Augen in die Vergangenheit, zu seinem Sohn. Barry wusste von vielen Auswärtsspielen um die Gefahren der oft überfüllten Stehtribünen. Doch Christopher flehte ihn an – all seine Kumpels stünden dort, er wolle bei ihnen sein. „In einem schwachen Moment“, sagt Barry, „habe ich es ihm erlaubt. Ich konnte ihm doch nichts abschlagen.“ Er selbst wählte einen Sitzplatz und sah von dort, wie die tödliche Dynamik im Block ihren Lauf nahm. An der Halifax Road, wo er sich nach dem Spiel mit Christopher treffen wollte, wartete nur dessen bester Freund. Er solle mit dem Schlimmsten rechnen, sagte dieser, bevor er zusammenbrach. Barry Devonside sah seinen Sohn nicht lebend wieder. „Dabei hatte ich seiner Mutter versprochen, ich würde auf ihn aufpassen.“
So sah er seinen Bruder ein zweites Mal sterben
Ein paar Plätze weiter auf der Zuhörerempore sitzt Steve Kelly. „Mein Bruder Michael ist in Hillsborough geblieben“, sagt er, als wäre dieses Stadion ein Schlachtfeld und alles, was sich dort ereignet hat und danach kam, ein Krieg. Und das war es wohl auch. Eines Tages tauchten Ermittler bei Steve Kelly auf: Er müsse sich ein Überwachungsvideo von der Leppings Lane ansehen und darauf seinen Bruder identifizieren, das diene der Aufklärung. Das verkrafte er nicht, entgegnete Steve. Dann werde man ihn zwingen, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. So sah er seinen Bruder ein zweites Mal sterben. In Schwarzweiß.
Noch anderthalb Stunden, bis die Debatte beginnt. Das Manuskript in Steve Rotherams Hand ist zerknittert. Warum lag nicht er tot in einem Plastiksack, abgelegt im provisorischen Leichenschauhaus, einer kalten Turnhalle in Sheffield? Das hat er sich oft gefragt. Warum die 96 anderen, deren Namen er gleich verlesen wird? „Wenn ich es von einem einfachen Maurer zum Abgeordneten gebracht habe“, sagt er, „was hätten sie dann erst erreicht?“
Jon-Paul Gilhooley etwa. Was wäre aus ihm geworden? Er spielte gern Fußball mit seinem Cousin. Eines Tages selbst für die Reds aufzulaufen – das war ihr Traum. Sein Cousin schaffte es. Er ist heute Kapitän des FC Liverpool, sein Name ist Steven Gerrard. Jon-Paul Gilhooley starb in der Leppings Lane. Er war gerade zehn Jahre alt. Das jüngste Opfer dieses Krieges.
„Ich bete zu Gott, dass mein Junge voll war wie ein Eimer“
Den offiziellen Erklärungen zufolge, die in einer unheiligen Allianz von der Polizei von South Yorkshire lanciert und von dem Boulevardblatt „The Sun“ veröffentlicht wurden, müsste der kleine Jon-Paul betrunken gewesen sein. Die Fans wurden pauschal zu besinnungslosen Vandalen verzerrt, die in ihrem Alkoholrausch das tödliche Gedränge selbst verursacht hätten. Noch im Leichenschauhaus von Sheffield fragten die Polizisten die Hinterbliebenen, wie viel Bier ihre Söhne, Brüder, Väter, Ehemänner vor einem solchen Spiel denn zu trinken pflegten. Den Verstorbenen wurden Blutproben entnommen. „Ich bete zu Gott, dass mein Junge voll war wie ein Eimer“, schmetterte Barry Devonside den Ermittlern entgegen. „Dann hat er wenigstens keine Schmerzen mehr gespürt.“
„Bis heute werden die Opfer als Menschen zweiter Klasse behandelt“, sagt Sheila Coleman von der „Hillsborough Justice Campaign“. „Und das ist noch untertrieben.“ Vor den Zäunen der Leppings Lane, an denen Menschen zermalmt wurden, standen die Polizisten wie vor einer Herde Vieh. Und als es schon Tote gab, wurde das Spiel angepfiffen. Liverpools Keeper Bruce Grobbelaar, der Schreie vernommen hatte, rannte sofort aus seinem Tor und brüllte die Polizisten an, sie sollten verdammt noch mal helfen. Aber sie halfen nicht. Sie hatten nicht den Befehl zu helfen.
