Noch im Mai 2021 holte er mit dem FC Chelsea die Champions League. In nicht mal sechs Monaten, sagt Thiago Silva, habe er dort damals alles verändert. Nun ist Thomas Tuchel rausgeflogen.
Und deswegen sollte man lieber auf den Mann schauen, der sich verändert hat. Einen großen Teil seines Trainerlebens lang galt Tuchel als deutsche Version von Guardiola. Wie der Katalane, so war der Schwabe berühmt für seine sich ständig ändernden „Matchpläne“, gab praktisch keine Interviews, hielt sein Privatleben sehr privat, fiel nicht durch Interesse an den Fans seiner Vereine auf und hatte den Ruf, in seinen Spielern wenig mehr zu sehen als Salzstreuer, die man auf dem Restauranttisch verschiebt, um taktische Nuancen zu veranschaulichen.
Doch schon Thiagos erste innige Umarmung vor neun Monaten passte nicht ins Bild. So tröstet ein Spieler keinen kalten Technokraten, so verabschiedet ein großer Spieler jemanden, den er für einen großen Trainer hält. Der Brasilianer wusste da ja schon, dass er Paris verlassen würde, und hätte sich kaum träumen lassen, dass Tuchel ihm nur rund fünf Monate später nach London folgen sollte. Und dort, beim FC Chelsea, gab es dann rasch Bilder zu sehen, die man in Dortmund nie für möglich gehalten hätte. Zum Beispiel bierbäuchige Anhänger, die Tuchels Auto auf der Straße erkennen, und dem Wagen jubelnd nachrennen, wie verzückte K‑Pop-Fans, die ein Teenie-Idol entdeckt haben.
Mit ähnlichen Szenen begann auch der Abend in Porto Ende Mai. Als Tuchel lange vor dem Anpfiff auf den Rasen schlenderte, um die Interviews zu geben, die er laut Vertrag geben muss, sprangen die Chelsea-Fans auf und jubelten ihm lauter zu als jedem ihrer Spieler. Und zweieinhalb Stunden später, als die letzten Minuten des Finals zu einer Abwehrschlacht für Chelsea wurden, stand Tuchel vor der Tribüne und dirigierte nicht seine Elf, sondern die Anhänger. Wie ein Low-Carb-Karajan riss er die Arme hoch, damit die Zuschauer ihr Team durch die bangen Schlussminuten trugen.
Nach dem Abpfiff widmete Tuchel den Sieg diesen Anhängern. Dann sagte er: „Das ganze Spiel ist für die Fans. Das Spiel ist komplett anders, wenn Fans da sind.“ Da fiel so manchem Fernsehzuschauer am Borsigplatz die Flasche „Kronen Export“ aus der Hand. War das der Thomas Tuchel, der in Dortmund den Eindruck machte, als wäre das Paradies ein Ort, an dem man unter Ausschluss der Öffentlichkeit trainieren und spielen darf?