Nach einem Spiel, so spannend und dramatisch wie die ganze Saison, ist Hansa Rostock am Samstag endlich in die 2. Bundesliga aufgestiegen. Unser Autor, glühender FCH-Fan, erlebte eine emotionale Achterbahnfahrt.
Am Samstag um 15:15 Uhr brachen in Rostock alle Dämme! All die über die Saison – ja über die Jahre – aufgestauten Emotionen kamen nun mit einem Schlag heraus. Das Rostocker Ostseestadion stand Kopf, doch war ich ähnlich wie nach dem 3:2‑Sieg beim SV Meppen einfach zu knülle, um wirklich auf Knopfdruck durchzudrehen. Die Augen wurden feucht, eine Träne lief die Wange herunter. Ich genoss zunächst still und schaute mir das Spektakel auf dem Rasen und den Rängen an.
Unfassbar! Endlich, endlich, endlich nach langen neun Jahren in der 3. Liga ist der F.C. Hansa Rostock aufgestiegen in die 2. Bundesliga! Gemeinsam mit Dynamo Dresden. Und das in eine 2. Bundesliga, die vom Starterfeld her sämtliche Rekorde brechen wird. Geiler geht es wirklich nicht!
Meine Güte, was hatten die Hansa-Fans die letzten neun Jahre durchmachen müssen. Am 29. April 2012 stieg der FCH ab. 2:1 hatte Hansa beim 1. FC Union Berlin geführt, am Ende musste sich die Mannschaft mit 4:5 geschlagen geben. Fast auf den Tag genau vor sechs Jahren spielten am letzten Spieltag die Rostocker in Dresden. Alles oder nichts! Der F.C. Hansa stand am Abgrund, es drohte der Absturz in die Viertklassigkeit. Eventuell sogar ins Nichts. Das berühmte Damoklesschwert baumelte und drohte kurz vor Schluss hernieder zu fallen. Dresden ging mit 2:1 in Führung, und Rostock wäre abgestiegen, wenn nicht der FC Rot-Weiß Erfurt, für den es sportlich nur noch um die Goldene Ananas ging, gegen die gegen den Abstieg kämpfende SpVgg Unterhaching mit 1:0 gewonnen hätte. Der Schweiß stand auf der Stirn, immer wieder ging der nervöse Blick auf das Smartphone.
Ähnlich war es am vergangenen Samstag. In der 26. Minute brachte ausgerechnet Soufian Benyamina, der einst drei Jahre in Rostock unter Vertrag stand, den VfB Lübeck in Führung. In exakt der gleichen Minute traf in der Ferne Stefan Kutschke für den FC Ingolstadt gegen die bereits dezimierten Münchner Löwen zum 1:0. Ein Gefühl von Ohnmacht machte sich breit, auf den mit 7.500 Zuschauern gefüllten Rängen wurde es stiller, die Mannschaft zeigte sich nervös. Unvorstellbar, wenn diese Aufstiegsparty flöten gehen würde.
Tausende Hansa-Fans standen schließlich nicht nur in den Startlöchern, sondern ließen bereits seit Vormittag voll die Sau raus. Als Marsch war die Fanszene vom Holbeinplatz aus in Richtung Stadion gezogen, aus allen Richtungen waren die Hansa-Fans herbeigeströmt. Die einen mit dem Ticket in der Jackentasche, die anderen mit vollen Einkaufstüten in den Händen. Feuer frei! Beim Fanmarsch durfte schon einmal bestaunt werden, was heute anstehen würde. Es qualmte und loderte, immer wieder wurden die auf den Bürgersteigen stehenden Fans aufgefordert, die Handys wegzupacken.
