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Dieser Text erschien erst­mals im Mai 2021, nachdem Thomas Tuchel mit dem FC Chelsea die Cham­pions League gewann. Es war der größte Moment seiner Trai­ner­kar­riere.

2020 stand Thomas Tuchel nur einen Schritt vom Cham­pions-League-Pokal ent­fernt, damals auf zwei Krü­cken. Er nahm sie beide in die linke Hand, um den rechten Arm frei zu haben. Denn damit umarmte er Thiago Silva, den Kapitän von Paris St. Ger­main. Einen Moment ver­harrten die Männer in dieser Hal­tung. Dann legte Thiago seine rechte Hand trös­tend auf den Hin­ter­kopf des Trai­ners, und Tuchel ließ das Haupt sinken. Es wirkte, als wollte sich der schmale Deut­sche an der kräf­tigen Schulter seines bra­si­lia­ni­schen Abwehr­chefs aus­heulen.

Am Abend des Cham­pions-League-Finals zwi­schen dem FC Chelsea und Man­chester City spielte sich nahezu exakt die­selbe Szene wieder ab. Aller­dings musste sich Tuchel nun nicht auf Krü­cken stützen. Er brei­tete die Arme aus, und Thiago fiel mit einem strah­lenden Lächeln hinein. Dann standen sie wieder einige Sekunden still auf dem Rasen, und ganz sicher dachten beide daran, wie ver­rückt und unwahr­schein­lich es war, dass sie nicht einmal ein Jahr nach der Final­nie­der­lage gegen die Bayern wieder im End­spiel gewesen waren – diesmal mit anderem Aus­gang.

Für deut­sche Fans, und ganz beson­ders für solche aus Dort­mund, bestand dieses Finale aus sol­chen Bil­dern. Natür­lich kann man das Spiel auch ganz anders erzählen, und viele Beob­achter tun das heute. Sie erzählen Man­chester Citys Nie­der­lage als ein wei­teres Bei­spiel dafür, wie sich Pep Guar­diola im ent­schei­denden Moment ver­zockte“, um das Wort zu ver­wenden, das in Deutsch­land am späten Samstag so oft fiel wie over-thin­king, also ver­kopft, in Eng­land.

Ja, wahr­schein­lich hatte Guar­diola einen großen Fehler gemacht, als er Rodri aus dem Team nahm. (Das war unge­fähr so, als hätte Jogi Löw das EM-End­spiel erreicht und dann Joshua Kim­mich auf die Bank gesetzt.) Aber er hatte sicher seine Gründe. Das Finale von Porto war schon das vierte Spiel in diesem Kalen­der­jahr zwi­schen City und Chelsea. Im ersten, Anfang Januar, war Man­chester hoch über­legen und gewann ohne Pro­bleme. Doch Mitte April siegte Chelsea im Pokal, und drei Woche später noch mal in der Pre­mier League. Man kann also ver­stehen, dass Guar­diola das Gefühl hatte, er müsse einen neuen Ansatz wählen. So gesehen blieb er sich treu. Das ist seine Art, und er wird sich nicht ändern.

Und des­wegen sollte man lieber auf den Mann schauen, der sich ver­än­dert hat. Einen großen Teil seines Trainerle­bens lang galt Tuchel als deut­sche Ver­sion von Guar­diola. Wie der Kata­lane, so war der Schwabe berühmt für seine sich ständig ändernden Match­pläne“, gab prak­tisch keine Inter­views, hielt sein Pri­vat­leben sehr privat, fiel nicht durch Inter­esse an den Fans seiner Ver­eine auf und hatte den Ruf, in seinen Spie­lern wenig mehr zu sehen als Salz­streuer, die man auf dem Restau­rant­tisch ver­schiebt, um tak­ti­sche Nuancen zu ver­an­schau­li­chen.

