Unser Autor war einst ein minderbegabter Vorstopper. Viele Gegner waren überlegen. Doch vor einem hatte er richtig Angst. Ein Wiedersehen nach 18 Jahren.
Auf dem längst vergilbten Spielplan der Saison 1991/92, den ich in meinem Privatarchiv aufbewahre, findet sich für den 5. Spieltag hinter der Paarung FC Sulingen – TuS St. Hülfe Heede das Ergebnis in nicht mehr kindlicher, aber auch noch nicht erwachsener Handschrift. 12:0. Ich gab mir selbst eine Note, sie steht in Klammern dahinter: Fünf minus. Was gegen eine Sechs sprach, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich tat ich mir leid. Von heute aus betrachtet, kommt mir das, was wir damals mehr oder minder bereitwillig mit uns machen ließen, wie ein archaischer Opferritus vor. Würde ich meinen Sohn nach Sulingen fahren und gegen Stefan Rosenthal antreten lassen? Es waren andere Zeiten. Wir hatten ja auch im Tschernobyl-Regen gespielt und mit Feldsteinen auf Schrotpatronen gehämmert, die den Jägern im Wald aus der Tasche gefallen waren. Und wir lebten immer noch. Fragwürdig war nur, womit wir die geschenkten Tage verbrachten.
Als ich vierzehn Jahre alt war, hatte ich Angst davor, dass mein neues Mountainbike geklaut wird, und vor Dr. Hannibal Lecter. Als ich sechzehn Jahre alt war, hatte ich Angst vor Gesichtsakne und vor meiner Chemie-Lehrerin. Und all die Jahre hatte ich Angst vor Stefan Rosenthal vom FC Sulingen.
„Sauber! Denen haste einen eingeschenkt!“
Er bekam ein Angebot vom SV Werder, hätte ins vereinseigene Internat ziehen können. Er blieb in Sulingen und machte eine Lehre auf dem Bau, das kam ihm solider vor. In der Pause klopften ihm die Kollegen auf die Schulter. „Sauber! Denen haste einen eingeschenkt.“ Ein Lokalheld, der die Schlagzeilen des Sportteils bestimmte. FC Sulingen siegt dank Rosenthal. Rosenthal schlägt TuS St. Hülfe-Heede im Alleingang. Rosenthal düpiert Gieselmann. Gieselmann beendet Karriere wegen Rosenthal.
Sicher, es gab auch andere gute Jugendfußballer im Landkreis Diepholz. Hamzi und Abbas etwa, die Dribbler vom TV Neuenkirchen. Sie verstärkten ihre Superfähigkeit, überall gleichzeitig herumzuwuseln, noch dadurch, dass sie Zwillinge waren. Oder Veysi von der SG Barenburg, der als Erster einen Schnurrbart trug. Die ziemlich kreative Angabe seines Geburtsdatums im Spielerpass ermöglichte es ihm auch, bereits in der C‑Jugend im eigenen Auto zum Training zu fahren. Er hätte uns aber auch schwindelig gespielt, wenn er tatsächlich noch so jung gewesen wäre wie wir. So wie Roger vom TSV Drebber, der angeblich ein echter Brasilianer war und ganz stilecht mit einem weißen Sócrates-Stirnband auflief. Wie mag er bloß in dieses Dorf am Rande des Moores gekommen sein, das laut einem Ortsnamen-Lexikon des Satirikers Douglas Adams nach dem Geräusch benannt ist, das eine Murmel macht, kurz bevor sie in einer Mulde zur Ruhe kommt: Drebber? Hartmut indes, der moppelige Flügelflitzer vom SV Kuppendorf, ist mir nur deshalb in Erinnerung geblieben, weil er Hartmut hieß.
Hartmut hatte ich im Griff, Hamzi, Abbas, Veysi und Roger verschwanden irgendwann aus den Aufstellungen ihrer Vereine, wohin auch immer. Stefan Rosenthal und die Angst vor ihm aber blieben. Sie sind ein Leitmotiv meiner Jugend, wie verschwiegene, kreuzunglückliche Verliebtheit, die Titelmelodie des Computerspiels „Rick Dangerous“ und zu viel Deo unter den Achseln.
Mag sein, dass ich mir das einbilde, aber der alte Trainingsanzug, den uns das Sporthaus Hadeler beim Eintritt in die C‑Jugend sponsorte (die Hose mussten wir selber bezahlen), riecht noch immer nach einer Überdosis „Cliff Hypnotic“. Vielleicht ist er auch mal in den Alukoffer geraten, wenn die Mutter unseres linken Verteidigers mit Trikotwaschen dran war. Sie vergaß es regelmäßig. Ihr Geheimrezept: Koffer auf, Sprühstoß rein, fertig.
18 Jahre nach dem letzten Aufeinandertreffen mit Stefan Rosenthal (es war ein 1:7) streife ich diesen Anzug wieder über und fahre die Spargelstraße hinunter, am Ratskeller links ab und parke am alten Mülleimer. Ich will wissen, ob er sich an mich erinnert, dunkel wenigstens. An einen Ball nur, den ich ihm vom Fuß nahm, an einen Moment der Verblüffung: Hey, da ist ja jemand, der versucht, mich zu stoppen. Ist ja putzig.
Ob auf NDR2 „Bacardi Feeling“ läuft?
Der greise Platzwart des FC Sulingen, der gerade ein Malzbier in seiner Rasenmähergarage trinkt, beäugt mich misstrauisch. „Wat wollen Sie denn hier? Hier is nix!“ – „Guten Tag, ich bin vom Fußballmagazin 11 FREUNDE, ich schreibe einen Artikel über Stefan Rosenthal.“ Er beäugt mich jetzt noch misstrauischer. „Neumodischen Krams.“ Ich möchte weiter ausholen, doch er wirft seinen Mäher an.
Die Bierbank, auf der Stefan Rosenthal einst lungerte, steht noch immer da, auch der Schwenkgrill könnte derselbe sein. Das einzig Neue ist ein Sky-Schild, das das Vereinsheim als Fußballkneipe ausweist. Ich versuche zu lungern. Doch dafür ist es zu kalt, ich warte lieber im Auto auf meinen Angstgegner. Ob auf NDR2 wohl „Bacardi Feeling“ läuft?