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QUADRAT 1 1 für Hochformate 9

Dieser Text erschien erst­mals in Aus­gabe #225. Erhält­lich hier bei uns im Shop.

Sven Schipp­lock ist ein begabter und bemühter Fuß­ball­spieler. Ihm fehlt jedoch vor dem Tor mög­li­cher­weise jener nicht erlern­bare Kil­ler­instinkt, der richtig gute Stürmer aus­zeichnet. Es gibt des­halb den lau­nigen Fan­ge­sang Saufen, bis der Schipp­lock trifft“, der impli­ziert, dass ange­sichts der mauen Tor­quote des Stür­mers immer genug Zeit für einen gepflegten Voll­suff bleibt.

Es war des­halb ein epo­chales Ereignis, als eben dieser Sven Schipp­lock in der Aus­wärts­partie der Bie­le­felder Arminia bei Hol­stein Kiel in der 92. Minute den 2:1‑Siegtreffer erzielte. Schipp­lock riss sich beseelt das Trikot vom Leib, seine Mann­schafts­kol­legen umarmten ihn freudig, der Kom­men­tator des Lokal­sen­ders Radio Bie­le­feld kol­la­bierte bei­nahe vor Begeis­te­rung. Und ich? Ich warf einen Blick auf die Zweit­li­ga­ta­belle, die einen kom­for­ta­blen Zehn-Punkte-Vor­sprung auf den dritt­plat­zierten Ham­burger SV aus­wies. Noch wäh­rend sich Schipp­lock auf dem Bild­schirm gerade erst wieder das Trikot überzog, rech­nete ich durch, wie Arminia diesen Vor­sprung beson­ders kunst­voll ver­geigen konnte. Denn das ist es, was dieser Klub in den ver­gan­genen Jahr­zehnten mit mir und vielen anderen Anhän­gern gemacht hat: Immer in Worst-Case-Sze­na­rien zu denken, mit größt­mög­li­cher Doof­heit und nie zuvor dage­we­senem Pech zu rechnen.

John Cleese meinte wohl Arminia mit dem Satz: Ver­zweif­lung kann ich gut aus­halten. Es ist die Hoff­nung, die ich nicht ertrage!“

Das mag auf den ersten Blick arg weh­leidig klingen, ange­sichts zahl­rei­cher Klubs, denen es in den letzten Dekaden deut­lich mise­ra­bler ergangen ist als uns. Mit gutem Recht winken Anhänger sui­zi­daler Viert­li­gisten wie Rot-Weiss Essen, Preußen Münster oder Kickers Offen­bach nur müde ab.

Und trotzdem hat die Arminia ihre Anhänger seit den Acht­zi­gern auf eine sehr kunst­fer­tige Art und Weise gequält und gepie­sackt, immer wieder fal­sche Hoff­nungen geweckt, immer wieder mit dem dicken Hin­tern ein­ge­rissen, was flei­ßige Hände zuvor mühsam auf­ge­baut hatten. Am Ende dachten wir tat­säch­lich, John Cleese habe die Arminia gemeint, als er in dem Film Clock­wise“ den Satz aus­stieß: Ver­zweif­lung kann ich gut aus­halten. Es ist die Hoff­nung, die ich nicht ertrage!“

Keine Zweifel, nur Vor­freude

Der Beginn allen Elends ist genau zu datieren, auf den 17. Juni 1985 näm­lich. Arminia hatte zu diesem Zeit­punkt immerhin fünf Jahre hin­ter­ein­ander in der ersten Liga gespielt, zweimal den achten Platz belegt, war also eigent­lich bereit für die erste Meis­ter­schaft, dann aber abge­stürzt auf den Rele­ga­ti­ons­platz 16. Anderswo hätte dies dazu geführt, sich zumin­dest theo­re­tisch schon mal mit der Mög­lich­keit eines Abstiegs zu beschäf­tigen, zumal Arminia das Hin­spiel mit 0:2 gegen den Zweit­li­gisten Saar­brü­cken weg­ge­schenkt hatte. Wir jedoch mussten noch aus dem Para­dies ver­trieben werden. Zuschau­er­massen wälzten sich an diesem Nach­mittag durch die Roland­straße im Bie­le­felder Westen auf die Alm zu, das Sta­dion war restlos aus­ver­kauft, und wer auf der prop­pe­vollen Gegen­ge­rade in die Gesichter der schnauz­bär­tigen Zuschauer blickte, sah keinen Zweifel, nur Vor­freude.

