Heute trifft Arminia Bielefeld auf die Bayern – zum ersten Mal nach elf Jahren. Erinnerungen an eine wilde Achterbahnfahrt durch die Spielklassen.
Dieser Text erschien erstmals in Ausgabe #225. Erhältlich hier bei uns im Shop.
Sven Schipplock ist ein begabter und bemühter Fußballspieler. Ihm fehlt jedoch vor dem Tor möglicherweise jener nicht erlernbare Killerinstinkt, der richtig gute Stürmer auszeichnet. Es gibt deshalb den launigen Fangesang „Saufen, bis der Schipplock trifft“, der impliziert, dass angesichts der mauen Torquote des Stürmers immer genug Zeit für einen gepflegten Vollsuff bleibt.
Es war deshalb ein epochales Ereignis, als eben dieser Sven Schipplock in der Auswärtspartie der Bielefelder Arminia bei Holstein Kiel in der 92. Minute den 2:1‑Siegtreffer erzielte. Schipplock riss sich beseelt das Trikot vom Leib, seine Mannschaftskollegen umarmten ihn freudig, der Kommentator des Lokalsenders Radio Bielefeld kollabierte beinahe vor Begeisterung. Und ich? Ich warf einen Blick auf die Zweitligatabelle, die einen komfortablen Zehn-Punkte-Vorsprung auf den drittplatzierten Hamburger SV auswies. Noch während sich Schipplock auf dem Bildschirm gerade erst wieder das Trikot überzog, rechnete ich durch, wie Arminia diesen Vorsprung besonders kunstvoll vergeigen konnte. Denn das ist es, was dieser Klub in den vergangenen Jahrzehnten mit mir und vielen anderen Anhängern gemacht hat: Immer in Worst-Case-Szenarien zu denken, mit größtmöglicher Doofheit und nie zuvor dagewesenem Pech zu rechnen.
John Cleese meinte wohl Arminia mit dem Satz: „Verzweiflung kann ich gut aushalten. Es ist die Hoffnung, die ich nicht ertrage!“
Das mag auf den ersten Blick arg wehleidig klingen, angesichts zahlreicher Klubs, denen es in den letzten Dekaden deutlich miserabler ergangen ist als uns. Mit gutem Recht winken Anhänger suizidaler Viertligisten wie Rot-Weiss Essen, Preußen Münster oder Kickers Offenbach nur müde ab.
Und trotzdem hat die Arminia ihre Anhänger seit den Achtzigern auf eine sehr kunstfertige Art und Weise gequält und gepiesackt, immer wieder falsche Hoffnungen geweckt, immer wieder mit dem dicken Hintern eingerissen, was fleißige Hände zuvor mühsam aufgebaut hatten. Am Ende dachten wir tatsächlich, John Cleese habe die Arminia gemeint, als er in dem Film „Clockwise“ den Satz ausstieß: „Verzweiflung kann ich gut aushalten. Es ist die Hoffnung, die ich nicht ertrage!“
Der Beginn allen Elends ist genau zu datieren, auf den 17. Juni 1985 nämlich. Arminia hatte zu diesem Zeitpunkt immerhin fünf Jahre hintereinander in der ersten Liga gespielt, zweimal den achten Platz belegt, war also eigentlich bereit für die erste Meisterschaft, dann aber abgestürzt auf den Relegationsplatz 16. Anderswo hätte dies dazu geführt, sich zumindest theoretisch schon mal mit der Möglichkeit eines Abstiegs zu beschäftigen, zumal Arminia das Hinspiel mit 0:2 gegen den Zweitligisten Saarbrücken weggeschenkt hatte. Wir jedoch mussten noch aus dem Paradies vertrieben werden. Zuschauermassen wälzten sich an diesem Nachmittag durch die Rolandstraße im Bielefelder Westen auf die Alm zu, das Stadion war restlos ausverkauft, und wer auf der proppevollen Gegengerade in die Gesichter der schnauzbärtigen Zuschauer blickte, sah keinen Zweifel, nur Vorfreude.