Wenig später füllte sich die Tribüne des anliegenden Leichtathletikstadions, und es wurde das verbreitet, was Rolf Töpperwien in den 1990ern als südländische Stimmung bezeichnete. Damals waren die Reporter noch Feuer und Flamme, wenn auf dem Betzenberg und an der Essener Hafenstraße die Post abging. Bereits vor Anpfiff tanzten die ersten Hansa-Fans auf dem Rasen des Leichtathletikstadions, lüfteten die Shirts und teils auch die Buchsen, stimmten Gesänge an und schwenkten die Fackeln und Rauchtöpfe. Bei vielen hatte sich bereits ein stückweit die Anspannung gelöst. Die polizeilichen Einsatzkräfte hielten sich weitgehend zurück. Anders als in Dresden und am Sonntag in Bochum, ließ die Polizei die Rostocker Fußballfreunde gewähren.
Nach der Entspannung vor dem Spiel folgte die erneute Anspannung während der Partie. Anfangs schien es, als würde die Mannschaft von Jens Härtel die Jungs aus der Marzipanstadt überrollen zu wollen. Mit enormer Wucht drückten sie in den ersten drei, vier Minuten. Die Ecken flogen mit gefühlten 100 km/h in den Strafraum, doch der ersehnte frühe Treffer wollte nicht fallen. Ein Spiel wie die gesamte Saison. Zittern bis zur letzten Minute. Ein klarer Sieg gegen den bereits als Absteiger feststehenden VfB Lübeck wäre einfach völlig fehl am Platz gewesen. Ebenso in der Ferne eine deutliche Führung des TSV 1860 München in Ingolstadt. Nix da! Es sollte wieder einmal spannend werden. Wie oft in der zurückliegenden Saison standen wir alle kurz vor einem Herzinfarkt? Die gedrehten Spiele gegen Verl und Kaiserslautern, der in der letzten Minute von der „Krake“ gehaltene Elfmeter beim KFC Uerdingen 05, das besagte Last-Minute‑3:2 in Meppen, das 1:1 auf Biegen und Brechen gegen Ingolstadt, der Zittersieg in Unterhaching. Und nun das: Rückstand gegen Lübeck.
Ich saß auf der Tribüne und bekam es mit der blanken Angst zu tun. Ich studierte Mimik und Gestik des Stadionsprechers, der schräg vor mir saß. Er müsste doch eine Ahnung haben. Die scheißende Angst oder doch das lockere sichere Gefühl, dass die Jungs das da unten noch biegen werden. Ich wurde jedoch nicht recht schlau.
Und dann! Elfmeter für Hansa in der 41. Minute. Bentley Baxter Bahn übernahm Verantwortung, verzögerte kurz beim Anlauf und brachte den Ball schließlich unter. Die Augen wurden feucht, die Fäuste geballt. Alter Schwede, was für eine Entlastung. Dreimal brüllte der Stadionsprecher das „Bentley Baxter Bahn“ in das Mikro. Auf der Südtribüne wurde nun wieder Fahrt aufgenommen. Kurios: Draußen im Leichtathletikstadion gab es kurz zuvor bereits einen Jubel. Irgendwer hatte eine falsche Nachricht ins Spiel gebracht, und plötzlich verbreitete sich der Jubel wie eine Welle durch die dort anwesenden Massen.
Die Nerven. Das Herz. Und auch der Magen schmerzte nun. Zur Pause ging ich eine Bratwurst und ein bierähnliches Getränk holen. Während ich 20 Minuten in der Schlange stand, ließ ich noch einmal alles Revue passieren. Das legendäre 1:1 gegen Eintracht Frankfurt im Berliner Olympiastadion im Oktober 1995, als beim Rostocker Ausgleichstreffer die Freudentränen aus den Augen schossen. Ich musste an den Rostocker Auftritt im alten Kölner Müngersdorfer Stadion am 2. Mai 1992 denken. Oben die Kölner Hools im Block 38, unten die schmerzfreien Hansa-Fans. Einer von ihnen zog in der zweiten Halbzeit blank, präsentierte den Jungs auf dem Oberrang sein bestes Stück und ließ die Fleischpeitsche schwingen. Ähnliches trug sich auf dem Rasen des Leichtathletikstadions zu: Nur mit Schuhen lief ein Rostocker eine Runde über die Tartanbahn und schwenkte in Maradona-Manier das Shirt.