Die Alm hatte damals einen Ruf wie Don­ner­hall, auch weil sie streng genommen kein Sta­dion war, son­dern ein wilder Verhau aus Stahl und Holz­bohlen, der längst von der Bau­auf­sicht hätte gesperrt werden müssen. Rost und Kor­ro­sion hatten sich in die Schar­niere der Stahl­stangen gefressen, und bei jeder Tor­chance der Arminia wackelte die Tri­büne unter dem Getrampel der Anhänger, die sich offenbar wenig Sorgen um die Statik des Behelfs­baus machten. (Sonst hätten sie wohl kaum ihre nervös ange­rauchten Ziga­retten mit den Schuhen durch die Holz­bohlen auf das ver­gam­melte Kon­fetti ver­gan­gener Spiel­tage hin­un­ter­fallen lassen.)

Nach etwa einer Stunde traf das Schlitzohr Mat­thias Wes­ter­winter zum 1:0, und die Alm explo­dierte derart, dass Seis­mo­logen im benach­barten Aven­wedde sicher noch ihre Nadeln zit­tern sahen. Zwanzig Minuten lang rannte Arminia nun an, begleitet vom infer­na­li­schen Gebrüll der Zuschauer. Nie wieder war dieses Sta­dion so laut.

Und nie wieder war es so leise wie in der 78. Minute, als der Saar­brü­cker Sascha Jusufi aus dem Nichts per Frei­stoß zum Aus­gleich traf. Etwas später pfiff der Referee ab, neben mir rauchte ein Rentner sieben Packungen Ernte 23 in fünf Minuten, und unten auf dem Rasen saß der Mit­tel­feldrecke Uli Büscher minu­ten­lang regungslos, bis ihn jemand in die Kabine gelei­tete.

Und jähr­lich grüßt der gleiche Sai­son­ver­lauf

Kann ein Mensch mehr Schmerz ertragen, fragte ich mich damals, gerade 13 Jahre alt geworden. Und ahnte nicht, dass mein Klub ohne grö­ßere Umwege in die Ober­liga West­falen durch­ge­reicht werden und Bill Murray die Arminia später als Inspi­ra­tion nutzen würde, um seine Rolle im Block­buster Und täg­lich grüßt das Mur­mel­tier“ beson­ders glaub­haft spielen zu können. Nur lag unser Punx­su­tawney eben in Münster, wo wir uns jedes Jahr aufs Neue eine Nie­der­lage ein­fingen, und unser Orakel war kein Mur­mel­tier, son­dern Franz Josef Colli, ein Jour­na­list der mit knar­ziger Stimme am Sonntag im WDR die Ergeb­nisse von den Plätzen in Schöp­pingen, Buer-Hassel und Marl-Hüls ver­mel­dete.

Jene Resul­tate vari­ierten, eines blieb jedoch immer gleich: Im Spät­sommer rief Arminia stets den Auf­stieg als Ziel aus, obwohl meis­tens aus Geld­mangel nur ein paar fuß­kranke Ergän­zungs­spieler ver­pflichtet worden waren, um im Früh­herbst die ersten Grot­ten­kicks abzu­lie­fern und spä­tes­tens im Februar nach der obli­ga­to­ri­schen Nie­der­lage bei Nie­sel­regen in Münster für ein wei­teres Jahr in der dritten Liga zu planen.

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Thomas von Heesen! Armin Eck! Echte Bun­des­li­ga­stars im Küchen­studio

Und wer da alles durch­ge­schleust wurde! Mit­tel­feld­mann Torsten Köppe, der nach einem Tor vor dem Fan­block ent­hemmt das Trikot hoch­riss und seinen präch­tigen Bier­bauch prä­sen­tierte. Dann Stürmer Thomas Oster­mann, der immer erst beim Auf­prall auf dem Zaun der Hin­ter­tor­tri­büne begriff, dass die Flanke früher hätte kommen müssen. Und Lan­des­li­ga­spieler André Neu­städter, dem beim Sprinten links und rechts stets die Hoden aus der Buchse kul­lerten.

Sie alle mühten sich red­lich, litten aber doch sehr unter dem Zynismus, der sich über die Jahre auf der Alm breit­ge­macht hatte und der gerade unter Alko­hol­ein­fluss dazu führte, dass die Spieler oft schon nach dem ersten Fehl­pass wüst beschimpft wurden. Als 1992 Nick Hornbys Fever Pitch“ her­auskam, in dem der Autor die reich­lich kühne These ver­trat, wir Fans würden uns unseren Lieb­lings­klub nicht aus­su­chen, er würde uns statt­dessen gegeben, schauten wir ver­bit­tert hin­über aufs Spiel­feld, wo die Arminia gerade wieder mal gegen eine Kir­me­s­truppe aus Holzwi­ckede, Erken­sch­wick oder Sölde verlor, und fragten, wel­cher ver­bit­terte, bös­ar­tige Greis uns aus­ge­rechnet diesen Klub zuge­teilt haben sollte.