Die Alm hatte damals einen Ruf wie Donnerhall, auch weil sie streng genommen kein Stadion war, sondern ein wilder Verhau aus Stahl und Holzbohlen, der längst von der Bauaufsicht hätte gesperrt werden müssen. Rost und Korrosion hatten sich in die Scharniere der Stahlstangen gefressen, und bei jeder Torchance der Arminia wackelte die Tribüne unter dem Getrampel der Anhänger, die sich offenbar wenig Sorgen um die Statik des Behelfsbaus machten. (Sonst hätten sie wohl kaum ihre nervös angerauchten Zigaretten mit den Schuhen durch die Holzbohlen auf das vergammelte Konfetti vergangener Spieltage hinunterfallen lassen.)
Nach etwa einer Stunde traf das Schlitzohr Matthias Westerwinter zum 1:0, und die Alm explodierte derart, dass Seismologen im benachbarten Avenwedde sicher noch ihre Nadeln zittern sahen. Zwanzig Minuten lang rannte Arminia nun an, begleitet vom infernalischen Gebrüll der Zuschauer. Nie wieder war dieses Stadion so laut.
Und nie wieder war es so leise wie in der 78. Minute, als der Saarbrücker Sascha Jusufi aus dem Nichts per Freistoß zum Ausgleich traf. Etwas später pfiff der Referee ab, neben mir rauchte ein Rentner sieben Packungen Ernte 23 in fünf Minuten, und unten auf dem Rasen saß der Mittelfeldrecke Uli Büscher minutenlang regungslos, bis ihn jemand in die Kabine geleitete.
Kann ein Mensch mehr Schmerz ertragen, fragte ich mich damals, gerade 13 Jahre alt geworden. Und ahnte nicht, dass mein Klub ohne größere Umwege in die Oberliga Westfalen durchgereicht werden und Bill Murray die Arminia später als Inspiration nutzen würde, um seine Rolle im Blockbuster „Und täglich grüßt das Murmeltier“ besonders glaubhaft spielen zu können. Nur lag unser Punxsutawney eben in Münster, wo wir uns jedes Jahr aufs Neue eine Niederlage einfingen, und unser Orakel war kein Murmeltier, sondern Franz Josef Colli, ein Journalist der mit knarziger Stimme am Sonntag im WDR die Ergebnisse von den Plätzen in Schöppingen, Buer-Hassel und Marl-Hüls vermeldete.
Jene Resultate variierten, eines blieb jedoch immer gleich: Im Spätsommer rief Arminia stets den Aufstieg als Ziel aus, obwohl meistens aus Geldmangel nur ein paar fußkranke Ergänzungsspieler verpflichtet worden waren, um im Frühherbst die ersten Grottenkicks abzuliefern und spätestens im Februar nach der obligatorischen Niederlage bei Nieselregen in Münster für ein weiteres Jahr in der dritten Liga zu planen.
Und wer da alles durchgeschleust wurde! Mittelfeldmann Torsten Köppe, der nach einem Tor vor dem Fanblock enthemmt das Trikot hochriss und seinen prächtigen Bierbauch präsentierte. Dann Stürmer Thomas Ostermann, der immer erst beim Aufprall auf dem Zaun der Hintertortribüne begriff, dass die Flanke früher hätte kommen müssen. Und Landesligaspieler André Neustädter, dem beim Sprinten links und rechts stets die Hoden aus der Buchse kullerten.
Sie alle mühten sich redlich, litten aber doch sehr unter dem Zynismus, der sich über die Jahre auf der Alm breitgemacht hatte und der gerade unter Alkoholeinfluss dazu führte, dass die Spieler oft schon nach dem ersten Fehlpass wüst beschimpft wurden. Als 1992 Nick Hornbys „Fever Pitch“ herauskam, in dem der Autor die reichlich kühne These vertrat, wir Fans würden uns unseren Lieblingsklub nicht aussuchen, er würde uns stattdessen gegeben, schauten wir verbittert hinüber aufs Spielfeld, wo die Arminia gerade wieder mal gegen eine Kirmestruppe aus Holzwickede, Erkenschwick oder Sölde verlor, und fragten, welcher verbitterte, bösartige Greis uns ausgerechnet diesen Klub zugeteilt haben sollte.