Einsatzleiter David Duckenfield, der die Fans in den überfüllten Block hatte leiten lassen, soll in seiner Kommandozentrale vor dem Überwachungsbildschirm gestanden haben, als hätte man ihn in seiner Uniform eingemauert. Es war sein erster Einsatz bei einem derartigen Großereignis, er mag überfordert gewesen sein, aber das erklärt nicht alles. Über sein gespenstisches Phlegma legt sich der Verdacht, dass er gar nicht helfen wollte. Duckenfield verhinderte zunächst sogar, dass Sanitäter ins Stadion gelangen konnten. Während draußen die Krankenwagen vor einer Absperrung im Stau standen, rissen drinnen Fans Werbebanden aus der Verankerung, um sie als Trage zu benutzen. Oder, wenn es zu spät war, als Bahre. Vereinzelte Polizisten fühlten währenddessen mit dicken Lederhandschuhen an den Fingern den Puls der Leblosen und erklärten auch die für tot, denen noch hätte geholfen werden können. Eine hastige Inventur des Todes.
Sollten die Hillsborough-Akten nun geöffnet werden und noch vollständig sein, wird belastendes Material zutage treten: ein Sittengemälde der britischen Exekutive, eines Apparats auf konfrontativem Kurs gegen das eigene Volk. Es war die Hochphase der Arbeiterstreiks, der IRA und zugleich die Hochphase des Thatcherismus mit seinen sozialen Ressentiments. Bei aller Verherrlichung der englischen Fußballkultur jener Zeit darf eines nicht vergessen werden: Fans galten damals als Staatsfeinde, spätestens seitdem Liverpool-Anhänger beim Europapokalfinale 1985 im Brüsseler Heysel-Stadion eine Massenpanik verursacht hatten, der 39 Zuschauer zum Opfer gefallen waren. Es scheint auf die deprimierendste Weise logisch, dass eine derart konditionierte Polizei blind für das Leiden in Hillsborough war. Sie wollte um jeden Preis einen Platzsturm verhindern und begriff nicht, wie hoch dieser Preis sein würde. Oder wollte sie es nicht begreifen?
„The Sun“ ist in Liverpool nicht erwünscht
Vier Tage danach erschien die „Sun“ mit dem Aufmacher „Die Wahrheit“. Chefredakteur Kelvin McKenzie behauptete in Berufung auf die Polizei von South Yorkshire: „Einige Fans haben die Opfer ausgeraubt“, „Einige Fans urinierten auf die tapferen Polizisten“ und „Einige Fans verprügelten Polizisten bei Wiederbelebungsversuchen“. Thatchers Pressesprecher Bernard Ingham erklärte: „Dieser Unfall wäre nicht passiert, wenn ein offenbar betrunkener Mob sich nicht gewaltsam Zutritt verschafft hätte.“ Der sinistre Versuch, von der eigenen Verantwortung abzulenken, hatte Erfolg: Bis heute werden in vielen Stadien Schmähgesänge angestimmt, die suggerieren, die 96 hätten sich selbst totgetrampelt. Im Krieg, so heißt es, stirbt die Wahrheit zuerst. In Hillsborough war sie das 97. Opfer.
Zwar sprach der Taylor-Report, in dem noch 1989 die Ursachen der Katastrophe analysiert wurden, die Liverpool-Fans von jeglicher Mitschuld frei. Vielmehr geißelte er das Versagen der Einsatzkräfte, die Sicherheitsmängel im Stadion – und beendete so die Ära der fatalen Betonschüsseln. Dass heute überall in England moderne Arenen ohne Stehplatzsektionen stehen, ist eine direkte Folge des Reports. Doch der Tod der 96 blieb ungesühnt: Ein Straf- und etliche Zivilrechtsprozesse im Laufe der Jahre zogen niemanden zur Verantwortung, sie endeten allesamt mit dem Urteil „Tod durch Unfall“. Zuvor sollen Zeugen, darunter auch Polizisten, zu Falschaussagen gezwungen und Beweise beiseite geschafft worden sein – mutmaßlich eine konzertierte Aktion höchster Polizeifunktionäre, bis hinauf ins Innenministerium. Einsatzleiter Duckenfield könnte, was immer die Hillsborough-Akten offenbaren würden, ohnehin nicht mehr belangt werden. Er wurde zwar wegen Totschlags angeklagt, 2001 aber für nicht verhandlungsfähig erklärt. Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung.