Doch schon Thiagos erste innige Umar­mung vor neun Monaten passte nicht ins Bild. So tröstet ein Spieler keinen kalten Tech­no­kraten, so ver­ab­schiedet ein großer Spieler jemanden, den er für einen großen Trainer hält. Der Bra­si­lianer wusste da ja schon, dass er Paris ver­lassen würde, und hätte sich kaum träumen lassen, dass Tuchel ihm nur rund fünf Monate später nach London folgen sollte. Und dort, beim FC Chelsea, gab es dann rasch Bilder zu sehen, die man in Dort­mund nie für mög­lich gehalten hätte. Zum Bei­spiel bier­bäu­chige Anhänger, die Tuchels Auto auf der Straße erkennen, und dem Wagen jubelnd nach­rennen, wie ver­zückte K‑Pop-Fans, die ein Teenie-Idol ent­deckt haben.

War das wirk­lich Tuchel?

Mit ähn­li­chen Szenen begann auch der Abend in Porto Ende Mai. Als Tuchel lange vor dem Anpfiff auf den Rasen schlen­derte, um die Inter­views zu geben, die er laut Ver­trag geben muss, sprangen die Chelsea-Fans auf und jubelten ihm lauter zu als jedem ihrer Spieler. Und zwei­ein­halb Stunden später, als die letzten Minuten des Finals zu einer Abwehr­schlacht für Chelsea wurden, stand Tuchel vor der Tri­büne und diri­gierte nicht seine Elf, son­dern die Anhänger. Wie ein Low-Carb-Karajan riss er die Arme hoch, damit die Zuschauer ihr Team durch die bangen Schluss­mi­nuten trugen.

Nach dem Abpfiff wid­mete Tuchel den Sieg diesen Anhän­gern. Dann sagte er: Das ganze Spiel ist für die Fans. Das Spiel ist kom­plett anders, wenn Fans da sind.“ Da fiel so man­chem Fern­seh­zu­schauer am Borsig­platz die Fla­sche Kronen Export“ aus der Hand. War das der Thomas Tuchel, der in Dort­mund den Ein­druck machte, als wäre das Para­dies ein Ort, an dem man unter Aus­schluss der Öffent­lich­keit trai­nieren und spielen darf?

Das Zitat fiel übri­gens einige Minuten, nachdem Tuchel seine Töchter und seine Frau mitten auf dem Rasen innig umarmt hatte, als wäre es völlig egal, dass Mil­lionen von Men­schen zuschauten. Dann erzählte er auch noch, dass seine Frau schon in der Lan­des­liga dabei war“. Und dass sie sich manchmal gefragt hat, mit wem sie da zusammen ist“.

Tuchel und die Fans, Tuchel und die Familie. Fehlen nur noch … genau: Tuchel und seine Spieler. Was immer der Trainer auch mit der Truppe ange­stellt haben mag, die er Ende Januar über­nommen hat, es kann nicht vor­rangig mit Match­plänen, Salz­streuern oder tak­ti­schen Finessen zu tun haben. Dafür war die Zeit zu kurz, die Tuchel mit einem Kader ver­brachte, den er kaum kannte, den er nicht zusam­men­ge­stellt hat und mit dem er bis zur Som­mer­pause nicht im Detail arbeiten konnte. Chelsea bestritt in Tuchels 123 Tagen an der Stam­ford Bridge nun 30 Par­tien.

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In sechs Monaten alles ver­än­dert“

Statt­dessen muss er die Profis auf einer emo­tio­nalen Ebene erreicht haben, und zwar nicht nur die deut­schen, son­dern vor allem Schlüs­sel­spieler wie N’Golo Kanté, der im Herbst und Winter noch mit einem raschen Transfer gelieb­äu­gelt hatte. Thiago Silva drückte das ges­tern nach dem Spiel so aus: Tuchel hat in nur sechs Monaten alles ver­än­dert. Es ist unglaub­lich, was er mit der Men­ta­lität der Mann­schaft ange­stellt hat.“ Da war es dann end­gültig um die Fas­sung vieler BVB-Fans geschehen. Tuchel als Jugend­her­bergs­vater von Men­ta­li­täts­mons­tern? Was um alles in der Welt ist mit dem Mann pas­siert?

Die Ant­wort ist ver­mut­lich ganz ein­fach. Er ist vier Jahre älter und er hat aus seinen Feh­lern gelernt. Das ist eine Fähig­keit, die man in Eng­land Pep Guar­diola nach dem Final­abend nicht zum ersten Mal abspricht. Doch das ist wieder eine andere Geschichte und eine andere Art, das Finale von Porto zu erzählen.

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