Wir waren deshalb auch fest davon überzeugt, dass gleich Kurt und Paola Felix feixend aus der Kulisse gesprungen kommen würden, als 1995 plötzlich echte Bundesligastars im Küchenstudio als Neuzugänge präsentiert wurden. Thomas von Heesen! Armin Eck! Und sogar Fritz Walter, der zwar deutlich gedrungener und schnauzbärtiger wirkte als damals in Wankdorf, aber wir wollten ja nicht schon wieder meckern. Stattdessen kniffen wir uns ungläubig in die Armbeuge, weil Arminia plötzlich sogar in Münster gewann, erst in die zweite Liga aufstieg und dann sogar in die Bundesliga durchmarschierte. Für ein paar Jahre schien der Fluch der Erfolglosigkeit gebannt, wir erfreuten uns am alten Fritz, der Tore wie am Fließband schoss und nach einer Verletzung von der Prognose des Arztes berichtete: „Wenn es gut läuft, dauert es drei Monate, wenn es schlecht läuft, ein Vierteljahr!“
Wir staunten über den iranischen Welttorjäger Ali Daei, der seinen ganzen Monatslohn in Ferngespräche nach Teheran investierte, und über Gianluca Vialli, der in seiner Paraderolle als Giuseppe Reina den gegnerischen Abwehrreihen Doppelknoten in die Beine spielte. Und hatten wir uns nach der Rückkehr in die Bundesliga zunächst noch so gefühlt wie ein übergewichtiger Tourist in Sandalen, der durch den Lieferanteneingang irrtümlich auf einer VIP-Party an der Côte d’Azur gelandet ist und gleich von Flavio Briatore kumpelhaft in den Schwitzkasten genommen wird, gewöhnten wir uns ein bisschen zu rasch an den Gedanken, nun wieder dauerhaft zur fußballerischen Elite zu gehören.
Unangenehm aufgefallen war die Arminia bereits direkt nach dem Aufstieg, als Manager Rüdiger Lamm affektiert grinsend im ZDF-Sportstudio eingeschweißte Arminia-Trikots ins entgeisterte Publikum geworfen hatte. Nun aber brach sich der Größenwahn endgültig Bahn. In der Saison 2002/03 gewann Arminia das Auftaktspiel mit 3:0 gegen ein offenbar mit Chloroform grundsediertes Werder Bremen und reiste als Tabellenführer nach München zu den Bayern.
Die ganze Hinfahrt über legten wir, gegen wen Arminia in der Gruppen phase der Champions League spielen würde und wie man billig an Karten fürs Bernabéu kam. Einer hatte eine Meister schale gemalt und trug sie fünf Stunden lang triumphierend durch den Zug. Als wir im Münchner Hauptbahnhof einfuhren, dröhnte es durch die Halle: „Spitzenreiter, Spitzenreiter, hey, hey!“ Später im Stadion skandierten wir: „Wenn wir wollen, kaufen wir euch auf!“ Der FC Bayern gewann das Spiel 6:2, und am Ende der Saison stiegen wir ab.
Was wir bereits für einen niederschmetternden Tiefstpunkt hielten, sollte jedoch erst der Beginn eines dauerhaften Sinkfluges sein, der die Arminia bis in die Kasematten der dritten Liga und an den Rande des finanziellen Ruins führen sollte. Denn auch die Funktionäre hatten offenbar fest mit einer Dauerpräsenz in der Königsklasse gerechnet und eine derart luxuriöse neue Haupttribüne errichtet, dass selbst der großspurige Rüdiger Lamm vor Neid erblasst sein dürfte. Der Altmanager ließ noch preisgünstige Logen im rustikalen Containerstil errichten, in denen es niemanden überrascht hätte, wenn zwischendurch plötzlich ein schlecht gelaunter Bauarbeiter mit „Bild“-Zeitung unter dem Arm zur Verrichtung des großen Geschäfts hereingeschlurft gekommen wäre.