„Es geht nicht um Rache“, sagt Steve Kelly, der Mann, der seinen Bruder verloren hat. „Es geht um die Wahrheit. Michael war kein Hooligan, er trank nie Alkohol, er hätte auch keine Polizisten verprügelt oder die Toten ausgeraubt. Er war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich will eines Tages an sein Grab treten und sagen: ›Die Wahrheit hat gesiegt.‹“
Noch eine Stunde, bis die Debatte beginnt. Die letzte von 200 000, die der Kampf nun schon andauert. „Das Leben ging weiter, jeden Tag“, heißt es in einem Lied der Liverpooler Band „Gerry and the Pacemakers“. „Jeden Tag wurden Herzen zerrissen, und die Fähre überquerte den Mersey.“ Keinen der 96 hat sie je nach Hause gebracht.
Steven Rotheram spürt die Last auf seinen Schultern, als er jetzt durch sein Büro läuft, immer wieder seine Rede probt, Passagen streicht und ersetzt. Er kann niemanden zum Leben erwecken, aber er kann heute die Ehre der Toten wiederherstellen.
Auf der Zuhörerempore denkt Barry Devonside unterdessen zurück an jenen sonnigen Samstag im April 1989. Wie er mit seinem Sohn Christopher ins Auto sprang und nach Sheffield fuhr. An die karnevaleske Stimmung in den Straßen. Und an Christophers Lachen, als er ihm erlaubte, in die Leppings Lane zu gehen. Steve Kelly fällt wieder ein, wie er sich einmal mit seinem Bruder Michael wegen eines Posters von Alan Hansen stritt, der Verteidigerlegende vom FC Liverpool – Steve, der Everton-Fan, hatte es versteckt. Wie sie deswegen tagelang nicht miteinander sprachen und beide darunter litten. Und wie sie sich versöhnten, als er es ihm wieder zurückgab.
Auch wenn die Wahrheit nach der heutigen Debatte ans Licht kommen sollte – für Barry Devonside und Steve Kelly wäre es kein Tag der Freude. Sie würden ihre Lieben noch einmal in den Tod begleiten – und im Zweifel erfahren, dass sie noch leben könnten, wenn ihnen geholfen worden wäre. Mancher Kampf kennt keine Gewinner.
Fünfzehn Minuten noch. Ein letztes Mal hat Steve Rotheram seinem Pressesprecher Gavin Callaghan die Rede vorgetragen, nun richtet er die Krawatte und die kleine Flamme am Revers, dann tritt er hinaus in den Saal. Die grünen Bänke, das dunkle Holz. Hier hielt Winston Churchill am 13. April 1940 seine „Blut, Schweiß und Tränen“-Ansprache. Um Punkt 17 Uhr ruft der Vorsitzende des Unterhauses den Abgeordneten Rotheram, den gelernten Maurer und geborenen Reds-Fan, ans Rednerpult.
Rotheram bedankt sich zunächst bei den 140 000 Unterzeichnern der Online-Petition. „Dies ist ein Sieg für die Demokratie“, sagt er, seine Lippen zittern wie die Blätter in seiner Hand. „Aber wird es auch ein Sieg für die Familien sein? Oder wird man sie ein weiteres Mal im Stich lassen?“ Dann wird seine Stimme fester, er ruft: „Denen, die glauben, dass diese Debatte so ergebnislos enden wird wie alles andere zuvor, entgegne ich: Sie werden diesen Fall nicht mehr los, bis wir endlich die Wahrheit kennen!“
Die beste Rede, die das Unterhaus seit Generationen gesehen hat
Was dann folgt, werden nicht wenige Journalisten als die beste Rede bezeichnen, die seit Generationen im Unterhaus gehalten worden ist. „Im Laufe meines Berufslebens bin ich, was Politik anbelangt, zynisch geworden“, schreibt Parlamentskorrespondent Andrew Sparrow auf der Internetseite des „Guardian“. „Aber heute war ich stolz, dabei zu sein.“ In klaren Sätzen, gemessen und würdevoll, ergreifend, aber sachlich, führt Rotheram seinen Zuhörern die überwältigende Tragik jenes 15. April 1989 vor Augen. Und auch wenn er von einzelnen Schicksalen erzählt, etwa dem des kleinen Jon-Paul Gilhooley, so wird doch eines deutlich: Hillsborough betrifft alle, weil es alle hätte treffen können.
