Ein Böller verletzt zwei Spieler, das Regionalliga-Topspiel zwischen Essen und Münster wird daraufhin abgebrochen. Die Tat eines Einzelnen, der damit Essens Aufstieg gefährdet? Es ist wohl komplizierter.
Zu sagen, dass Rot-Weiss Essens Trainer Christian Neidhart einen ungewöhnlichen Nachmittag verlebte, wäre untertrieben. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn verpasste der Trainer am Sonntag ein Pflichtspiel einer von ihm betreuten Mannschaft. Eine Infektion mit dem Coronavirus hatte Neidhart außer Gefecht gesetzt. Also blieb dem Coach des Tabellenersten nichts anderes übrig, als das Spitzenspiel gegen den Zweiten aus Münster per Livestream zu Hause zu verfolgen. Was Neidhart jedoch nach gespielten 76 Minuten und 25 Sekunden sah, dürfte selbst aus der Ferne nur schwer zu ertragen gewesen sein.
Wenige Minuten nach Preußens Tor zum 1:1‑Ausgleich erschütterte ein Knall das Stadion an der Hafenstraße. Zwei Münsteraner Spieler, die sich vor der Essener Kurve aufgewärmt hatten, gingen zu Boden und hielten sich die Ohren. Sofort eilte medizinisches Personal herbei. Später diagnostizierte es bei Marvin Thiel ein Knalltrauma, Jannik Borgmann hatte einen Schock erlitten. Wie Preußen Münster am Montag mitteilte, sind die beiden Spieler vorerst nicht in der Lage, am Trainingsbetrieb teilzunehmen. Auch Münsters Athletiktrainer, der das Aufwärmprogramm geleitet hatte, habe am Montagmorgen über Beschwerden geklagt. Alle drei Akteure sind bis Mittwoch krankgeschrieben.
Für Münsters Torwart Maximilian Schulze Niehues war der Vorfall ein unschönes Déjà-vu. Im September 2011 hatte ein Preußen-Fan vor dem Derby gegen den VfL Osnabrück einen Böller in den Spielertunnel des Stadions an der Bremer Brücke geworfen. 33 Personen wurden damals verletzt. Angesprochen auf die Szene am Sonntag sagte Schulze Niehues gegenüber Reviersport: „Es waren plötzlich viele Fragezeichen im Kopf. Warum das passiert ist, wer macht so etwas, was will er damit erreichen, wie geht es weiter?“
Unmittelbar nach dem Knall war der Torhüter auf den Schiedsrichter Christian Scheper zugestürmt. Der unterbrach das Spiel daraufhin zunächst, ehe er nach etwa einer halben Stunde entschied, die Partie nicht fortzusetzen. Ob das Spiel nun wiederholt wird, möglicherweise vor leeren Rängen oder Preußen Münster die Punkte am grünen Tisch erhält, muss das Sportgericht des Westdeutschen Fußballverbands entscheiden. Fest steht allerdings schon jetzt, dass der Vorfall dem Verein und seinen Fans nachhaltig schaden wird.
Das schienen auch Andreas Crom und Christian Ruthenbeck zu ahnen. „Jetzt geht der Mist los“, entfuhr es den Kommentatoren des Essener Livestreams unmittelbar nach dem Knall. Es folgten Empörung und Unverständnis. „Leute, Leute, Leute“ und: „Scheiße, das muss doch nicht sein.“
Damit sprachen die Kommentatoren nicht nur für sich, sondern im Grunde für alle Essener. „Ich weiß gar nicht, welches Gefühl gerade überwiegt: Traurigkeit, Wut, Ohnmacht, Rat- beziehungsweise Fassungslosigkeit“, schrieb Essens Vorstandsvorsitzender Marcus Uhlig am Freitagabend bei Facebook. Er habe „die Faxen dicke“. Es dürfe nicht sein, „dass ein Einziger oder ganz wenige Vollidioten alles kaputt machen und den ganzen Verein in den Dreck ziehen.“ Auch mehrere Essener Ultragruppen distanzierten sich in einer Stellungnahme von dem Böllerwurf und verurteilten „diese hirnrissige Aktion aus dem Nachbarblock aufs Schärfste“.
Dass sich der Eklat ausgerechnet in besagtem Nachbarblock ereignete, kommt für viele RWE-Fans offenbar nicht überraschend. „Augenscheinlich gibt es im Block W1 – und niemand im Stadion dürfte sich darüber gewundert haben – immer noch eine Gruppe von Leuten, die sich über alles hinwegsetzen“, heißt es in einem Kommentar der Fan- und Förderabteilung von Rot-Weiss Essen. „Es war nicht ein Bekloppter: es waren seine Kollegen, seine Gruppe, die ihn nicht daran gehindert hat. Es war seine Gruppe, von der er sich augenscheinlich Applaus versprach.“
In jenem Block W1 der Essener Westtribüne tummeln sich einige Essener Alt-Hooligans, darunter auch Mitglieder der „Alten Garde Essen“, der Verbringungen in die rechte Kampfsportszene und in die organisierte Kriminalität nachgesagt werden. Ob der Täter tatsächlich aus diesem Umfeld stammt, ist offen. Ein Tatverdächtiger, den die Polizei am Sonntag festgenommen hatte, wurde kurze Zeit später wieder freigelassen. „Die Person ist vollständig rehabilitiert“, sagte die Polizei gegenüber Reviersport. „Wir haben ihn vernommen, zudem die Bilder nochmals angeschaut. Er kann es nicht gewesen sein.“
Sollte der Täter gefasst werden, will Rot-Weiss Essen alle juristischen Mittel ausschöpfen, also auch eine mögliche Geldstrafe durch den Verband umlegen. Schwerer würden jedoch die sportlichen Konsequenzen wiegen. Sollte das Sportgericht die Punkte aus dem Spiel Preußen Münster zusprechen, würde Essens Vorsprung auf Münster auf zwei Punkte schmelzen. Schon in den vergangenen Jahren hatte Essen den lang ersehnten Aufstieg in die 3. Liga wiederholt noch verspielt. Die größten Schäden indes wären vermutlich weder finanzieller noch sportlicher Natur. Auch das Image von Rot-Weiss Essen und seinen Fans hat am Wochenende in besonderem Maße gelitten.
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