Fritz Walter und Ali Daei

Wir waren des­halb auch fest davon über­zeugt, dass gleich Kurt und Paola Felix fei­xend aus der Kulisse gesprungen kommen würden, als 1995 plötz­lich echte Bun­des­li­ga­stars im Küchen­studio als Neu­zu­gänge prä­sen­tiert wurden. Thomas von Heesen! Armin Eck! Und sogar Fritz Walter, der zwar deut­lich gedrun­gener und schnauz­bär­tiger wirkte als damals in Wank­dorf, aber wir wollten ja nicht schon wieder meckern. Statt­dessen kniffen wir uns ungläubig in die Arm­beuge, weil Arminia plötz­lich sogar in Münster gewann, erst in die zweite Liga auf­stieg und dann sogar in die Bun­des­liga durch­mar­schierte. Für ein paar Jahre schien der Fluch der Erfolg­lo­sig­keit gebannt, wir erfreuten uns am alten Fritz, der Tore wie am Fließ­band schoss und nach einer Ver­let­zung von der Pro­gnose des Arztes berich­tete: Wenn es gut läuft, dauert es drei Monate, wenn es schlecht läuft, ein Vier­tel­jahr!“

Wir staunten über den ira­ni­schen Welt­tor­jäger Ali Daei, der seinen ganzen Monats­lohn in Fern­ge­spräche nach Teheran inves­tierte, und über Gian­luca Vialli, der in seiner Para­de­rolle als Giu­seppe Reina den geg­ne­ri­schen Abwehr­reihen Dop­pel­knoten in die Beine spielte. Und hatten wir uns nach der Rück­kehr in die Bun­des­liga zunächst noch so gefühlt wie ein über­ge­wich­tiger Tou­rist in San­dalen, der durch den Lie­fe­ran­ten­ein­gang irr­tüm­lich auf einer VIP-Party an der Côte d’Azur gelandet ist und gleich von Flavio Bria­tore kum­pel­haft in den Schwitz­kasten genommen wird, gewöhnten wir uns ein biss­chen zu rasch an den Gedanken, nun wieder dau­er­haft zur fuß­bal­le­ri­schen Elite zu gehören.

Unan­ge­nehm auf­ge­fallen war die Arminia bereits direkt nach dem Auf­stieg, als Manager Rüdiger Lamm affek­tiert grin­send im ZDF-Sport­studio ein­ge­schweißte Arminia-Tri­kots ins ent­geis­terte Publikum geworfen hatte. Nun aber brach sich der Grö­ßen­wahn end­gültig Bahn. In der Saison 2002/03 gewann Arminia das Auf­takt­spiel mit 3:0 gegen ein offenbar mit Chlo­ro­form grund­se­diertes Werder Bremen und reiste als Tabel­len­führer nach Mün­chen zu den Bayern.

Die ganze Hin­fahrt über legten wir, gegen wen Arminia in der Gruppen phase der Cham­pions League spielen würde und wie man billig an Karten fürs Ber­nabéu kam. Einer hatte eine Meister schale gemalt und trug sie fünf Stunden lang tri­um­phie­rend durch den Zug. Als wir im Münchner Haupt­bahnhof ein­fuhren, dröhnte es durch die Halle: Spit­zen­reiter, Spit­zen­reiter, hey, hey!“ Später im Sta­dion skan­dierten wir: Wenn wir wollen, kaufen wir euch auf!“ Der FC Bayern gewann das Spiel 6:2, und am Ende der Saison stiegen wir ab.

Was wir bereits für einen nie­der­schmet­ternden Tiefst­punkt hielten, sollte jedoch erst der Beginn eines dau­er­haften Sink­fluges sein, der die Arminia bis in die Kase­matten der dritten Liga und an den Rande des finan­zi­ellen Ruins führen sollte. Denn auch die Funk­tio­näre hatten offenbar fest mit einer Dau­er­prä­senz in der Königs­klasse gerechnet und eine derart luxu­riöse neue Haupt­tri­büne errichtet, dass selbst der groß­spu­rige Rüdiger Lamm vor Neid erblasst sein dürfte. Der Alt­ma­nager ließ noch preis­güns­tige Logen im rus­ti­kalen Con­tai­ner­stil errichten, in denen es nie­manden über­rascht hätte, wenn zwi­schen­durch plötz­lich ein schlecht gelaunter Bau­ar­beiter mit Bild“-Zeitung unter dem Arm zur Ver­rich­tung des großen Geschäfts her­ein­ge­schlurft gekommen wäre.