Rotheram prangert das Versagen der Sicherheitskräfte an und rühmt den Heldenmut der Überlebenden, die, selbst schwer verletzt, halfen, wo kein anderer helfen wollte. Er verdammt die Verleumdungskampagne der „Sun“ als „schändlich“ und fordert von der Redaktion die Schlagzeile „Wir haben gelogen“ ein. Dann ersucht er Premierminister David Cameron, für das Fehlverhalten seiner Vorgänger um Verzeihung zu bitten, so wie er es unlängst für den „Bloody Sunday“ getan habe, die Tötung von 13 nordirischen Demonstranten durch britische Soldaten im Jahre 1972.
Rotheram ist nun im Begriff, ein Champion zu werden. Aber das ist ihm gleichgültig. Er kämpft mit den Tränen. „96!“, ruft er bebend. „Diese Zahl sagt sich allzu leicht. Erst wenn man jeden Namen liest, wird einem klar, wie viele Menschen ihr Leben in Hillsborough verloren haben.“ Schließlich trägt er sie vor, die 96 Namen. Alphabetisch, von John Anderson bis Graham Wright. 96 Namen, die für 96 ausgelöschte Leben stehen und für 96 zerstörte Familien.
Grabesstille umfängt das Unterhaus während dieses Nekrologs. Ein ums andere Mal hält Rotheram inne, weil ihm die Stimme wegbricht. Auf der Empore werden Barry Devonside und Steve Kelly von einem epochalen Schmerz geschüttelt, der erst jetzt, nach 22 Jahren, so ausbrechen kann, klar, heiß, endgültig. „Rest in Peace“, sagt Rotheram stimmlos. „Justice for the 96.“ Dann geht er zurück zu seinem Platz und sieht, dass etliche Abgeordnete weinen. Er realisiert, was seine Rede ausgelöst hat, und setzt sich, still, wie zum Gebet.
Nach ihm tritt Theresa May ans Pult, die Innenministerin, auch sie ist sichtlich bewegt. Es ist an ihr, das auszusprechen, was längst gewiss ist, gewiss sein muss. „Ich werde keine Worte finden, die den Verlust all dieser Leben wiedergutmachen“, sagt sie – und dann: „Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Alle Dokumente werden geöffnet, kein einziges wird zurückgehalten, kein Stein bleibt auf dem anderen.“
Ein Dutzend weiterer Reden wird im Laufe des Abends gehalten, auch von den Abgeordneten aus Nottingham und Sheffield. Die junge Alison McGovern aus Wirral bei Liverpool spricht eine Viertelstunde unter Tränen. Dies ist keine Debatte mehr, es ist eine Totenmesse für die 96. Um 20.30 Uhr ruft der Sprecher des Unterhauses die Volksvertreter zur offenen Abstimmung auf: Sollen die Hillsborough-Akten freigegeben werden? Es gibt keine Gegenstimme.
Doch wie schwer es sein wird, die Mitschuld der Politik bis in den letzten Winkel auszuleuchten, deutet ein Kommentar von Premierminister Cameron am Tag danach an: „Die Hinterbliebenen erinnern mich an einen blinden Mann, der in einem dunklen Zimmer eine schwarze Katze sucht, die gar nicht da ist.“
Bis zu einem Jahr kann es dauern, bis die unabhängige Kommission alle Dokumente gesichtet und aufbereitet hat. Nach dann 23 Jahren werden die Hinterbliebenen erfahren, warum ihre Angehörigen gestorben sind. Ob sie noch leben könnten. Und, wenn man sie lässt, welche Schuld der Staat trägt. Die Wahrheit.
In einem Korridor des Unterhauses hat Sheila Coleman von der „Hillsborough Justice Campaign“ einen Umtrunk vorbereitet. Ein tapferer Versuch zu feiern, was nicht zu feiern ist. Ein Fernsehteam ist gekommen und sucht nach Steve Rotheram. Niemand weiß, wo er ist. Steve Kelly hält sich an einem Glas fest, er starrt auf die Fliesen zu seinen Füßen. Und Barry Devonside geht, ohne sich umzudrehen, hinaus in die Nacht. Er braucht Luft.