In der neuen Tribüne musste hingegen alles vom Feinsten sein. Bei der Eröffnung war manchem Besucher die herbe Enttäuschung anzumerken, dass in den Nasszellen kein Evian aus den Wasserhähnen geschossen kam. Anfangs galt dabei noch als größter Schönheitsfehler, dass durch die aufgebockte Haupttribüne der Gästebereich plötzlich wirkte wie eine zweigeschossige Tiefgarage mit Sichtweiten unter fünf Metern. Später wurde jedoch offenkundig, dass für die Finanzierung zu erwartende Einnahmen aus zahlreichen Europapokalspielen verpfändet worden waren. Das Foto, auf dem zu Baubeginn Funktionäre und Bauunternehmer gemeinsam überheblich grinsend in einer Baggerschaufel posiert hatten, wurde zum Symbolbild für einen zum baldigen Abriss freigegebenen Klub.
Bei uns Anhängern, die normalerweise mit einem wohltemperierten Mix aus Fatalismus und Galgenhumor die Geschehnisse auf der Alm verfolgten, machte sich plötzlich und vielleicht zum ersten Mal nackte Panik breit. Was würden wir eigentlich machen, wenn es den Verein nicht mehr gab? Etwa Dortmunder werden, wie das ganze treulose Pack aus den Marktflecken rundherum? Oder endlich alle Hoffnung fahren lassen und künftig Spiele von Hannover 96 besuchen? Die Ereignisse überschlugen sich jedenfalls, wie immer bei Arminia nicht ohne ein paar unterhaltsame Seitenstränge.
Unser alter Fanzine-Kollege Hans-Joachim Faber grüßte plötzlich als Notpräsident, nutzte zu unserer Enttäuschung die plötzliche Machtfülle aber nicht für die radikale Senkung der Bierpreise. Und ein zwischenzeitlicher Geschäftsführer kam in einem Augsburger Bordell auf die schlaue Idee, über angemessene Preise diskutieren zu wollen, was zu den erwartenden körperlichen Auseinandersetzungen mit der örtlichen Sicherheit und mittelfristig zur Demission bei Arminia führte, nachdem die erwartbare Entschuldigung eines Filmrisses durch Vollsuff zwar die diesbezüglich fachkundigen Gremien überzeugt hatte, nicht aber die Öffentlichkeit und die zahlreichen Gläubiger.
In der Folge ging es immer mal wieder hoch und wieder runter und wieder hoch. Und das Relegationsspiel um den Verbleib in der zweiten Liga im Jahr 2014 gegen Darmstadt 98 wurde dann gerne herangezogen, um die enorme Leidensfähigkeit der ostwestfälischen Anhänger zu beschreiben. In der Tat blickte ich an diesem Abend auf der Tribüne in unzählige kalkweiße Gesichter, die wie ich Zeuge eines brutalen Spektakels geworden waren, an dessen Ende die Darmstädter nach einem Tor in der letzten Minute der Verlängerung jubelten und sämtliche Arminen auf dem Platz zusammensanken wie Marionetten, denen die Fäden abgeschnitten worden waren.
Es war ein Abend, an dem alles zusammenkam, was Arminia in schlechten Momenten ausmacht: Hybris, Unvermögen und die nötige Portion Pech, die Arminia nach dem Darmstädter Tor noch mal den Pfosten treffen ließ. Es hätte wohl niemanden überrascht, wären nach dem Schlusspfiff auch noch riesige, glühende Gesteinsbrocken aus dem All auf den Almrasen niedergeregnet.
Doch in der Rückschau liegt längst ein milder Weichzeichner über dem Spiel. Neulich habe ich mir die Verlängerung mal wieder in voller Länge angeschaut. Es tut gar nicht mehr weh. Weil Arminia danach prompt wieder aufstieg und tatsächlich ab Herbst sogar in der Bundesliga spielt. Wir sollten wieder für die Champions League planen. Und eine neue Tribüne bauen, gerne auch überteuert. Denn jetzt ist alles möglich. Wenn sogar der Schipplock trifft.