Kör­per­liche Aus­ein­an­der­set­zung im Bor­dell

In der neuen Tri­büne musste hin­gegen alles vom Feinsten sein. Bei der Eröff­nung war man­chem Besu­cher die herbe Ent­täu­schung anzu­merken, dass in den Nass­zellen kein Evian aus den Was­ser­hähnen geschossen kam. Anfangs galt dabei noch als größter Schön­heits­fehler, dass durch die auf­ge­bockte Haupt­tri­büne der Gäs­te­be­reich plötz­lich wirkte wie eine zwei­ge­schos­sige Tief­ga­rage mit Sicht­weiten unter fünf Metern. Später wurde jedoch offen­kundig, dass für die Finan­zie­rung zu erwar­tende Ein­nahmen aus zahl­rei­chen Euro­pa­po­kal­spielen ver­pfändet worden waren. Das Foto, auf dem zu Bau­be­ginn Funk­tio­näre und Bau­un­ter­nehmer gemeinsam über­heb­lich grin­send in einer Bag­ger­schaufel posiert hatten, wurde zum Sym­bol­bild für einen zum bal­digen Abriss frei­ge­ge­benen Klub.

Bei uns Anhän­gern, die nor­ma­ler­weise mit einem wohl­tem­pe­rierten Mix aus Fata­lismus und Gal­gen­humor die Gescheh­nisse auf der Alm ver­folgten, machte sich plötz­lich und viel­leicht zum ersten Mal nackte Panik breit. Was würden wir eigent­lich machen, wenn es den Verein nicht mehr gab? Etwa Dort­munder werden, wie das ganze treu­lose Pack aus den Markt­fle­cken rund­herum? Oder end­lich alle Hoff­nung fahren lassen und künftig Spiele von Han­nover 96 besu­chen? Die Ereig­nisse über­schlugen sich jeden­falls, wie immer bei Arminia nicht ohne ein paar unter­halt­same Sei­ten­stränge.

Unser alter Fan­zine-Kol­lege Hans-Joa­chim Faber grüßte plötz­lich als Not­prä­si­dent, nutzte zu unserer Ent­täu­schung die plötz­liche Macht­fülle aber nicht für die radi­kale Sen­kung der Bier­preise. Und ein zwi­schen­zeit­li­cher Geschäfts­führer kam in einem Augs­burger Bor­dell auf die schlaue Idee, über ange­mes­sene Preise dis­ku­tieren zu wollen, was zu den erwar­tenden kör­per­li­chen Aus­ein­an­der­set­zungen mit der ört­li­chen Sicher­heit und mit­tel­fristig zur Demis­sion bei Arminia führte, nachdem die erwart­bare Ent­schul­di­gung eines Film­risses durch Voll­suff zwar die dies­be­züg­lich fach­kun­digen Gre­mien über­zeugt hatte, nicht aber die Öffent­lich­keit und die zahl­rei­chen Gläu­biger.

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In der Folge ging es immer mal wieder hoch und wieder runter und wieder hoch. Und das Rele­ga­ti­ons­spiel um den Ver­bleib in der zweiten Liga im Jahr 2014 gegen Darm­stadt 98 wurde dann gerne her­an­ge­zogen, um die enorme Lei­dens­fä­hig­keit der ost­west­fä­li­schen Anhänger zu beschreiben. In der Tat blickte ich an diesem Abend auf der Tri­büne in unzäh­lige kalk­weiße Gesichter, die wie ich Zeuge eines bru­talen Spek­ta­kels geworden waren, an dessen Ende die Darm­städter nach einem Tor in der letzten Minute der Ver­län­ge­rung jubelten und sämt­liche Arminen auf dem Platz zusam­men­sanken wie Mario­netten, denen die Fäden abge­schnitten worden waren.

Es war ein Abend, an dem alles zusam­menkam, was Arminia in schlechten Momenten aus­macht: Hybris, Unver­mögen und die nötige Por­tion Pech, die Arminia nach dem Darm­städter Tor noch mal den Pfosten treffen ließ. Es hätte wohl nie­manden über­rascht, wären nach dem Schluss­pfiff auch noch rie­sige, glü­hende Gesteins­bro­cken aus dem All auf den Alm­rasen nie­der­ge­regnet.

Doch in der Rück­schau liegt längst ein milder Weich­zeichner über dem Spiel. Neu­lich habe ich mir die Ver­län­ge­rung mal wieder in voller Länge ange­schaut. Es tut gar nicht mehr weh. Weil Arminia danach prompt wieder auf­stieg und tat­säch­lich ab Herbst sogar in der Bun­des­liga spielt. Wir sollten wieder für die Cham­pions League planen. Und eine neue Tri­büne bauen, gerne auch über­teuert. Denn jetzt ist alles mög­lich. Wenn sogar der Schipp­lock trifft.