Ich hingegen ließ in der zweiten Halbzeit nichts schwingen, sondern rieb immer wieder meine Hände an den Knien, knautschte am Hansa-Schal, stopfte die Wurst als Ganzes in mich rein, trank das Bier auf Ex und konnte kaum noch hinschauen. Großartig war aber zu sehen, wie sich die Mannschaft wieder reinhängte. Trainer Jens Härtel hatte wirklich ein Team geschaffen. Zwar nicht das spielstärkste der Liga, dafür aber eins, für welches das Motto „Einer für alle – alle für einen!“ maßgeschneidert war. Sensationell, wie Jan Löhmannsröben kurz vor Schluss wie ein Berserker an der Außenbahn einem voranstürmenden Lübecker hinterherrannte, ihn einholte und ihm anschließend sogar den Ball abnehmen konnte! Was für eine Moral! Was für Fighter! Machte einer einen Fehler, bügelte ein anderer diesen aus. Diese Mannschaft hat den Aufstieg definitiv verdient.
Die letzten Minuten liefen. Gänsehaut. Die Zuschauer wurden immer lauter, die Vorfreude wuchs ins Unermessliche. Erste Bengalen wurden auf der Süd gezündet, Oberkörper wurden freigelegt, blauer Rauch stieg auf. In den letzten Minuten hatte Hansa schließlich alles im Griff. Der VfB Lübeck hatte großartig aufgespielt, aber vielleicht wollte man so kurz vor Schluss nicht mehr die Party versauen. Als nach zwei Minuten Nachspielzeit Schiedsrichter Robert Schröder schließlich das Spiel abpfiff, gab es kein Halten mehr. Das Ostseestadion stand Kopf. Von draußen drängten zahlreiche Fans auf die Südtribüne, die recht bald proppenvoll war und Support vom Feinsten bot. Brachial hallten das „Ahu!“ und das „Scheiß St. Pauli!“ über die Ränge. Auf dem Rasen feierten die Spieler frenetisch den Aufstieg und rannten geschlossen zur Südtribüne. Tonnenlasten fielen ab. So recht begreifen und glauben konnte man das Ganze jedoch noch nicht.
„Danke für Euren Rückhalt! 3. Liga endlich vorbei – der FCH in Liga in zwei“ war auf einem von den Spielern gehaltenen Transparent zu lesen. Schalke, Bremen, HSV, St. Pauli, Nürnberg, Dresden, Düsseldorf und eventuell noch die Geißböcke aus Köln. Was wird das für eine Saison!
Nach einem „Hansa forever“ verlagerte sich die Party langsam nach draußen. Vor der Nordtribüne ließen vor den Augen der Polizei ein paar Fans die Töpfe qualmen, als sei es das Normalste der Welt. Glückliche Gesichter so weit das Auge reichte. Während später tausende Hansa-Fans zum Rathaus zogen und dort bis in die Abendstunden eine weitere sensationelle farbenfrohe Party feierten, gaben zahlreiche ältere Rostocker ihr Stelldichein vor dem Vereinsheim „Rote Erde“. In wohl gefüllte Einkaufstüten durfte stets hineingegriffen werden, der Alkohol floss in Strömen, manch einer lag sich glückselig in den Armen. Während weiter hinten der Rauch aufstieg, wurden vor dem Vereinsheim ein paar Fackeln angerissen. „Nie mehr dritte Liga, nie mehr, nie mehr“, hallte es laut über den Platz. Der FCH ist wieder da! Und selbst bei den ganz Alten, die wahrlich schon einiges miterlebt haben, wurden in Anbetracht dessen die Augen feucht.
Der Autor Marco Bertram (Jahrgang 1973) brachte Ende 2020 den 512-seitigen Wälzer „Kaperfahrten – mit der Kogge durch stürmische See“, an dem rund 20 Hansa-Fans mitgearbeitet haben, auf den Markt. Infos zum Buch: www.marco-bertram.de
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